014 BUCH FÜNF - Cieran

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"Junger Lord Blayd, habt Ihr einen Moment?"

Khrysors Stimme riss mich aus der Nachdenklichkeit, die mich nun im Anblick der aufgestockten Waffenkammer überkommen hatte. Es waren viele Waffen, aber waren es genug, um meinem Onkel zu trotzen? Ich zweifelte daran.

"Natürlich!", erwiderte ich eilig und trat ein paar Schritte zurück, um ihn mit mir in die improvisierte Waffenkammer zu lassen und unserem Gespräch so etwas Privatsphäre zu ermöglichen.

"Ich will mich bei Euch entschuldigen", begann Khrysor, schwere Trauer in seinen Augen und seiner Aura, als er mich ansah.

"...wofür?", fragte ich nach.

"Für den Verlust Eurer Eltern. Für die Odyssee, die Ihr durchleben musstet. Es war meine Aufgabe, Euch zu beschützen. Und ich habe versagt. Das tut mir aufrichtig leid. Ich werde mein möglichstes tun, diese Schuld wieder zu begleichen."

Und dann überkam es mich wie eine Flutwelle, meine Emotionen überrollten mich, ich verlor die Kontrolle über meine Haltung. Tränen liefen über meine Wangen, ich schluchzte, trat vor und umarmte Khrysor.

"Mylord...", entgegnete Khrysor überrascht, doch dann legte auch er seine Arme um mich.

Khrysor war es gewesen, der mich nie aus den Augen gelassen hatte. Auf den ich mich immer hatte verlassen können. Loyaler als jeder Fels in der Brandung.

Kurz darauf fasste ich mich wieder und löste mich von ihm, wischte meine Tränen an meinem Hemdärmel ab. "Jetzt bin ich es wohl, der sich entschuldigen muss."

"Es gibt nichts zu entschuldigen, junger Lord", erwiderte Khrysor bestimmt, ein dezentes Lächeln auf seinen Lippen.

"Für dich auch nicht", meinte ich, atmete durch, fand meine Haltung zurück.

"Mit Eurer Erlaubnis werde ich mich noch heute nach Emanthera aufmachen, junger Lord. Es wurde von einer Gruppe unserer Soldaten berichtet, die dorthin geflüchtet ist - sie brauchen ein bekanntes Gesicht, um zu uns zurückzufinden."

"Ich könnte mitkommen!", schlug ich vor, doch Khrysor schüttelte entschieden den Kopf.

"Mein Lord, Ihr könnt mir die Reise verweigern und ich werde hier an Eurer Seite bleiben. Aber in Gefahr werdet Ihr Euch nicht begeben."

Als hätte ich mich nicht bereits in Gefahr begeben, als ich den Waffenkonvoi aus der Hauptstadt geködert hatte. Aber ich widersprach ihm nicht. "Du darfst gehen. Aber kehre zurück, sobald du kannst - ganz egal, ob mit oder ohne neue Verbündete."

Khrysor verneigte sich tief vor mir. "Ich danke Euch." Dann brach er auf.

Mit einem Stück Pergament in der Hand setzte ich mich schließlich an eine Wand und begann, in groben Zügen einen Wolfskopf zu skizzieren. Ein großer Künstler war an mir nicht verloren gegangen, doch man konnte erkennen, was ich gezeichnet hatte.

Dann dachte ich an Ladon.

Fügte eine Flamme neben dem Wolfskopf hinzu. Ich lächelte, kurz drifteten meine Gedanken wieder ab, ich stellte mir vor, wie ich ihm durch die Haare fahren würde, wenn ich ihn wiedersah. Denn das würde ich, da war ich mir sicher. Schließlich stand ich auf und vergrub das Stück Pergament in meiner Hosentasche.

"In Deas tobt gerade die Schlacht. Von Lady Derwen können wir also auch keine Hilfe erwarten, sie steht mit ihrer Armee an der Seite der Firvens. Scheinbar wurde Acazia bereits erobert, aber die Deviniaths sammeln bereits ihre verstreuten Truppen für einen Gegenangriff", erläuterte Asena und wies auf die Landkarte vor ihr, tippte immer wieder fest auf die Darstellung von Deas, als erwarte sie beinahe, sie könnte sich eine eigene Armee daraus hervordrücken.

"Und wie stehen die Chancen?", hakte ich nach. Ich fühlte mich, als müsste ich eigentlich auch dort unten sein. Atarah war es zweifellos, die immer noch nichts von meinem Verbleiben wusste. Bei den Göttern, ich musste einen Weg finden, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen.

"Recht gut. Lord Firven soll beim Sturm auf Acazia umgekommen sein, aber sein ältester Sohn hat bereits seinen Platz eingenommen.

"Leander?", erwiderte ich ungläubig. Das konnte niemals ein gutes Ende nehmen.

"Eben der", bestätigte Asena grimmig. "Während also die Clans mit ihren Armeen im Süden verstrickt sind, sollten wir die Gelegenheit nutzen, um selbst zuzuschlagen. Du hast gesagt, du kennst einen Weg in die Palastruinen?"

Ich nickte bestätigend. "Aber ich weiß nicht, ob der Geheimgang noch begehbar ist."

"Das ist wohl das Beste, was wir haben. Wir ruhen uns heute Nacht aus und brechen dann morgen vor der Abenddämmerung auf."

Auf einmal schien alles so unheimlich schnell zu geschehen. Gerade erst war ich hier angekommen, hatte bereits bei einem Überfall auf einen Waffenkonvoi geholfen - und nun sollte ich an einem Attentat auf meinen Onkel mitwirken.

Aber ich wollte es immer noch. Mich an ihm rächen. Er musste sterben. Und dann? Es war mir egal. Wenn er erst tot war, war ein weiteres Glied aus dieser Verschwörung gegen uns alle beseitigt. Ich stimmte Asena also zu, bevor ich mich aus der großen Gruft verabschiedete, um noch einen kurzen Spaziergang durch die Katakomben vorzunehmen.

Gerade hatte ich die bewohnten Gänge hinter mir gelassen und mit einer Fackel in der Hand den Weg in die Dunkelheit genommen, spürte ich auf einmal ein seltsames Gefühl.

Ich bereitete mich auf den stechenden Schmerz in meinem Hinterkopf, auf die Atemnot vor, doch beides kam nicht. Der Elf hatte nichts damit zu tun. Doch was war es dann?

Ladon! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Er hatte einen Weg gefunden, mit mir zu sprechen. Wieder hörte ich ferne Worte flüstern, diesmal viel intensiver als je zuvor, es war fast, als würde mich jemand am magischen Band, mit dem ich verbunden war, herbeiziehen.

Aber die Stimme war nicht die von Ladon. Das Grinsen verschwand wieder aus meinem Gesicht. Dennoch konzentrierte ich mich, kniff die Augen fest zusammen, um die Worte aufzufangen.

Cieran Blayd.

Immer wieder, es war eine Frauenstimme. Die Stimme einer alten, gebrechlichen Frau, die nach mir rief.

Komm zu mir. Es gibt so vieles, das ich dir und Ladon beibringen muss.

"Wer bist du?", versuchte ich zu fragen, war mir nicht sicher, ob meine Worte ihr Ziel erreichten.

Komm zu mir. Nach Nar-Sciath. Ich warte auf dich.

Dann verstummte die Stimme wieder, das Ziehen verschwand. Ich sprintete los.

Bereits völlig außer Atem erreichte ich die große Gruft, Asena wirbelte angespannt zu mir herum, rechnete offenbar mit einem ganzen Schwarm der Soldaten meines Onkels auf meinen Fersen. Als sie die nicht sehen konnte, entspannte sie sich ein wenig, während ich nach Luft schnappte.

"Ich muss gehen", brachte ich hervor. "Nach Nar-Sciath."

"Was?!", erwiderte Asena entsetzt. "Aber wir brauchen dich hier! Keiner außer dir und Khrysor kennt den Geheimgang! Und was glaubst du, wird aus der Moral der Menschen hier, wenn der junge Lord einfach verschwindet?!"

"Es tut mir so leid, Asena. Aber ich muss gehen. Du würdest es nicht verstehen, wenn ich es dir erklären würde."

Ich wandte mich bereits wieder zum Gehen ab, dann fiel mir das Stück Pergament in meiner Hosentasche ein. Ich zog es hervor und drückte es Asena in die Hand.

"Bitte gib das Ladon, falls du ihn sehen solltest. Bitte."

"Cieran!", schrie sie mir hinterher, als ich den Gang entlang zurück in Richtung der Leiter rannte, die zur Oberfläche führte.

In Nar-Sciath lagen Antworten für mich. Und dort würde ich Ladon wiedersehen. Meinen Drachen.

Legenden von Patria - Der Baum der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt