Inzwischen befand ich mich tief inmitten der hohen Gebäude. Es sah fast aus, als wären sie über Nacht verlassen worden, vor vielen hundert Jahren. Kein Vogel war zu sehen, aber immerhin hatte ich schon einige Eidechsen entdeckt, die auf den Steinen umherhuschten. Ganz ohne Leben war der Ort also nicht.
Ohne jeden Plan wählte ich immer wieder andere Abzweigungen in der menschenleeren Stadt.
"Ladon?", rief ich schließlich, erhielt aber keine Antwort. Mein Ruf zerschnitt die Stille und hallte durch die Ruinen, ich schauderte. Noch einmal machte ich mich nicht bemerkbar.
In vielen der steinernen Häuser war sogar noch etwas von der Einrichtung zu erkennen. Einiges, was aus Holz bestanden hatte, war inzwischen wohl zerfallen, doch steinerne Tische, Treppen, Theken waren noch immer sichtbar, ebenso wie die Vertiefungen an den Rändern der Straßen, die in Richtung See hinabführten. Möglicherweise Vorrichtungen, über die früher einmal Wasser geflossen war. Doch jetzt war in den Senken nur noch vereinzelter Kies.
Immer wieder brachen kleine Gras- oder Moosbüschel aus dem Boden hervor, doch dafür, wie lange diese Stadt bereits verlassen sein musste, waren es sehr wenige Pflanzen.
Ich bewegte mich immer weiter auf die hohen Klippen zum Gebirge zu, die die Stadt wie eine natürliche Mauer einschlossen. Am Ende der Stadt, am Fuße der Klippe, hatte ich etwas entdeckt, das mein Interesse weckte.
Ein hausgroßer, steinerner Drachenschädel mit weit geöffnetem Maul war detailgetreu aus dem Stein herausgeschlagen worden. Tief in seinem Maul befand sich der Eingang zu einer Höhle, deren Ausmaße ich von meinem Standpunkt aus nicht erkennen konnte.
Wenn Ladon das gesehen hätte, wäre er dann hineingegangen? Wahrscheinlich schon. Also würde ich das nun auch tun.
Bedrohlich und düster ragten die steinernen Drachenzähne über mir, als ich durch das Maul hindurchschritt. Im Inneren erwartete mich keine Dunkelheit. Mehrere Risse weit, weit oben in der Decke ließen das Licht der Sonne ins Innere scheinen. Dennoch war die Höhle mit Schatten übersäht, aufgrund ihrer gewaltigen Größe konnte ich zunächst nichts ausmachen, das mir bei der Orientierung helfen würde.
Vorsichtig ging ich weiter voran, fuhr dann zusammen, als lautes Scheppern durch das Gewölbe hallte. Ich war gegen etwas getreten. Ich sah nach unten und sah eine gewaltige Kette, bestehend aus faustgroßen, schmiedeeisernen Gliedern und einem großen, mit einem Riegel zu öffnenden Ring an einem Ende. Das andere Ende war um eine der vielen, mehrere Meter breiten Säulen befestigt, die sich sicher hundert Meter bis hinauf zur Decke streckten.
An fast jeder Säule fanden sich solche Ketten. Mir fiel nur ein möglicher Nutzungszweck ein. Hatte man hier Drachen eingesperrt?
Ich folgte einem seltsamen Rauschen vom anderen Ende, kam weiter voran, die Decke des große Gewölbes - das sicher Platz für Ladon und drei Dutzend weitere Drachen gehabt hätte - senkte sich allmählich herab, blieb aber immer mindestens zwanzig Meter über mir.
Was ich dann sah, verschlug mir beinahe die Sprache.
Am Ende dieses riesigen Ganges befand sich ein Abgrund, so tief, dass ich den Grund nicht sehen konnte. Das Rauschen stammte von einer Flut von Wasser, die sich über die Felsen hinab in die Dunkelheit stürzte. Ein gewaltiger Wasserfall, Gischt sprühte durch die Höhle wie die Brandung an die Küste. Der Schaum glänzte in allen Farben des Regenbogens, von oben fiel durch dasselbe Loch, durch das auch das Wasser herunterfloss, auch Sonnenlicht herab.
Links und rechts von mir führten zwei Wege an der Felswand entlang, einer kreisförmig hinab in die Tiefe, der andere schien hinter den Wasserfall zu führen. Ich entschied mich für den rechten, der mich hinter den Wasserfall bringen würde.
Stalagmiten wuchsen am Wegesrand aufwärts zur Decke, manche Dutzende von Metern hoch, bei genauerem Hinsehen konnte ich auch Stalagtiten an der Decke erkennen, die hier noch viel höher lag als im Gewölbe.
Meine bei der Überfahrt vollkommen nass gewordene Kleidung war bisher kaum getrocknet, also machte es mir auch jetzt nichts mehr aus, dass die schleudernden Tropfen rund um die Wasserflut sie weiter einweichten. Meine kalte Haut darunter hatte ich bisher vor lauter Aufregung beinahe vergessen, jetzt fröstelte ich etwas.
Hinter dem Wasserfall fand ich eine Art Torbogen im Fels, diesmal auf menschliche Größe reduziert. Ich trat hindurch und fand mich in einer Kammer wieder, gewölbte Säulen zu beiden Seiten, in der Mitte ein kreisrundes Loch in der Decke, durch das Licht eindrang.
Unter dem Loch stand ein wunderschöner Baum mit rosafarbenen Blüten. Seine Wurzeln schlangen sich durch den ganzen Raum, durchbohrten den Stein. Er stand inmitten eines kleinen Teiches, von dem mehrere kleine Rinnsale ausgingen, die in kleinen Nischen in den Wänden verschwanden. Das Plätschern des Wassers schien das laute Tösen des Wasserfalls hinter mir völlig zum Verstummen zu bringen.
Und vor dem Teich saß eine Gestalt im Schneidersitz, ein Umhang bedeckte die gebeugte Gestalt.
"Ladon?", fragte ich vorsichtig und leise, flüsterte beinahe.
Aber ich erkannte bereits, dass es nicht Ladon war, als ich wenige Schritte näher herangegangen war. Eine mattgraue Aura umgab die Figur.
Dieses Wesen war alt und gebrechlich, erhob sich mit einem mühsamen Stöhnen vom Boden.
"Warum bei den Göttern hast du so lange gebraucht? Du dachtest wohl, ich hätte noch ewig Zeit!", fuhr eine Frauenstimme mich an. Kein Zweifel, es war die, die ich in meinem Kopf gehört hatte. Sie war es, die mich nach Nar-Sciath gerufen hatte. Misstrauisch legte ich meine Hand auf den Griff des Schwertes, das ich seit dem Überfall auf den Waffenkonvoi immer bei mir trug.
"Das wirst du nicht brauchen, Bursche", winkte die Alte ab und zog sich die Kapuze vom Kopf. Graue Haare fielen über ihre Schultern, ihr faltenüberzogenes Gesicht verzog sich zu einem frechen Grinsen.
"Wer bist du?", fragte ich, machte keine Anstalten, näher an die Unbekannte heranzugehen. Vielleicht war das alles eine Falle, auf die ich naiv hereingefallen war, kopflos vor Liebe?
"Mein Name ist Dyana."
"Und was willst du von mir?"
Sie lachte auf, etwas spöttisches lag im Klang ihrer Stimme. "Du solltest dich lieber fragen, was du von mir willst."
Irritiert hob ich eine Augenbraue. "Was sollte ich von dir wollen?"
"Einfach alles, Cieran Blayd."
"Wer bist du?", wiederholte ich meine Frage.
"Ich bin wie du. Nur dass meine Aura vermutlich nicht mehr so stark und vital leuchtet, wie deine es tut."
"Du bist eine Reiterin?", fragte ich verblüfft.
"Ich war eine Reiterin", bestätigte sie, Schatten des Schmerzes zogen sich über ihr Gesicht, ihre Aura verdunkelte sich. "Und ich habe dich hierhergeholt, um dir beizubringen, was ich weiß. Um es euch beiden beizubringen."
DU LIEST GERADE
Legenden von Patria - Der Baum der Götter
FantasyDIESES BUCH IST DER ZWEITE TEIL IN DER "Legenden von Patria"-REIHE. Die erste Schlacht wurde geschlagen und der erste Sieg gefeiert. Doch damit ist der aufkommende Krieg nicht beendet. Obwohl Levian vernichtend geschlagen wurde, fährt er mit seinen...