Kapitel 7c

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Für eine Weile frage ich ihn über meinen kleinen Bruder aus. Seine Liebe zu Willy ist ehrlich. Der Kleine ist wie ein Bruder für ihn und er versichert mir, dass er stets auf den Kleinen Acht gibt. Die Geschichten, die er mir von dem kleinen erzählt, lassen mich die Zeit vergessen und ehe ich mich versehe machen wir uns auf den Weg zum Abendessen.

Wie erwartet sind es nur wir beide und die kleine Hoffnung meine Mutter oder meinen Bruder zu sehen, erfüllt sich nicht. Während dem Essen sprechen wir nicht viel, doch ein paar Fragen über mich kann sich Beynon nicht verkneifen. Belangloses, wie Hobbys, Lieblingsessen oder Farbe. Aus irgendeinem Grund interessiert es ihn. Kann es sein, dass er tatsächlich ein so guter Schauspieler ist, dass er mich so an der Nase herumführt wie ich ihn, um an Informationen zu kommen? Ich betrachte ihn genau. In der Hoffnung auf etwas, das darauf deutet, dass er unehrlich ist. Doch sein Verhalten scheint tatsächlich aufrichtig. Dasselbe glaubte ich auf dem Ball. Ein zweites Mal falle ich nicht auf ihn herein. Nach dem Essen begleitet er mich zurück in das Zimmer, in dem er mich zuvor hatte stehen lassen.

„Es war ein sehr schöner Abend. Ich hoffe wir können das wiederholen." Er macht eine kleine Verbeugung vor mir und strahlt mich an. Ich schenke ihm ein Lachen, wenn auch nicht ehrlich, überzeugt es ihn. „Ich lasse dir Kian bringen. Doch du musst wissen, dass er in einer schlechten Verfassung ist. Aber bitte weiß, dass ich nichts damit zu tun habe. Mein Vater, der König, -er hat seine eigenen Methoden. Es tut mir leid – es tut mir leid."

Ich muss schwer schlucken. Was hat er nur mit Kian gemacht? Wieder malt mein Verstand die wildesten Geschichten und Angst überkommt mich. Ich sehe in Beynons traurige und bedrückte Augen. Selbst ihm, der Kian zu verabscheuen scheint, bedauert, was ihm angetan wurde. Mit großen Augen starre ich in die von Beynon und ich sehe wie meine Sicht sich leicht vernebelt. Gefolgt von einer Träne, die sich einen Weg über meine Wange bahnt. Ohne Vorwarnung schnellt Beynon Hand nach oben. Aus Angst, er will mich schlagen, schrecke ich leicht zurück. Sein Daumen streicht leicht über meine Wange, um die Träne wegzuwischen.

„Es tut mir leid", flüstert er erneut, bevor er mit gesenktem Blick davon geht. Verwirrt, und verängstigt, aber hauptsächlich verwirrt, bleibe ich im Türrahmen stehen.

Was war das heute? Was versucht Beynon zu bezwecken? War sein Verhalten tatsächlich ehrlich? Nein, das kann nicht sein. Ein Mensch, der tut, was Beynon tut, kann kein guter und aufrichtiger junger Mann sein. Das ist einfach nicht möglich. Und was haben sie Kian angetan? Was kann so schlimm sein, dass sogar Beynon, Beynon!, es verabscheut. Oh bitte lass es Kian gut gehen, bete ich in Gedanken.

Aufgewühlt, ungeduldig und ängstlich laufe ich in dem großen Schlafzimmer im Kreis. Den Gedanken an eine Flucht aufgrund der nicht abgesperrten Türe habe ich schnell verdrängt. Denn meine Gedanken werden besetzt von dem Abend mit Beynon. Aber auch den wildesten Ausmalungen was mit Kian angestellt wurde. Immer wieder sehe ich die schlimmsten Foltereinrichtungen vor mir. Einen schreienden, blutüberströmten Kian. Wut macht sich wieder in mir breit.

Wut über Beynon. 

Wut über den König von Evrem. 

Wut über die ganze Situation und Wut über mich selbst, dass ich nichts tun kann. 

Weder eine Flucht, noch Besserung unserer Situation, kann ich erreichen. Mir bleibt nichts übrig, als das Spiel zu spielen und dabei zuzusehen, wie ich verliere. Meine Hände habe ich so feste zu Fäusten geballt, dass ich spüre wie meine Fingernägel sich in meine Hand bohren. Ein stechender Schmerz breitet sich aus. Ich betrachte meine blutenden Handflächen und es gelingt mir alle Gedanken einen Moment zu verjagen. Was bleibt ist Blut.

Das Klopfen an der Türe erschreckt mich so sehr, dass sich ein Schrei von mir löst und ich herumfahre. Schnell eile ich zu ihr und reise sie auf. Mir stockt der Atem.

Vor mir stehen zwei, große muskulöse Wachen. Sie überragen mich mit beinahe zwei-köpfe. Ich schenke ihnen keine weitere Beachtung. Denn mein Blick bleibt an Kian kleben. Schlapp hängt er in den Armen, der beiden wie ein Mehlsack. Er kann sich kaum auf den Beinen halten und sein Kopf hängt schlaff vor seiner Brust. Seine Haut ist blass, noch heller als meine. Seine Kleidung ist zerrissen und komplett durchnässt. Auch seine Haare kleben verwirrt und nass an seinem Kopf. Zu meiner Erleichterung sehe ich kein Blut.

Mit zittrigen Händen nehme ich sein Gesicht und richte seinen Kopf nach oben. Seine Augen sind geschlossen, tiefe Augenringe verunstalten sein Gesicht. 

Seine Wangen sind eingefallen, obwohl es nur ein paar Tage her ist, dass ich ihn gesehen habe. 

Seine Lippen sind spröde und bläulich. Unter den geschlossenen Augenlidern sehe ich wie seine Augen zucken. 

Auch höre ich wie er leise röchelt und ich atme etwas erleichtert auf. Am Leben.

„Kian?", frage ich mit sanfter ruhiger Stimme, doch keine Reaktion. „Kian", wiederhole ich und streiche ihm leicht über die Wangen, immer noch nichts. Einer der Wachen räuspert sich und erinnert mich an ihre Anwesenheit. Wüten schaue ich ihnen entgegen.

„Legt ihn aufs Bett", befehle ich den beiden. Prompt folgen sie meiner Anweisung und kurz bin ich darüber überrascht. Als sie ihn unsanft auf das Bett hieven, machen sie sich auch schon wieder aus dem Staub. Bevor sie ganz verschwunden sind, rufe ich ihnen noch nach, „Bringt noch ein paar frische Kleider für ihn."

Meine Worte sind streng und meine Wut über den Zustand meines Freundes ist sichtlich hörbar. Ich mache mir keine Hoffnung, dass sie meiner Bitte nachkommen und eile zum Bad um ein paar Handtücher zu holen. Inzwischen hat Kian angefangen zu zittern und ich muss ihn irgendwie trocken bekommen.

Als es erneut an der Türe klopft, schrecke ich kurz hoch. Als ich die Türe öffne und die Dame und das junge Mädchen vom Mittag davor stehen, mit einem Stapel frischer Kleidung, atme ich dankbar durch.

„Danke. Könnt ihr mir helfen ihn in die trockenen Kleider zu bekommen?", bitte ich die beiden, da mir bewusst wird wie schwer es sein wird einen halb komatösen Kian umzuziehen.

„Natürlich, Milady", antworten sie synchron und treten in den Raum. Im Handumdrehen steckt Kian in trockener Kleidung und unter einem Berg an Decken. Die Damen haben sich wieder verabschiedet. Immer noch zittert er und hat seine Augen geschlossen.

„Was haben die mit dir gemacht?", frage ich mehr an mich selbst, als an ihn. Vorsichtig streife ich ihm ein paar Haare aus dem Gesicht. Seine Haut ist heiß. Eine Weile beobachte ich ihn. Immer wieder zuckt er wild, als habe er einen Albtraum. Obwohl, meiner besten Anstrengungen bekomme ich ihn nicht wach. Er braucht Schlaf, erinnert mich mein Verstand. Ich kann nicht anders, als mir zu wünschen, dass er die Augen öffnet und mir versichert, dass es ihm gut geht. Ihm geht es ganz offensichtlich nicht gut, plärrt mein Verstand und eine Träne rollt über mein Gesicht.

Inzwischen ist es lange nach Mitternacht und auch mich überkommt die Müdigkeit. Ich schnappe mir ein Kopfkissen und eine der freien Decken und trotte zur Couch. Es fühlt sich komisch an mich zu Kian ins Bett zu legen. Zwar bietet es mehr als genug Platz, aber es fühlt sich einfach nicht richtig an. Schnell verschließe ich die Türe von innen, werfe einen überprüfenden Blick zu Kian und mache es mir auf der Couch gemütlich.

„Gute Nacht", wispere ich leise.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt