Kapitel 26b

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Endlich stehen wir hinter den Palastmauern. Ich ziehe die kühle Nachtluft ein und spüre wie ein großer Teil meiner Anspannung abfällt. Wir haben es tatsächlich geschafft. Der schwerste Teil unsere Flucht liegt hinter uns. Noch können wir nicht gänzlich durchatmen, noch nicht unseren Triumph feiern. Auch das Erreichen, der kleinen Ziele sollte man anerkennen. Ich lächle Kian zu, dem auch die Erleichterung ins Gesicht geschrieben steht.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das klappt", flüstert Kian leise und lacht auf. Ich blicke ihm entgeistert entgegen und schlage gegen seine Schulter. Ich kann nicht einschätzen, ob seine Worte ehrlich gemeint sind oder als Spaß gedacht. „Vergiss nicht zu atmen, Emmelin." Er muss versuchen, die Anspannung mit Humor zu überdecken. Das kann noch lustig werden, kommentiert mein Verstand und lacht innerlich auf. Ich nehme einen tiefen Atemzug und folge ihm dicht an der Mauer gedrängt.

Da ich nur den Hauptweg von hier zum Hafen kenne, bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm im weitestgehend zu folgen. Auch wenn die Gefahr gesehen zu werden größer ist, bleibt uns keine Zeit für Umwege oder Versuche. Nur den Umweg um das Haupttor, um nicht in das Sichtfeld der Wachmänner dort zu fallen, müssen wir in Kauf nehmen. Wie auch in Merah, befinden sich in Nähe der Mauern weder Häuser noch andere Bauwerke, hinter denen wir uns verstecken können. Das Areal ist wesentlich flach und bietet eine gute Sicht von den Wachtürmen. Was von Vorteil ist Eindringlinge zu erspähen, aber für einen Fluchtversuch vom größten Nachteil.

Leichtes Gestrüpp und andere Überbleibsel von Natur erstrecken sich mehrere Meter bis zu den ersten Gebäuden. Kian und ich lassen uns auf den Bauch fallen und beginnen uns langsam vorwärts zu robben. Die Lichtverhältnisse sind spärlich genug, um dank der dunklen Kleider nicht direkt aufzufallen.

Kurz fühle ich mich an den Tag mit Maisie zurückerinnert und das Abenteuer durch den Hindernisparcour. Nicht ganz so matschig, aber allemal so anstrengend, robbe ich schwer atmend über den erdigen Boden. Immer wieder brauche ich eine Verschnaufpause und sehe Kian an, wie es an seinen Nerven zerrt. Nach gefühlt unendlichen Minuten erreichen wir das erste Gebäude. Da wir nicht sicher sagen können, ob es nicht zum Palast gehört, halten wir und weiterhin geduckt. Von den Palastmauern sollten wir nicht mehr sichtbar sein. Unsere Schritte über dem sandigen Erdboden hören sich zu laut in meinen Ohren an. Das Knirschen löst eine Gänsehaut aus. Ich blicke mich immer wieder panisch um.

Endlich erreichen wir das nahe gelegene Dorf und halten hinter einer der Hauswände kurz an. Meine Atmung ist inzwischen lauter als die Schritte, der Schweiß läuft an meine Stirn herab und meine Muskeln schreien. Kian ist nichts der Anstrengung abzulesen, bis auf dem Staub auf seiner Kleidung.

„Geht es dir gut?", will er besorgt wissen, während ich meine Arme auf die Knie stütze, um wieder zu Atem zu kommen. Nach mehreren tiefen Atemzügen, blicke ich zu ihm auf.

„Alles Bestens", sage ich außer Puste und strecke einen Daumen hoch. Kurz lässt er mich zu Atem kommen, als wir auch schon weiter schleichen. Die Straßen sind leer, die Häuser im Dunkeln und die Luft nur von einem leisen Rauschen, das ich dem Blut in meinen Ohren zuordnen, erfüllt. Wir versuchen uns parallel zu der Hauptstraße zu halten und größere Straßen zu meiden. Zwar begegnet uns keine Menschenseele, aber es ist trotzdem sicherer. Erleichtert, dass nachts um drei noch keine Menschen auf den Straßen unterwegs sind, fällt ein weiterer Teil der Anspannung ab. Ich erinnere mich an Tage, in den mein Vater, um diese Zeit das Haus verlassen musste, um rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen.

Spärlich stehen einzelne Straßenlaternen, doch bieten nicht genug Licht, um mehr als ein paar Meter vor uns zu blicken. So bleibt jede Abbiegung ein Rätsel und ein Moment in dem wir unseren Atem anhalten. Doch bietet ebenfalls Schutz vor unerwünschten Blicken.

Als wir das Dorf hinter uns lassen, erstreckt sich eine weite Strecke von vertrockneter Natur. Mit nur dem Halbmond und den Sternen als Lichtquelle stolpere ich mehr als einmal über Erdhügel oder größere Steine. Weshalb mich Kian inzwischen bei sich unterhaken lässt, um einen Fall zu vermeiden. Mit einem breiten Grinsen meinte er, dass er keine Lust habe mich den Rest der Strecke zu tragen.

„Denkst du, dass Avis und sein Vater uns mitnehmen werden?", unterbricht Kian die Stille. Das Dorf liegt lange hinter uns. Bis auf Weite umgibt uns nichts, weshalb keine Gefahr besteht überhört zu werden. Trotzdem ist seine Stimme nur ein Flüstern.

„Ich denke schon. Ich kenne Jaydens Familie gut. Oft war ich zu Besuch und ich denke, dass die anderen von mir berichtet haben. Ich habe Avis und seinen Vater noch nicht persönlich getroffen." Bei den Worten stoppt Kian abrupt und schaut mir erschrocken entgegen. „Schon gut. Keine Angst ich werde sie überzeugen. Ich kenne ihre Familie gut und das kann ich beweisen. Außerdem hat die Familie ein so großes Herz, dass sie jemanden in Not nicht zurücklassen würden. Und wenn das nicht als Argument ausreicht, haben wir noch dich", sage ich grinsend und sehe ihm seine Verwirrung an.

„Na ja, immerhin bist du der Prinz von Merah", sage ich belustigt und zwinkere ihm zu. Ich sehe Kian an, dass er einen Moment braucht, um zu verstehen, was ich meine.

„Es ist nicht so, dass sie mich unbedingt erkennen, musst du wissen. Nicht viele Ramir tun das, um ehrlich zu sein. Ich bin nicht herumstolziert und habe mich nicht ihnen präsentieren. Was, wenn sie uns nicht glauben? Du hast mir gesagt, dass der König meinte ich sei tot in den Augen meines Vaters. Außerdem, was lässt dich glauben, dass sie mich nicht selbst über Bord schmeißen. Nicht jeder ist dem Königshaus gut gestimmt." Ich verstehe seine Zweifel, teile sie aber nicht. Avis und sein Vater werden uns helfen, davon bin ich überzeugt.

„Ich denke sie kennen dich. Sie leben in Amrox. Außerdem bin ich sicher, dass sie schon Bilder von dir gesehen haben. Zumindest Myla und Ivy haben einige", sage ich lachend bei dem Gedanken an die zwei. Es war mehr als deutlich, dass sie gefallen an ihm haben.

„Myla und Ivy?", fragt Kian verwirrt und ich höre, dass etwas seiner Anspannung abgefallen ist. Eine Weile erzähle ich von Jaydens Familie und was ich alles bei ihnen erlebt habe. Von der Vernarrtheit der beiden Mädchen und natürlich von dem kleinen Micah. Es beruhigt mich über sie zu sprechen und so wie es Kian beruhigt zuzuhören. Der Erinnerungen gelingt es mir ein Lächeln zu zaubern, die Anstrengung des langen Marschs zu nehmen und die langen Minuten zu verkürzen. Kurz schließe ich meine Augen und sehe Jaydens Augen wieder vor meinen und ich atme erleichtert auf.

Plötzlich ertönt das Geräusch von Pferden und einer Kutsche hinter uns. Augenblicklich schießt mein Herzschlag in die Höhe und meine Atmung wird gehetzt. Noch bevor ich handeln kann, zerrt mich Kian hastig von der Straße und auf den Boden. Hinter einem Gestrüpp liegen wir flach und starren zu der annähernden Kutsche. Ich spüre Kians Anspannung und kann mein eigenes Zittern nicht unterdrücken. Haben sie unsere Abwesenheit schon bemerkt? Wissen sie, dass wir auf der Flucht sind?

Mit aufgerissenen Augen betrachten wir die Kutsche, die an uns vorbeifährt. Ich versuche sie genauesten zu inspizieren und die Männer darauf zu erkennen. Einige Minuten nachdem die Kutsche an uns vorbei braust, verharren wir noch wie erstarrt hinter dem Gestrüpp.

„Das war keine des Palastes", flüstere ich erleichtert, als mein Körper sich aus der Starre reist. Kian scheinen meine Worte ebenfalls zu befreien und er schaut mich kurz verwirrt an. Aber rappelt sich dann auf die Beine und zieht mich nach oben.

„Wir müssen weiter." Immer wieder drehe ich mich panisch um, weil ich das Gefühl habe eine erneute Kutsche hinter uns zu hören. Doch der restliche Weg bleibt ruhig. Auch zwischen mir und Kian. Die Anspannung von zuvor ist mit voller Kraft zurück in unsere Knochen gekrochen. Als wir die ersten Gebäude des Hafens erblicken, lockert sie sich wieder.

„Wir haben es tatsächlich geschafft", flüstere ich, als mir eine salzige Brise entgegenweht. Der Geruch von Freiheit hat eine fischige-Note, kommentiert mein Verstand und bringt mich zum Schmunzeln.

„Noch nicht ganz", haucht Kian. Auch ihm höre ich die Erleichterung an. Inzwischen muss es kurz vor sechs sein. Meine Beine schmerzen, jeder einzelne Muskel zieht und die Erschöpfung liegt immer schwere auf mir. Ich bin froh, als wir unsere Schritte drosseln. Nicht mehr lange und dann kannst du dich ausruhen. Wenn wir erst auf dem Schiff sind, müssen wir keinen Schritt mehr tun, feuert mich mein Verstand an.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt