030 BUCH SECHS - Cieran

9 1 0
                                    

"Warum hat es bei Cieran früher angefangen als bei mir?", fragte Ladon kritisch.

Wir waren zu dritt auf dem Weg zu den Grotten, nachdem Dyana uns am Morgen erneut ermahnt hatte, dass wir lernen mussten, eine Einheit zu sein. Nun versuchte Ladon, sie über den Fluch auszuquetschen, den Cystenian auf uns gewirkt hatte.

In der letzten Nacht hatte ich ungewohnt ruhig geschlafen, Ladons Nähe hatte mich beruhigt. Als hätte das Feuer in seiner Seele den Schatten des Elfen aus mir vertrieben.

"Reiter sind empfänglicher für solche Dinge", antwortete Dyana. "Drachen sind abgehärtete Kämpfer, oft schon von Jahren der regelmäßigen Verwandlungen gezeichnet und widerstandsfähiger. Reiter hingegen sind wie eine Zielscheibe für Flüche. Der Reiter muss den Drachen beschützen - dieses Band macht wohl auch vor Flüchen nicht halt."

"Was können wir dann dagegen tun?"

"Wie ich Cieran schon gesagt habe, muss er dagegen kämpfen. Ihr beide müsst es tun. Vernichtet das letzte Fragment von Cystenian in euch. Dafür werden wir jetzt etwas Elementares üben."

Inzwischen hatten wir den dunklen Schacht unbekannter Tiefe erreicht, in den das Wasser herabstürzte.

"Kommt her", wies sie uns an und zeigte neben sich, direkt auf die Kante zum Abgrund.

Zögerlich gehorchten wir. Ich hatte keine Höhenangst, Ladon auch nicht, und doch überkam einen ein mulmiges Gefühl, wenn man so nah an einem dunklen Abgrund stand.

"Vertraut mir und schließt die Augen. Ihr müsst es fühlen", setzte sie fort, am Geräusch ihrer Schritte erkannte ich, dass sie nun langsam vor uns auf und ab ging.

"Was fühlen?", hakte ich nach.

"Die Verbindung zwischen euch. Nehmt die Hand des anderen."

Als wir zögerten, setzte sie zischend fort: "Das macht ihr doch sonst auch ständig!"

Belustigt schmunzelnd folgte ich ihrer Anweisung und tastete neben mir nach Ladons Hand, fand sie und umschloss sie fest.

"Fühlt ihr es?", fragte Dyana.

Ich fühlte es. Das Band zwischen uns stand in Flammen, es war, als wären unsere Körper aneinandergebunden. Ich wollte gerade antworten, als ich einen heftigen Druck auf meiner Brust spürte und nach hinten geschubst wurde. In den Abgrund.

Erschrocken schrie ich und riss die Augen auf, sah oben am Abgrund noch die grinsende Dyana. "Fühlt es!", rief sie uns hinterher, ihre Stimme ging beinahe im Luftstrom unter, der an meinen Ohren vorbeizischte. Noch immer hielt ich Ladons Hand.

Er sah mich an, seine Haare verdeckten im Sturz immer wieder peitschend sein Gesicht, aber ich spürte seinen Blick auf mir. Und der Schrecken vom Anfang verschwand. Fast fühlte auch ich das Feuer, das durch Ladons Blut wogte.

Er ließ mich los, aber ich hatte keine Angst. Noch immer fielen wir, längst war Dyana aus meinem Sichtfeld verschwunden, ich sah nur noch weit über mir die Decke, aus der Licht und Wasser herabfielen, ehe ich mich umdrehte, mit dem Bauch voran.

Ladons Haut riss auf, Drachenschuppen zogen sich über sie, Flügel stießen aus seinem Rücken hervor, sein Kopf verschwamm und wurde zum langen Drachenkopf. Er war größer geworden, seit ich ihn das letzte Mal so gesehen hatte. Nicht sehr, aber doch merklich. Der Schacht bot ihm bei weitem genug Platz, neben ihm hätten noch fünf andere Drachen fliegen können.

Der Drache richtete den Kopf nach unten, stürzte ein Stück unter mich, um dann die Flügel einen kurzen Zeitraum zum Abbremsen auszubreiten. Ich landete auf seinem Rücken, mein Körper fügte sich wie automatisch in den Raum zwischen seinem Hals und seinen Zacken ein, als er die Flügel wieder anlegte und wir weiter hinabrasten.

Ein Gefühl der Euphorie überkam mich, ich schrie wieder, aber diesmal vor Freude. Auch Ladon brüllte laut. Unter uns tauchte eine weite Wasserfläche auf, ein gewaltiger, unterirdischer See, der vom herabstürzenden Wasser neben uns gebildet wurde.

Der See erstreckte sich in einer gigantischen Höhle, von der viele weitere Spalten und Grotten im Fels ausgingen, fast alle groß genug für mindestens einen Drachen. Wieder breitete Ladon die Flügel aus und kam zunächst für einen Moment über dem klaren Wasser zum Stillstand.

Es schien zu glänzen. Es war trotz der Schaumkronen an den Stellen, an denen das Wasser von oben auf den See traf, so klar, dass ich die Edelsteine funkeln sehen konnte, die den See und das Wasser erleuchteten. So viel Magie an einem Ort. So wunderschön.

Ladon wartete offenbar auf eine Anweisung, wohin er fliegen sollte. Ich musste sie ihm nicht zurufen, er flog von allein auf den engen Spalt zu, den ich mir angesehen hatte.

Die Verbindung zwischen uns war so tief, ich fühlte mich so sicher, selbst als ich mich auf Ladons Rücken ducken musste, als er haarscharf unter massiven Stalagtiten hindurchflog, die den Felsspalt einrahmten. Der Spalt führte uns steil aufwärts, überall war das blaue Licht von den Kristallen, die scheinbar aus dem Stein zu wachsen schienen.

Immer wieder wich Ladon spielerisch großen Felssäulen aus, die uns im Weg standen. Automatisch fanden wir unseren Weg durch die verzweigten Höhlen, deren Ausmaße noch viel gigantischer waren, als ich erwartet hatte. Scheinbar erstreckten sie sich tatsächlich nicht nur unter ganz Nar-Sciath, sondern auch unter dem Gebirge, das die Stadt umgab.

So etwas hatte ich noch nie gesehen, ich konnte es kaum verarbeiten. Aber das musste ich im Moment auch nicht, weder Ladon noch ich dachten wirklich darüber nach, was geschah. Wir handelten instinktiv, flogen nach rechts, nach links, nach oben und unten, wichen Hindernissen aus, ohne uns aktiv darüber austauschen zu müssen, welchen Weg wir nehmen würden.

Doch so plötzlich, wie Dyana uns über die Klippe geschubst hatte, überkam mich jetzt auch der Schmerz in meinem Hinterkopf. Ein glühender Schürhaken, der mir gegen den Schädel, in den Schädel hineingepresst wurde. Gerade befanden wir uns erneut in einem Schacht auf dem Weg nach oben, kleiner als der mit dem Wasserfall, und doch groß genug für Ladon.

Stirb, kleiner Reiterdämon.

Der Schmerz war so kurz und doch so heftig gekommen, dass meine Hände Ladon losließen. Die Flammen im Band zwischen uns erloschen beinahe vollständig, als ich von Ladons Körper hinunter in den Schacht glitt.

Die Dunkelheit umfing mich, kaum dass ich mich wenige Dutzend Meter vom brüllenden Drachen entfernt hatte.

Legenden von Patria - Der Baum der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt