Noch eine Nacht

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Er ist in dem Zimmer. Fünf lange Jahre habe ich ihn nicht gesehen und jetzt ist er nur knapp zwölf Meter von mir entfernt. Ich kann beinahe seine Nähe spühren.
Wir konnten beobachten, wie er von einem älteren Mann ins Bett gebracht wurde, ein Zimmer weiter rechts. Der Hund musste im Wohnzimmer bleiben. Er hat sich immer einen Hund gewünscht. Er war sogar mal kurz davor einen Sträuner mit ins Waisenhaus zu bringen, aber zum Glück konnte ich es ihm ausreden.
Mittlerweile stehen wir in einer Einbuchtung, direkt am Haus und Luke und Bailey diskutieren die weitere Vorgehensweise, aber ich kann an nichts anderes denken, als an meinen kleinen 12-jährigen Bruder in dem weißen Haus neben uns.
Ob er sich noch an mich erinnert? Fünf Jahre sind eine lange Zeit und damals war er erst sieben. Vielleicht hat er sch verändert, vielleicht ist er ein ganz anderer Mensch. Vielleicht will er mich gar nicht bei sich haben. Kann ich einfach so in sein Leben platzen? Ein Leben, in dem er vielleicht glücklich und zufrieden ist? Ein Leben mit Hund und Freunden? Mit Schule und Fußball oder Tennis? Darf ich mich da einfach dazwischenquetschen und alles einreißen? Darf ich noch eine Welt von oben bis unten auf den Kopf stellen, so wie ich es bei Bailey getan habe? Sind zwölf Mal zu viel? Aber, was ist, wenn ich es nicht tue? Wenn ich mich nicht einmische, wenn ich ihn nicht beschütze? Ist das nicht der schlimmere Weg, immerhin weiß ich, wozu Joe fähig ist.
,,Lenny, was sagst du denn dazu?", reißen mich plötzlich Bailey's Worte aus den Gedanken, doch ich sehe sie nur verwirrt an. ,,Luke meint, wir sollten hn schon jetzt da raus holen, aber ich finde es ist noch zu spät und wir sollten es morgen früh probieren. Wir haben noch genug Vorsprung und er muss sicher morgen zur Schule, da können wir ihn abfangen"
,,Okay, dass finde ich besser. Lassen wir ihm noch eine ruhig Nacht", willige ich ein. Je später sich sein Leben auf den Kopf stellt, desdo besser.
Bailey dreht sich zu mir um und kuschelt sich eng an mich. Sofort geht es mir besser. Es ist echt unglaublich, was für eine Wirkung dieses Mädchen auf mich hat. Sobald ich sie lächeln sehe, habe ich gute Laune und solange sie nicht in meiner Nähe ist, habe ich das Gefühl, ich bin nicht vollständig. Es ist nicht so, als wären wir voneinander Abhängig, aber ich will sie immer nah bei mir oder wenigstens in Sicherheit wissen.
,,Alles klar und wo übernachten wir?", fragt Luke, während er den Wagen langsam wendet. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.
,,Haben wir noch genug Geld für ein Motel?"
,,Ich weiß nicht genau, könnte knapp werden", antwortet mir Luke, ,,ich weiß auch gar nicht, ob es hier in der dirketen Nähe eins gibt"
,,Habt ihr nicht die Schlafsäcke eingepackt? Wie kalt ist es denn, sonst könnten wir draußen oder im Auto schlafen, ich bin dafür müde genug", schlage ich vor und die Anderen überlegen.
,,Also man kann die Sitze hier im Wagen umklappen, aber ich glaube es passt höchstens für drei Personen. Einer muss auf jeden Fall draußen schlafen"
,,Kein Problem", melde ich mich sofort, ,,ich bin nicht wirklich Kälteempfindlich und wir haben ja ein paar Decken, ich kann draußen schlafen"
Ich spühre, wie Bailey, die immer noch an mir lehnt zusammenzuckt und sich aufrichtet. ,,Wenn du draußen schläfst, schlafe ich da auch", verkündet sie mit fester Stimme. Ich will gerade ansetzen sie umzustimmen, aber ich sehe ihr in die Augen und weiß, dass sie fest entschlossen ist. Also nicke ich nur kurz und küsse sie auf die Stirn. Ich werde schon dafür sorgen, dass sie nicht friert.
Luke schüttelt stöhnend den Kopf undfährt langsam los, um eine geeignete Stelle zu finden. Im Rückspiegel erkenne ich, wie wir uns immer weiter von dem Haus entfernen, in dem Tommy eine normale Kindeit verbringen könnte, wenn wir ihn nicht morgen aus seinem bisherigen Leben reißen.
Nachdem wir etwa eine halbe Stunde gesucht haben, finden wir am Lake Tapps einen kleinen Platz mit Feuerstelle, wo Campen erlaubt ist und wo sich auch ein anderes junges Paar bereits ausgebreitet hat, allerdings so, dass wir noch ein ruhiges Plätzchen unter einigen Birken finden.
Wir steigen aus dem Auto und ich strecke erst einmal meine Glieder und höre, wie einige Gelenke, nach dem langen Stillsitzen knacken. Neben mir sehe ich, wie Bailey es mir gleichtut und kann einfach nicht wiederstehen kurz ihre verspannten Schultern zu massieren. Sie seufzt kurz auf und ich fühle, wie sie sich unter meinen ruhigen Bewegungen sofort zu entspannen beginnt.
Da höre ich Luke neben mir Schnauben. ,,Mensch, ihr zwei seid ja wirklich unerträglich! Was bin ich froh, dass ich mit Harry im Auto schlafe. Aber würdet ihr jetzt bitte helfen euer Lager aufzubauen? Ich will mich endlich hinhauen!"
Ich schenke ihm mein strahlendstes Lächeln und löse mich langsam von Bailey, die enttäuscht aufstöhnt. Kopfschüttelnd wendet Luke sich um und wir folgen ihm lächelnd zum Kofferraum, um dort ein paar Decken und Kissen rauszuholen, um uns einen kuschligen Schlafplatz einzurichten, wobei wir darauf achten, einige Decken für Luke und Harry zurückszubehalten.
Nach gut zehn Minuten haben wir es geschafft ein kleines, aber doch ziemlich gemütliches Deckenlager herrzurichten, in dem Bailey und ich gut schlafen können. In der Zwischenzeit hat Luke es mithilfe ein paar Streichhölzer das Holz, was bereits an der Feuerstelle lag, ein kleines Feuer zu entfachen, um das wir nun gemütlich sitzen und uns wärmen lassen. Es ist zwar schon ziemlich warm für Anfang März, aber das ändert nichts daran, dass es Anfang März ist und da sind die Temperaturen meist noch nicht im zweistelligen Bereich.
Trotzdem friere ich kein bisschen, denn von vorne wärmt mich das Feuer und an meine Seite schmiegt sich Bailey und überall dort, wo sie mich berührt, wenn auch nur durch Klamotten, glüht meine haut regelrecht. Sie hat den Kopf auf meiner Schulter, den einen Arm um mich geschlungen, den anderen mit meiner Hand verschrengt und die augen geschlossen. Enn ich ihr hübsches, mit Sommersprossen bedecktes Gesicht so ansehe, kann ich es immernoch nicht glauben. Dieses Mädchen, was nicht nur unglaublich witzig, warmherzig und offen ist, sondern auch meine ganze, ungeschminkte Wahrheit kennt, dieses Mädchen, dass weiß, dass ich sie umbringen sollte, dass meinentwegen in so großer Gefahr ist, liegt hier neben mir und flüstert mir leise zu, wie glücklich sie ist, mich zu haben. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie so vertrauensvoll in meinen Armen liegen soll, dass es kein Traum ist, dass sie mir vergeben hat. Einfach so.
Wenn ich an den Moment denke, an dm ich iher die Wahrheit gesagt habe, löst nur die Erinnerung daran einen stechenden Schmerz in meiner Brust aus. Sie so enttäuscht und verletzt zu sehen hat mir das Herz gebrochen. Wie sehr ich sie in dem Moment in den arm nehmen wollte, ihr sagen wollte, dass alles gut wird, dass ich sie beschützen werde. Aber sie hat es nicht zugelassen. Sie hat mich bloß angesehen, die Augen voller Tränen und mich gefragt, ob es wahr ist. Wie sehrwollte ich ihr in dem Moment sagen, dass dem nicht so ist, doch ich konnte nicht. Weinend ist sie davon gelaufen und ich konnte nichts tun, konnte sie nicht trösten. Ich stand nur da, ein wenig frierend und mit hängenden schultern und dachte ein Teil von mir sei erneut gestorben.
Die nächsten Tage waren die Hölle für mich. Jede Sekunde habe ich sie gesehen, so unglaublich trarig und jedes Mal hat es mich daran erinnert, dass ich daran schuld war. Das Einzige, was mich davon abgehalten hat, zu zerbrechen, war der Gedanke daran sie zu beschützen, es dieses Mal richtig zu machen.
Und als sie mich dann geküsst hat. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich, ich werde es niemals veergessen. In dem Moment war ich so überrumpelt, ich konnte es gar nicht fassen, was da passierte. Dass sie mir wirklich vergeben hat, wo ich mir doch nicht einmal selbst vergeben konnte. Wie sie mich berührt hat. Als wäre sie eine verdurstete, die Wasser bekommt. Und genau so hat es sich angefühlt, als würde sie mich vor dem Tod retten und mir ist klar geworden, dass ich sie nicht verlieren kann. Nicht, dass ich es nicht verkrafte, sondern, dass es nicht möglich ist, dass ich sie so sehr liebe, als dass ich lieber hundert Tode sterben würde, als dass ich zulasse, dass ihr etwas geschieht. Und dass ich es besser machen würde, als damals, denn diesmal bin ich vorbereitet. Diesmal werde ich mein Versprechen halten.
Diesmal werde ich sie beschützen.

Ich liebe lieber EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt