Kapitel 9c

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 „Leander!", schreit Beynon so wütend, wie ich es von seinem Vater kenne und ich muss kurz schlucken. Seine Augen brodeln, während Leanders ausdruckslos wie immer sind.

„Du wirst nie die Oberhand gewinnen. Ich bin dir immer einen Schritt voraus. Ich ziehe die Strippen. Brüderchen, beruhig dich." Leanders Stimme ist immer noch seelenruhig. Kurz versucht sich Beynon aus dem Griff zu lösen, doch als es ihm nicht gelingt, gibt er auf. Kurz darauf lässt ihn Leander los und reicht ihm seine Hand, um ihm aufzuhelfen. Aber Beynon schlägt sie wütend beiseite.

„Du weißt ganz genau, dass sie hier nicht einfach herumspazieren darf. Vater hat klare Vorschriften gemacht." Beynons Worte sind streng, aber auch diplomatisch. „Du brichst hier die Regeln und das kann nicht nur dich in Schwierigkeiten bringen", zischt er noch einmal. Als sein Blick kurz zu mir geht, sehe ich so etwas wie Besorgnis in seinen eisblauen Augen aufblitzen.

„Ach, Brüderchen. Du weißt so gut wie ich, dass Vater mein Verhalten toleriert ... du solltest lieber darauf achten nicht beim Regelbruch erwischt zu werden. Die Konsequenzen könnten dich sonst noch die Krone kosten." Leander klingt zum ersten Mal ernst und seine Drohung sitzt. Beynon reißt die Augen auf und ohne ein weiteres Wort läuft er zurück zum Palast. Verwirrt schaue ich ihm nach. Warum kostet es Beynon die Krone? Leander ist der nächst in der Thronfolge, die Krone ist von Beginn an nicht Beynons.

Erleichtert lässt sich Leander wieder in den Rasen fallen und sein Blick geht erneut nach oben. Das ganze Schauspiel verwirrt mich sehr und mein Blick bleibt bei Leander hängen.

Sein Verhalten ist widersprüchlich. Sollte nicht er derjenige sein, der seinem Vater Wohlgefallen sollte, der an seine Seite steht. Alles was ich bis jetzt mitbekommen habe, das ganze Verhalten würde eher auf Beynon, als den Kronprinz hindeuten. Vom alter abgesehen. Beynon ganzes Auftreten, das Bedürfnis seinem Vater zu gefallen, das Pflichtbewusstsein. Ich bin froh endlich über etwas nachzugrübeln, das nicht direkt mit meinem persönlichen Chaos zu tun hat. Leander bemerkt mein Starren und blickt zurück.

„Alles okay?", fragt er lachend und setzt sich auf.

„Warum kann es Beynon die Krone kosten? Du bist der erste Thronerbe von Evrem", spreche ich meinen Gedankenkonflikt laut aus. Was mir ein Lachen von Leander beschert. Meine Frage ist doch verständlich, oder nicht?

„Mein Bruder erscheint wie eine Furie, will sich prügeln und verschwindet wieder. Und was in deinem Kopf herumschwebt ist die Thronfolge Evrems. Du bist schon etwas Besonderes, Emmelin." Erneut lacht er und lässt sich wieder auf den Rücken fallen.

Ich rutsche näher zu Leander und beuge mich über ihn. Mein Blick starr in seinen. Ich kann nicht noch mehr unbeantwortete Fragen in meinem Kopf halten, ich brauche die Antwort.

„Also?", frage ich wenige Zentimeter über seinem Gesicht. Leander rümpft seine Nase, denn ein paar meiner Strähnen haben sich auf sein Gesicht verirrt. Ich ziehe meinen Kopf ein Stück von ihm ab, immer noch nah genug, dass er meinen eindringlichen Blick sieht. Er atmet tief ein und aus.

„Theoretisch bin ich erster Thronerbe Evrem. Als Erstgeborener des Königs wird mir diese Ehre zuteil." Er stoppt und wendet seinen Blick wieder zum Nachthimmel. Einige Momente starre ich ihn still an, in der Hoffnung er würde weiter erzählen. Doch das tut er nicht. Genervt schnaufe ich und lasse mich ins Gras fallen.

„Und praktisch?", frage ich, als er immer noch nicht weiter erzählt.

„Praktisch." Er macht erneut eine Pause. „Praktisch ist das alles etwas komplizierter. Du musst wissen, dass meine Mutter nicht die Königin ist." Erschrocken schaue ich zu ihm herüber. Er sieht Beynon so ähnlich. Ich hätte nie gedacht, dass sie nur Halbbrüder sind. „Was mir somit nicht erlaubt König zu werden. Obgleich, ich der erste Thronerbe Evrem bin. Was somit Beynon, obwohl er zweiter in der Thronfolge ist, jedoch der erste legitime Erbe, zu dem zukünftigen König macht."

Er schaut wieder zu mir. Seine Stimme, so wie seine Augen, lassen nicht darauf führen wie er zu dem Erzählten steht. Seine Miene und Augen sind neutral. „Deshalb hat deine Hochzeit eine höhere Bedeutung mit Beynon. Weshalb er meinen Vater überreden konnte, dass nicht ich dich zur Frau nehme." Der Gedanke an eine Hochzeit lässt meinen Magen zusammen krampfen. Mein neu gewonnener, fröhlicher Geist, der versucht nur die positiven Aspekte meiner Situation zu sehen, zwingt mich den Gedanken an eine Hochzeit in die Tiefen zu schicken.

„Aber ihr seht euch so ähnlich", bringe ich zu meiner Überraschung heraus. Auch Leander ist von meinem Themenwechsel verwirrt und zwingt ihn zum Lachen.

„Oh Emmelin, du bist echt lustig. Eben erzähle dir, dass du den zukünftigen König von Evrem heiraten wirst und alles woran du denkst, ist wie ähnlich wir uns sehen." Er lacht noch einmal laut auf. „Ich hoffe, ich bin der attraktivere." Erneut lacht er. „Wenn du es genau wissen möchtest, meine Mutter ist die Schwester der Königin. Daher wahrscheinlich die Ähnlichkeiten."

Somit ist Beynons Tante auch gleichzeitig die Mutter seines Bruders. Ich kann nicht anders, als bei Leanders Lachen mit einzustimmen. Seine offene Art lässt auch mich danach seine Fragen beantworten.

So verbringen wir die nächste Stunde damit uns gegenseitig auszufragen. In dieser Zeit vergesse ich wo ich bin und alles darum. Erst als wir auf den Palast zu gehen wird mir wieder bewusst, dass wir uns nicht in Merah befinden.

Am Zimmer angekommen, stehen die beiden Wachmänner wieder neben meiner Türe. Beynon muss darauf gedrängt haben, dass sie ihre Aufgabe ernster nehmen. Sie machen eine kleine Verbeugung vor Leander, schenken mir jedoch keine Beachtung.

„Gute Nacht, Emmelin", sagt Leander und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. Seine Berührung löst ein Kribbeln in mir aus, sofort verdränge ich das Gefühl und blicke zu Boden.

„Gute Nacht", flüstere ich schnell und verschwinde im Zimmer.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt