024 BUCH SECHS - Cieran

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Also versuchte ich es. Ich versuchte, gegen Cystenian anzukämpfen. Jede Nacht, mindestens eine Woche lang. Am Tag vollführte Dyana in meinen Augen völlig sinnlose Fokussierungsübungen mit mir, ich verbrachte meine Zeit damit, Steine von einem Haufen am Kiesstrand bis zum drachenkopfförmigen Eingang der Höhlen und wieder zurückzutragen.

"Schärfe deinen Geist, Bursche!", rief mir Dyana immer wieder zu, wenn ich sie auf dem Hocker passierte, auf dem sie sich in der Mitte der Strecke niedergelassen hatte. Aber wie bei den Dämonen sollte ich meinen Geist schärfen, wenn ich mich mit jedem Schritt darauf konzentrieren musste, meinen brennenden Muskeln nicht nachzugeben?

Erst am dritten Tag zweifelte ich den Sinn dieser Übung vor ihr an, nur um eine scharfe Antwort zu erhalten: "Verschwende deine Zeit nicht mit Reden, Grünschnabel, spar dir deine Energie fürs Tragen!"

Es brachte überhaupt nichts. Jede Nacht sah ich Cystenian in den Schatten, den Galgenstrick, auf den ich mich immer mehr zuzubewegen schien. Und ich konnte mich nicht bewegen, nichts dagegen tun.

Meine Frustration ließ ich zunehmend an den Steinen aus, die ich immer wieder hinauf und hinabschleppte, endloses Zeitverschwenden in meinen Augen. Wütend warf ich die Steine auf den Boden, zerbrach einige davon an Hauswänden, immer wenn ich weit genug von Dyana entfernt war.

Was tat ich hier eigentlich?

Dann, nach einer Woche, erkannte ich es. Das erste Mal träumte ich vom Elfen in den Schatten und schaffte es, mich ihm statt dem Galgenstrick zuzuwenden. Ein riesiger Erfolg in meinen Augen, den ich am darauffolgenden Morgen mit Dyana teilte.

"Würdest du dich mehr anstrengen, hättest du das schon lange überwunden, Bursche", erwiderte sie nur.

Wieder stieg Zorn in mir hoch. "Du gibst mir seit Tagen immer dieselbe sinnlose Aufgabe, erklärst mir nichts und doch soll ich mich mehr anstrengen! Ich verstehe überhaupt nicht, warum ich das alles mache!"

Dyana verdrehte die Augen. "Bursche, da gibt es auch nichts zu verstehen. Natürlich ist das Steine schleppen an sich völlig sinnlos."

Verblüfft fiel mir die Kinnlade herunter. Hatte sie mir gerade gestanden, eine Woche lang meine Zeit verschwendet zu haben?

"Es geht natürlich nicht darum, die Steine hoch und runterzuschleppen", setzte sie fort, sah mich und meinen noch immer offenen Mund und fügte zwischenein: "Mach den Mund zu, sonst fällt dir die Zunge aus wie ein trockener Ast."

Widerwillig schloss ich den Mund wieder und ließ sie weiterreden.

"Es geht darum, was mit dir passiert. Du schärfst deinen Geist, indem du immer wieder dasselbe tust. Es fällt dir in der Nacht leichter, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Oder stimmt das etwa nicht?"

Ich wollte ihr widersprechen, wollte ihr entgegenschleudern, wie sinnlos das Steineschleppen war. Doch wenn ich darüber nachdachte, wurde es mir tatsächlich klar. Ja, meine Träume waren mir von Tag zu Tag realer, greifbarer erschienen. Und nicht zuletzt meine Fähigkeit, nun langsam in das Geschehen einzugreifen, bestätigten Dyanas These. Also nickte ich nur und senkte demütig den Kopf.

"Gut. Also hör auf zu Meckern wie ein Kind und hol dir die Steine."

Doch an diesem Tag ließ sie mich nicht den ganzen Tag Steine schleppen. Bereits am Mittag stoppte sie mich mit einer Handbewegung, als ich sie passierte. Stöhnend ließ ich den schweren Stein, den ich gerade in den Händen trug, auf den Boden fallen.

"Du willst Antworten. Jetzt darfst du mir deine Fragen stellen."

Sie zischte, als ich mich vor ihr auf den Boden setzen wollte, also blieb ich stehen.

"Wer bist du?"

Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet, sie zog die Augenbrauen hoch. "Du weißt, wer ich bin."

"Nein, das weiß ich nicht", widersprach ich ihr bestimmt.

"Darüber reden wir, wenn dein Drache hier ist", antwortete sie also.

"Aber du hast gerade gesagt..."

"Ich habe gesagt, dass du mir deine Fragen stellen darfst, nicht, dass ich sie dir auch beantworte."

Ich knurrte nur und stellte ihr die nächste Frage: "Wer hat diesen Ort gebaut? Die Drachen und ihre Reiter?"

Dyana faltete ihre Hände ineinander und schloss die Augen, als würde sie tief vergrabene Erinnerungen in sich aufwühlen, ehe sie antwortete: "Jede der magischen Rassen hat beim Bau mitgewirkt, vor vielen tausend Jahren. Das hier war nicht immer die Stadt der Reiter und ihrer Drachen."

"Magische Rassen?", ergab sich mir sofort die nächste Frage.

Dyana seufzte. "Hat man dir etwa nie etwas über die Schöpfungsgeschichte beigebracht?"

"Mein Vater hielt nicht viel von Religion... Er hat es als Unterrichtsthema für mich verboten", entschuldigte ich mich.

"Dann wirst du die Schöpfungsgeschichte jetzt lernen", setzte Dyana an, trank einen Schluck Wasser aus ihrem Becher und stellte ihn dann wieder ab.

"Zu Beginn war die Mutter der Götter, die Göttin des Waldes. Sie hat die anderen vier Götter geschaffen, die des Feuers, des Windes, der Erde und des Wassers. Gemeinsam haben diese fünf Götter dann die Welt geschaffen, wie wir sie kennen.

Die Mutter der Götter schuf die Elfen, und als die anderen Götter ihr Werk sahen, wollten auch sie ihr eigenes Leben schaffen. Der Gott des Wassers schuf die Nymphen und Wassergeister, die Göttin des Feuers die Drachen, der Gott der Erde die Menschen. Die Göttin des Windes erschuf uns, die Drachenreiter."

"Klingt für mich nach einem Märchen", gab ich zu, doch sie zischte nur ungeduldig: "Unterbrich mich nicht, ich war noch nicht fertig!"

Ich hielt also den Mund und hörte ihr weiter zu.

"Am Anfang lebten die Rassen in Harmonie. Doch da waren die dunklen Mächte, die bereits ein Auge auf die Schöpfung der Götter geworfen hatte. Die Fünf Dämonen, angeführt von ihrem Herrn, dem Dämon der Dunkelheit, verdarben die Schöpfung, durchzogen die Welt mit Krieg, Krankheit, Zorn, töteten die Lebewesen mit Naturkatastrophen. Seitdem befinden sich die Götter in einem endlosen Kampf gegen die Dämonen der Dunkelheit."

Ich erinnerte mich zurück an den Baum hinter dem Wasserfall: "Und der Baum ist..."

"Ein Überbleibsel aus der Zeit, in der die Götter noch auf unserer Welt wandelten. Jedenfalls habe ich es immer so gesehen, doch sicher bin ich mir nicht."

Götter, Dämonen - Begriffe, die ich immer wieder instinktiv benutzt hatte, ohne mir über ihre Bedeutung im Klaren zu sein. So deutlich, wie ich den Strom der Magie am Baum gespürt hatte, begann ich, meine kritische Haltung zu hinterfragen. Wenn es Elfen gab, Elfen, Drachen, Reiter - vielleicht gab es dann auch Götter und Dämonen?

Legenden von Patria - Der Baum der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt