"Mit damals hat er die Zeit gemeint, zu der er deine Mutter gejagt hat", sagte Dyana leise, flüsterte beinahe.
"Du kanntest meine Mutter?!", fragte Ladon mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugierde, er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn an der Hand unten. Ich wollte vermeiden, dass Dyana sich bedrängt vorkam, denn ich sah, wie schwer ihr die Worte über die Lippen kamen.
"Ich war ihre Reiterin", bestätigte die Alte. Dann schwieg sie, ihr bissiger Charakter war verschwunden, ich sah, wie Tränen sich in ihren Augen sammelten.
"Aber... Das kann nicht sein. Du bist viel zu alt", versuchte ich, Klarheit in die Angelegenheit zu bringen. Ich wusste gar nicht, wie alt Dyana war. Aber offensichtlich zu alt, um etwa im Alter von Ladons Mutter zu sein. Und wie sie uns noch vor wenigen Tagen selbst beigebracht hatte, hatten Drache und Reiter stets ein sehr ähnliches, wenn nicht gar gleiches Alter.
Dyana lachte bitter. "Wie alt denkst du, bin ich?"
Wieder musste ich Ladon unten halten, der aufgebracht aufstehen wollte.
Dyana ließ mir keine Chance zu antworten und sagte an Ladon gewandt: "Als deine Mutter dich bekommen hat, war sie etwa siebzig Jahre alt."
Ladon hatte es die Sprache verschlagen, er starrte Dyana unverhohlen an.
"Wenn Drache und Reiter vereint sind, können sie weit über einhundert Jahre alt werden. Doch wenn sie getrennt werden... holt das Alter den Zurückbleibenden ein. Ich bin schon fast neunzig Jahre alt. Eigentlich hätte ich längst tot sein sollen."
Eine ganze Weile schwieg der Drache neben mir. Die Stille lag in der Luft wie die Ankündigung eines Gewitters. "Wie war sie?", fragte Ladon dann. Sanft streichelte ich mit dem Daumen über seine Hand, spürte förmlich, wie ungewisse Emotionen durch ihn hindurchtobten.
Dyana begann zu lächeln, während eine einzelne Träne den Weg über ihre faltigen Wangen fand. "Deine Mutter war wunderbar. Sie war geduldig, bedacht und sanft. Ungewöhnlich für einen Drachen."
"Wart ihr...", traute ich mich schließlich, zu fragen.
"Was? Nein! Sie war wie eine Schwester für mich. Wir hatten bessere Dinge zu tun, als die Nächte mit sündhaftem Treiben zu verbringen, wie ihr es viel zu häufig tut. Sie hat deinen Vater geliebt. Sie hat dich geliebt."
"Mein Vater hat nie von dir erzählt und an dich erinnern kann ich mich auch nicht", brachte Ladon misstrauisch ein. Er war sich nicht sicher, ob er Dyanas Worten nun glauben sollte.
"Das lag daran, dass ich nicht da war. Ich habe dich nur einmal gesehen - da warst du vor wenigen Tagen geboren, deine Mutter hat dich mit zu mir gebracht. Ich erinnere mich allerdings noch an den Tag deiner Geburt... du kamst in der dunkelsten Nacht zur Welt, die ich je gesehen hatte."
"Warum warst du nicht da?", fragte ich nach, unterbrach nur ungern ihre Erzählungen, aber auch ich wollte nun Antworten. Wollte die Dinge verstehen.
"Wir hatten bereits vor der Zeit, in der deine Mutter deinen Vater kennengelernt hat, mit Cystenian zu tun. Er hat uns gejagt und uns war klar, dass wir ihm nicht auf Dauer entkommen konnten. Wir wollten gemeinsam hierher kommen, nach Nar-Sciath, wo wir unterrichtet worden waren. Die Stadt wiederaufbauen. Aber dann hat sie sich verliebt."
"In meinen Vater", folgerte Ladon, Dyana nickte.
"Sie blieb nach deiner Geburt bei ihm, ich ging. Doch ich kam nicht bis Nar-Sciath. Der Dunkle Elf fand mich, aber ich war es nicht, den er töten wollte. Er wollte deine Mutter. Ich konnte ihm nicht verraten, wo sie war, wo du warst. Ich schirmte meinen Geist ab, tat mein Bestes, deine Mutter vor meinen Schmerzen zu schützen, damit sie mich nicht suchen kommen würde. Er folterte mich, monate, jahrelang, schien Gefallen daran zu finden, doch irgendwann kam er auf eine neue Idee. Er hatte sich an den Knotenpunkt der Magie erinnert, den Ort auf dieser Welt, der den Göttern am nächsten steht. Dorthin brachte er mich, vor den Baum, hierher, nach Nar-Sciath."
"Ladons Mutter ist gegangen, um dich zu retten", setzte ich fort. Wieder senkte Dyana zustimmend den Kopf, ihre Stimme war brüchig geworden. Sie schob ihren linken Ärmel hoch und offenbarte eine geschwungene, lang gezogene Narbe.
"Cystenian hat mich verletzt und mein Blut in das Wasser des Teichs am Baum fließen lassen. Ich kann es euch nicht erklären, aber nur deshalb hat eure Mutter meine Schreie gehört. Wusste, wo ich bin. Und sie kam. Sie hatte nicht vor, dich und deinen Vater zu verlassen. Sie wollte mir helfen, um dann zu euch zurückzukehren."
Ihre Stimme brach ab, sie holte Luft und räusperte sich. "Als ich aus dem magischen Schlaf erwachte, in den der Elf mich versetzt hatte, war er weg und ich fand sie unten in einer der Höhlen. Sie war als Drache gestorben, durchbohrt von eisernen Ketten, aufgehängt und ausgeweidet wie ein wildes Tier nach der Jagd." Dann hörte sie auf zu reden.
Ich fühlte mich furchtbar, sah hinüber zu Ladon. Der war schrecklich bleich, seine Hand kalt wie nie zuvor. Er sah mich nicht an, als er seine Hand von meiner zog, aufstand und das Haus verließ.
"Ladon!", rief ich ihm hinterher, wollte ihm folgen, aber Dyana hielt mich am Arm fest. "Lass ihn."
Ich zögerte, doch dann folgte ich ihrem Rat. Ladon würde Zeit für sich brauchen und dann wäre ich für ihn da.
Eine Weile stand ich nur da, Dyana in ihrem Stuhl, wir schwiegen uns an.
Dann räusperte sie sich erneut und als ich sie ansah, hatte ich das Gefühl, einer Toten in die Augen zu sehen.
"Es ist meine Schuld. Es tut mir so leid."
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Legenden von Patria - Der Baum der Götter
FantasyDIESES BUCH IST DER ZWEITE TEIL IN DER "Legenden von Patria"-REIHE. Die erste Schlacht wurde geschlagen und der erste Sieg gefeiert. Doch damit ist der aufkommende Krieg nicht beendet. Obwohl Levian vernichtend geschlagen wurde, fährt er mit seinen...