054 BUCH SIEBEN - Cieran

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Schließlich gab ich meine Versuche auf, Ladon zurückzuholen. Er würde nicht zurückkommen. Er hatte mich einfach hier zurückgelassen, einsam, bald schon umgeben von Menschen, die mich mit Fragen löcherten. Mit Fragen - und Vorwürfen.

"Euer Drache war es, der uns ins Chaos gestürzt hat!"

"Warum habt Ihr ein Monster in unsere Mitte gebracht?"

Ich konnte die Fragenden nie ausmachen, aber ich versuchte es auch gar nicht wirklich, mein Blick war tunnelförmig, alles kam mir grau und leblos vor. Dann sah ich Leander, der auf mich zukam. "Ich weiß nicht einmal, ob meine Schwester noch lebt! Im Durcheinander habe ich sie verloren!"

"Sie ist tot", erwiderte ich, erschreckend kalt verließen die Worte meine Lippen.

Leander verlor den vorwurfsvollen Ausdruck in seinem Gesicht und wurde leichenblass. "Das...das könnt Ihr nicht mit Sicherheit wissen."

"Ich hielt sie in meinen Armen, als sie starb. Ich habe es gesehen", widersprach ich, erinnerte mich daran, wie Atarah vergeblich nach Luft gerungen hatte.

Wieder füllten sich meine brennenden Augen mit Tränen, doch diesmal tat ich mein Bestes, sie zurückzuhalten.

"Lasst mich durch!", polterte schließlich Gunborgs Stimme durch den Haufen. Ein Gang bildete sich für sie, der Pfeil steckte noch immer in ihrer Schulter. Das schien sie nun auch zu bemerken, als mein Blick auf ihm lag. Sie brach ihn kurzerhand ab und zog ihn sich heraus, zischte nur ein wenig ob des Schmerzes, der ihren Arm hinabrasen musste.

Eine ihrer Untergebenen, die sie mit einem Verband versorgen wollte, schubste sie zur Seite, um sich mir zu widmen. Ich rechnete mit mehr Vorwürfen, mehr Schuldzuweisungen, doch die kamen nicht.

"Verpisst euch, ihr Schweinesöhne! Lasst ihn in Frieden, sonst reiße ich euch eigenhändig die Eingeweide durch den Hintern raus!"

Kaum einer zweifelte am Wahrheitsgehalt von Gunborgs Drohung, die Menge zerstreute sich widerwillig, nur Leander blieb an Ort und Stelle, aber sein Blick grub starr imaginäre Löcher in den Boden.

"Es tut mir...", begann ich leise, Leander hob den Kopf, die Augen glühende Flammen im weißen Gesicht.

"Haltet Euer Maul, sonst schneide ich Euch die Zunge heraus."

Ich schloss meinen Mund wieder, während Gunborg ihn neben mir öffnete, offenbar, um mich zu verteidigen. Ich hob eine Hand, um sie davon abzuhalten.

Statt den Mund zu schließen, schlug sie jedoch einen ungewohnt diplomatischen Ton an: "Wir sind alle auf die Elfengöre hereingefallen."

"Wir hätten sie besiegt, wenn Euer Leibwächter sich nicht in die Bestie verwandelt und seine eigenen Verbündeten ermordet hätte!"

Ja, er wusste es. Viele mussten es gesehen haben. Ladon würde hier nicht mehr sicher sein. Auch wenn ich mich selbst nicht sicher fühlte, ruhten doch immer noch verächtliche Blicke von den vorbeigehenden Truppen auf mir. Nichts war mehr da von der Bewunderung, die mir einst entgegengebracht wurde. Ich war der, der das Monster in die eigenen Reihen gebracht hatte. Und das Schlimmste daran war, dass sie recht hatten. Nicht mit dem Teil, das Ladon ein Monster war - Ladon war kein Monster. Aber ich war Schuld. Ich war es gewesen, der seine Emotionen hatte frei durch das Umfeld toben lassen, Kräfte gewirkt hatte, von denen ich nichtmal gewusst hatte, dass ich über sie verfügte.

Ich hatte den Drachen entfesselt, ich war Schuld an jedem einzelnen, der zwischen Ladons Klauen zerfetzt, in seinen Feuerstößen verbrannt worden war. Es saß mir tief in den Knochen, ebenso wie die nagende Trauer um Atarah, es fiel mir schwer, mich aufrecht zu halten.

"Wo ist er jetzt?", fragte Gunborg sanfter und legte mir einen ihrer massigen Arme über die Schulter, das Gewicht stabilisierte mich.

"Weg", entgegnete ich. "Mehr weiß ich auch nicht."

Das entsprach der Wahrheit. Ich wollte nicht mehr versuchen, Ladon zu erreichen. Er hatte mich verlassen, mich ignoriert, als ich versucht hatte, ihn davon abzuhalten. Jetzt war ich enttäuscht, von Trauer und Schmerz gebeugt, hatte besseres zu tun. Irgendwie überleben.

"Es ist wahrscheinlich besser, wenn er das vorerst bleibt", bestätigte Gunborg schließlich.

"Wir haben ohnehin verloren. So viele sind gestorben, wir können jetzt keinen Frontalangriff mehr auf Asarion durchführen. Es ist vorbei", knurrte Leander wütend, aber in seiner Stimme hörte ich denselben Schmerz, der auch mein Herz zu zerreißen drohte. Er hatte seinen Vater verloren, ich wusste nicht, ob ihm das sehr wehgetan hatte - jedenfalls hatte ihm Atarah mehr bedeutet. Und jetzt hatte er sie verloren, ebenso wie ich.

Und auf einmal wurde mir alles zu viel. Gunborg erwiderte etwas auf Leanders Vorwurf, aber ich verstand nichts, der Ton war wie gedämpft in meinen Ohren. Ich tat drei Schritte nach vorne, löste dadurch Gunborgs mächtigen Arm von meiner Schulter, dann lief ich weiter, weiter in Richtung des Baumes, an dem ich Leska getroffen hatte. Ich war mir nicht sicher, ob man mir etwas hinterherrief - folgen tat mir jedenfalls niemand, ich sah nicht zurück.

Kaum hatte ich den Baum erreicht, ließ ich mich daran heruntersinken und sah auf die Nebelwand über dem See, die auch vom starken Sonnenlicht nicht verdrängt wurde. Nar-Sciath. Ob Dyana wohl wusste, was passiert war? Hatte sie mithilfe des Baums verfolgt, was ich getan hatte? Götter und Dämonen, sie wäre enttäuscht von mir.

Ich war wütend, wütend auf mich selbst, wütend auf Ladon, der mich allein gelassen hatte. Ich weinte und begann, das Gras neben mir aus dem Boden zu reißen. Ich war so wütend und doch wünschte ich mir nichts mehr, als Ladon bei mir zu haben, seinen warmen Körper, seinen starken Geist. Aber er war nicht hier.

Legenden von Patria - Der Baum der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt