020 BUCH SECHS - Cieran

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"Du siehst aus wie ein Grashalm im Sturm, Junge. Hast du das Essen verlernt?"

Dyanas spöttische Frage holte mich zurück in die Gegenwart. Gerade erst hatte ich ihr auf ihr Ersuchen hin von Ladon und mir berichtet, wie wir uns kennengelernt, was wir gemeinsam durchlebt hatten. Vieles hatte ich dabei aber für mich behalten, immerhin kannte ich sie nicht einmal richtig. Vom Elfen hatte ich ihr etwa nicht erzählt, ebensowenig von der Art der Beziehung, die zwischen Ladon und mir bestand. Dyana hatte eine scharfe Zunge, aber ich war mir sicher, dass ich ihr immerhin in den meisten Angelegenheiten vertrauen konnte.

"Ich hatte entweder keine Zeit zum Essen oder nichts bei mir, das ich hätte essen können", erwiderte ich.

"Dann komm mit, wir besorgen dir etwas zu Essen."

"Wird Ladon hierherkommen?", fragte ich sie, während ich ihr am tosenden Wasserfall vorbei zurück in die große Grotte folgte. Für ihr offensichtlich hohes Alter war sie noch recht schnell zu Fuß.

"Sag' du es mir", entgegnete sie.

"Woher soll ich das wissen?", hakte ich irritiert nach.

"Warum fragst du ihn nicht?!", erwiderte Dyana, nun zunehmend ungeduldig.

"Wie soll ich das denn machen?"

Dyana stöhnte hörbar genervt. "Dann muss ich bei dir wohl wirklich ganz am Anfang beginnen."

Wir erreichten das Maul des Drachen, das sowohl Ein- als auch Ausgang zum Höhlensystem markierte. Ich entschied mich, wegen den Ketten nachzufragen, die in der Grotte überall zu finden gewesen waren.

"Wozu sind die Ketten da? Hat man hier Drachen eingesperrt?"

"Bei den fünf Dämonen, wirst du nur eine kleine Weile lang aufhören, mir Fragen zu stellen? Sehe ich für dich aus wie ein Lexikon, das du nach jeder Seite aufschlagen kannst wie es dir beliebt?!"

Ich senkte den Blick und hielt den Mund.

Dyana führte mich zu einem der Häuser, das dem Drachenschlund in der Felswand nah lag. Es hatte längst keine Tür mehr, doch das Innere war mit scheinbar improvisiert hergestellten Möbeln spartanisch bestückt. Da waren wackelnde Holzhöcker um einen steinernen Tisch herum, eine Feuerstelle voll von Asche unter einem Kamin, eine Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Und ein Bett, an einer Wand nicht weit von der Tür.

"Wenn du weiter so durch die Gegend starrst, werden dir noch die Augen ausfallen", kommentierte Dyana trocken, also wandte ich meinen Blick nun ihr zu.

"Du schuldest mir Antworten", wagte ich es, sie herauszufordern.

"Das stimmt. Deshalb bist du auch hier", bekräftigte sie mich zu meiner Überraschung. Sie ging zu einem aus Schilf geflochtenem Korb in einer Ecke und hob den Deckel, stöhnte leicht, als sie dafür den Rücken beugen musste.

Sie zog eine noch lebende Eidechse daraus hervor und brach ihr mit einem geschickten Knacken das Genick. Das selbe Schicksal erwartete eine zweite.

Während Dyana die Eidechsen aufschnitt und ihre winzigen Gedärme herauszog, sie dann aufspießte und ein Feuer in der Feuerstelle entfachte, lehnte ich mich an eine der kühlen Wände. Endlich etwas essen, das würde gut tun. Schlaf könnte ich auch brauchen, die Ringe unter meinen Augen mussten inzwischen wohl beinahe schwarz verfärbt sein. Ich mochte es einfach nicht, meine Augen zu schließen. Immer wieder erschien mir der Elf und der Galgenstrick in der Dunkelheit, ein dezenter Schmerz in meinem Hinterkopf war inzwischen fast dauerhaft präsent.

Dyana drückte mir eine der aufgespießten, gehäuteten Eidechsen in die Hand und wies mich an, sie mir selbst über dem Feuer zu garen. Ich folgte ihrer Anweisung und konzentrierte mich auf die tanzenden Flammen. Ladon, mein Drache.

Legenden von Patria - Der Baum der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt