Bailey

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Nach drei weiteren ereignislosen Tagen, in denen ich Lasange kochen und Vespa fahren gelernt habe, liegt endlich nichts mehr in meiner Box. Doch Harry und sein großer Bruder sind immer noch nicht aufgetaucht. Langsam mache ich mir Sorgen. Sonst dauert eine Tour der Sucher höchstens zwei Tage. Nach einem Morgen an dem ich alle Gedichte noch mal wiederholt habe, schlurfe ich in die Mensa. Wie immer suche ich den Raum nach meinen Zimmergenossen ab, obwohl ich überzeugt bin sie wieder nicht zu entdecken. Da! Ganz am Ende der großen Mensa sitzen sie. Mit guter Laune hole ich mir meinen Salat und mache mich auf den Weg zu ihnen. Doch Harry ist schneller. Noch bevor ich an ihrem Tisch bin, ist er schon bei mir und umarmt mich.
,,Hey, kleiner Racker, erquetsch mich nicht!" Lachend lässt Harry mich los.
,,Lass Lenny doch erst mal herkommen", versucht jetzt auch Luke seinen Bruder zu zähmen. Lachend setzte ich mich zu ihnen.
,,Hab euch ganz schön vermisst! Ich weiß schon warum ich kein Einzelzimmer hab!" Luke grinst. ,,Damit du, wenn du nachts Albträume hast in mein Bett kommen kannst!", witzelt er und Harry kringelt sich vor lachen. Doch ich platze fast vor Neugier. ,,Und? Wie war es?" ,,War ganz gut, aber auch echt anstrengend", antwortet Luke und zu Harry sagt er : ,,Willst du nicht mal deinen Koffer in den Schrank räumen?"
Harry zieht eine Schnute, doch Luke lässt sich nicht erweichen. ,,Hopp, hopp!" Meckernd zieht Harry seinen Koffer in unser Zimmer und Luke beginnt zu erzählen.
,,Also, sie hat keinen Freund, was die Sache einfacher, machen wird. Allerdings hat sie keinen Freund, da ihr letzter sie mit einer anderen betrogen hat und sie deswegen total vorsichtig ist. Aber das kriegst du sicher hin. Sie ist ziemlich beliebt und hat viele Freunde. Ihre Eltern sind, wie bei jedem Opfer stinkreich und beachten ihre Tochter kaum. Sonst ist sie gar nicht wie die sonstigen Opfer! Sie ist gut in der Schule, schmeißt sich nicht an alles ran was männlich ist und sie ist nett. Also richtig nett und nicht so gespielt."
Ich nicke. ,,Das ist mir auch schon aufgefallen. Also dass sie anders als die anderen Opfer ist. Ich meine auf den Fotos, die ich gesehen habe, ist sie kaum geschminkt und auch in sonstiger Hinsicht unterscheidet sie sich von den vorherigen Beauty-Girls, die sonst die Opfere sind".
Luke will noch etwas sagen, doch da kommt schon Jim Perlman zu uns an den Tisch.
,,Na Lennyputz, bist du sicher, dass du diesen Auftrag überhaupt schaffst oder soll ich Joe ausrichten, dass du kneifen willst?"
Mit zusammen gebissenen Zähnen starre ich ihn an.
,,Ich werde diesen Auftrag wie die vorherigen zehn erledigen!", antworte ich wütend.
Jim hebt abwehrend die Hände. ,,Kein Grund gleich auszuflippen Hudson! Ich wollte die bloß sagen, dass in einer Stunde eine Versammlung der Chefs in dem größten Aufenthalsraum stattfindet, falls du dich herablässt zu kommen".
Und schon ist Jim wieder weg. Die Versammlung der Chefs ist eine Versammlung, in der von den Suchern und den Informanten die Chefs kommen. Außerdem sind Joe, Jim, Aron und ich dabei. Dort wird das weitere Vorgehen besprochen. In der ersten Versammlung der Chefs in einem Auftrag wird eigentlich immer beschlossen, dass die Vorbereitungszeit vorbei ist und dass ich jetzt das Oper treffen könne.
Nach dem Essen mache ich mich also auf den Weg zum größten Aufenthalsraum. Ich bin nicht als erstes da. David, der Chef der Sucher und Björn, der Chef der Informanten sind schon da. David kann mich nicht leiden und hängt oft mit Jim rum. Björn redet nicht viel, ist aber eigentlich ganz nett.
Nach fünf endlosen Minuten, in denen ich noch mal über das nachdenke, was Luke gerade gesagt hat, kommen auch die anderen.
Wir setzen uns an einen Tisch und Jim flüstert Joe noch etwas ins Ohr, doch Joe schüttelt den Kopf und drückt ihn weg. Ich bekomme einen giftigen Blick von Jim ab. Er ist in letzter Zeit noch fieser, als sonst. Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist.
Mit einem Räuspern eröffnet Joe die Versammlung. Sie ist zu langweilig um sie aufzuschreiben, also fasse ich es zusammen. David und Björn sagen, es gäbe genug Informationen und ich bekomme von Joe den Auftrag, ich solle sie Morgen treffen . Das kommt nicht überraschend und ich glaube ich bin gut vorbereitet.
Schließlich wird die Sitzung geschlossen und ich verlasse so schnell wie möglich den Raum, um nicht Joe zu begegnen. Aber ich muss noch mit David sprechen. Ich räuspere mich.
,,Ist das mit morgen schon geplant?", frage ich ihn.
Genervt guckt er mich an und antwortet: ,, Klar Hudson, bin doch nich bescheuert! Morgen trifft die Olle sich mit ner Freundin in ihrem Lieblingscafe ,Wahre Liebe'" Er verdreht die Augen. Das ist ihm anscheinend mal wieder zu kitschig.
,,Dort kommste dann zufällig mit ihr ins Gespräch. Müsste so um zwölf sein. Am besten du fährst mit deinem süßen Knatterding hin."
Ohne das ich irgendwas erwidern kann, ist er schon mit Jim im Schlepptau weggeschlurft. Ich mache mich auf den Weg um noch mal eine Runde mit ,,meinem süßen Knatterding"- der Vespa -
zu drehen, die Joe extra für diesen Auftrag hat kaufen lassen. Sie ist himmelblau und ich kann schon ganz gut mit ihr umgehen.
Während des Fahrens kreisen meine Gedanken unaufhörlich um das morgige Treffen. Wird sie sein wie die anderen Mädchen? Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass sie das nicht sein wird. Sie wirkt so anders auf dem Foto und auch ihre Interessen lassen eigentlich nicht darauf schließen, dass sie den bisherigen Opfern ähnelt. Den bisherigen geplanten Opfern. Eine Ausnahme gab es. Wieder erscheinen Bilder vor meinem inneren Auge, die ich schon aus meinem Gedächtnis verbannt glaubte. Sie lacht ihr Glockenähnliches lachen, zieht mich an der Hand stürmisch mit. Dann wieder ihr fassungsloses Gesicht. Ihre Schreie. Meine Wut.
All das kommt wieder hoch. Wütend auf mein fehlendes Talent diese Gedanken aus meinem Gedächtnis zu löschen und angestrengt beim Versuch eben dies zu tun, halte ich an. Tränen laufen mir über die Wangen und ich balle meine Fäuste. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Wütend drehe ich mich um, doch es ist Luke. Ich lehne mich an ihn und unterdrücke meine Schluchzer. Er weiß es. Wie könnte ich es auch vor ihm geheim halten. Er kennt meine Alpträume fast besser als ich. Er kennt alle meine Flashbacks uns weiß was damals passierte.
So stehen wir auf dem Übungsplatz Arm in Arm. Schweigend stehen wir so da, bis ich mich wieder etwas gefasst habe. Luke weiß, er muss nichts sagen. Er kennt mich zu gut. Wir ähneln einem alten Ehepaar. Jeder kennt den anderen besser als sich selbst. Nur eben, dass wir kein Paar sind.
Als wir die Arme runternehmen geht es mir schon besser.
,,Geht es wieder los?", fragt mich Luke. Ich nicke, noch außerstande Worte zu bilden.
,,Seit wann? Einfach so? Gab es keinen Auslöser?", fragt er besorgt.
Ich versuche zu sprechen, doch meine Stimme ist ein Krächzen. ,,Das neue Opfer. Ich glaube sie ist ihr zu ähnlich."
Luke seufzt. Gemeinsam gehen wir wieder rein. Mittlerweile gibt es Abendessen und Luke und ich nehmen uns und setzen uns in die hinterste Ecke. Doch auch hier sind wir nicht sicher vor Jims giftigen Blicken. Und natürlich vor Harry, der uns schnell entdeckt und sich zu uns setzt. Das Essen verläuft ereignislos und danach bespreche ich noch einmal mit David den morgigen Tag.
In der Nacht wache ich schweißgebadet auf und brauche ewig um wieder Einzuschlafen. Viel zu früh klingelt der Wecker und ich hüpfe unter die Dusche um wach zu werden. Das funktioniert nur teilweise, doch nach einem starken Kaffe ist auch der Rest Müdigkeit verflogen. Nach einem Frühstück - ohne den Langschläfer Harry - mache ich mich auf den Weg zu meiner Vespa. Luke und noch drei weitere Sucher werden mitkommen um mir gegebenenfalls zu helfen oder mich rauszuholen, wenn es brenzlig wird. Ich steige auf meine Vespa und fahre vom Gelände. Hinter mir höre ich in einigem Abstand die Motorengeräusche von einem Cabriolet und zwei Motorrädern. Nach eineinhalb Stunden fahre ich in die kleine Stadt Indiana. Gleich am Ortseingang finde ich das Cáfe und parke meine Vespa davor. Durch die riesige Glaswand sehe ich sie sofort. Bailey ist in natura noch viel hübscher, als auf dem Foto. Neben ihr sitzt ein Mädchen mit kurzer, schwarzer Stachelfrisur. Das muss Stella sein. Ihre beste Freundin.
Bailey trägt eine schlicht Röhrenjeans und ein grünen Sweatshirtpulli. Ihre braunen Locken fliegen in alle Richtungen. Sie sieht aus wie Maya als... Stopp! Nicht jetzt. Überraschenderweise gelingt es mir die Gedanken zu verdrängen, indem ich mich auf Bailey und den Auftrag konzentriere.
Ich hole einmal tief Luft und stoße die Glastür auf.

Ich liebe lieber EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt