Ich spürte es. Ich spürte, dass ich Cieran mit jedem Tag näher kam. Seine Stimme hörte ich nicht mehr und auch seine magische Präsenz kam nicht wieder. Aber das Gefühl, ihm näherzukommen, blieb und gab mir Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.
Knapp eine Woche war ich unterwegs, bis ich schließlich die Berge am Horizont sah, die die südliche Grenze von Gorian markierten. Ich rastete in einem kleinen Waldstück, die Nacht würde bald hereinbrechen.
Bisher hatte ich keine Menschenseele getroffen, der kalte Winter hielt sie in ihren Häusern, um die ich sowieso einen Bogen machte.
Als ich jedoch die Berge vor mir sah, wurde mir erst bewusst, wie lange ich wirklich nach Nar-Sciath brauchen würde. Die Berge zu überqueren würde Ewigkeiten dauern und danach wäre ich immer noch nicht in Nar-Sciath.
Die Stadt war von Bergen eingeschlossen, Khrysor hatte mir eine Karte mitgegeben, auf die ich nun blickte. Der einzige Weg in die alte Stadt hinein führte über einen See, der nur von Süden oder Osten her erreicht werden konnte. Ich musste also nach Deas kommen, um überhaupt in die Nähe der sagenumwobenen Stadt zu kommen.
"Monster leben in diesem See, die die Menschen mit sich hinabziehen", hatte Khrysor mir gesagt, als er mir Nar-Sciath auf der Karte gezeigt hatte. Lesen konnte ich nicht, weshalb er mir die wichtigsten Worte auf der Karte erklärt hatte.
Die Vorstellung, noch sicherlich über eine Woche warten zu müssen, bis ich Cieran endlich wiedersehen konnte, gefiel mir ganz und gar nicht. Doch es blieb mir wohl nichts anderes übrig.
Es sei denn...
Ich könnte mich verwandeln und über die Berge hinwegfliegen. Wenn ich ihnen einmal näher war, würde ich erst recht keine Menschen mehr treffen. Die Berge im Süden Gorians waren keine Region, in der man leben wollte. Keine fruchtbaren Böden und bis auf Brynn an der Küste weit im Osten keine großen Städte, in denen Handel getrieben wurde. Und die eisigen Nordwinde trugen im Winter die Schneemassen an die Berghänge, sodass man regelrecht darin versank.
Aber hatte ich mich genug unter Kontrolle, um auch wirklich nach Nar-Sciath zu fliegen und nicht einfach das nächste Dorf niederzumetzeln?
Ich wusste es nicht. Die Unsicherheit darüber hielt mich noch einige Stunden wach.
Schließlich schlief ich doch ein, träumte von meinem Wiedersehen mit Cieran. Bald darauf wurde es jedoch zu einem Albtraum, als ich, selbst im Traum, das Stechen im Hinterkopf spürte. Cystenian versuchte wieder einmal, auf meinen Traum zuzugreifen.
Gerade noch hatte ich Cieran glücklich im Arm gehalten, es war ein so schöner Traum. Doch dann verdunkelte sich der Raum in dem wir standen, Cieran sackte in meinen Armen zusammen und rührte sich nicht mehr.
Mit Erschrecken sah ich den abgeschnittenen Galgenstrick um den Hals seiner Leiche und wagte erst gar nicht, in sein Gesicht zu sehen.
Ich wollte ihn noch weiter festhalten, ihn nicht der Dunkelheit hingeben, die uns umgab, doch andererseits wollte ich einfach nur weg von ihm, von dem unglaublichen Schmerz, den mir der Anblick von Cierans totem Körper immer wieder ins Herz jagte.
"Du kannst ihn retten", hörte ich Cystenians zischende Stimme aus der Dunkelheit, "Du kannst ihn davor bewahren."
"Lass mich in Ruhe!", schrie ich in die Dunkelheit, wusste mir anders nicht zu helfen.
"Erspare ihm dieses schreckliche Schicksal. Du weißt wie."
Kaltes, trostloses Licht fiel auf mich herab und mit ihm der Schatten eines Galgenstricks. Ich schluckte.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich überhaupt nicht wusste, wie weit Cystenian Cieran schon gebracht hatte. War Cieran vielleicht wirklich kurz davor, den Worten des Elfs nachzugeben? Würde ich zu spät in Nar-Sciath ankommen?
"Was für eine erbärmliche Liebe muss das sein, wenn du nicht einmal bereit bist, dich für ihn zu opfern."
Cystenians Worte hallten in meinem Kopf nach, machten mir ein unglaublich schlechtes Gewissen.
Ich liebte Cieran. Ich liebte ihn wie niemanden sonst in dieser Welt und ich würde alles für ihn tun. Oder? War ich wirklich bereit, an seiner Stelle zu sterben? Hatte ich den Mut, dem Tod ins Auge zu blicken und mich zu opfern, damit er leben konnte?
Tränen füllten völlig unvermittelt meine Augen, voller Verzweiflung starrte ich den Galgenstrick an.
Was, wenn Cieran bereits kurz davor war, ihn sich um den Hals zu legen?
Ein Ziehen des magischen Bands ließ mich aus dem Traum fahren, die Dunkelheit, der Galgenstrick und Cierans Leichnam in meinen Armen verschwanden, wurden durch die blendend weißen Winterlandschaft Gorians ausgetauscht.
Das Stechen in meinem Hinterkopf blieb noch eine Weile, ebenso das Ziehen am magischen Band, das so sprunghaft und aufgewühlt war, dass ich es nicht zu greifen bekam.
Ich spürte erkaltete Tränen auf meinen Wangen und wischte sie weg.
Ich durfte keine Woche mehr brauchen, ich musste zu Cieran und zwar jetzt!
Ich ritt weiter den Bergen entgegen, traf nach einem halben Tagesritt überraschenderweise auf eine kleine Gruppe Reisender, vermutlich auf dem Weg nach Brynn.
Da kam mir eine Idee und wenige Stunden später hatte ich mein Pferd gegen einen Beutel mit Wechselklamotten, ein dickes Seil und einige brennende Fackeln eingetauscht. Die Gruppe hatte mich merkwürdig angesehen, zumal das Pferd als Bezahlung viel zu viel war, doch ich beließ es dabei, ging nun zu Fuß weiter auf die Berge zu.
Auf dem Weg sammelte ich Holz, das ich in der Nacht an einer halbwegs windgeschützten Stelle aufschichtete und mithilfe der Fackeln tatsächlich zum brennen brachte.
Während ich darauf wartete, dass das Feuer etwas wachsen würde, band ich das Seil um den Beutel mit Klamotten. Das andere Ende band ich zu einer großen Schlaufe, von der ich hoffte, sie würde auch dann noch um meinen Arm passen, wenn ich ein Drache war. Lyr's Schwert band ich ebenfalls an dem Seil fest.
Dann trat ich ins Feuer, achtete darauf, dass das dicke Seil nicht allzu sehr angesengt wurde und ließ die Verwandlung über mich ergehen, umgriff währenddessen so gut es ging das Band zu Cieran, um mich hoffentlich auch noch als Drache daran zu erinnern, wohin ich fliegen musste.
Und es schien zu funktionieren. Zwar bekam mein Verstand nicht sehr viel von meinem Flug über die Berge mit, doch ich spürte, wie es mich zu Cieran zog, über die Berge nach Nar-Sciath.
-
Als ich wieder als Mensch erwachte, lag ich am Ufer eines Sees. Ich fror und war erschöpft. An meinem rechten Arm lag noch immer das dicke Seil mit dem Beutel und dem Schwert daran.
Träge und zitternd zog ich mir die Klamotten an, war froh darüber, auch einen dicken Umhang gewählt zu haben. Das Schwert hielt ich in den Armen fest, bevor ich vor Erschöpfung einschlief, das leise Schwappen des Seewassers im Ohr.
Bevor ich jedoch in den Schlaf driftete, spürte ich Cierans Nähe. Er war nicht weit von mir entfernt, ich spürte es.
Mit diesem Wissen schlief ich ein, erholte mich von den Strapazen der Verwandlung.
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Legenden von Patria - Der Baum der Götter
FantasyDIESES BUCH IST DER ZWEITE TEIL IN DER "Legenden von Patria"-REIHE. Die erste Schlacht wurde geschlagen und der erste Sieg gefeiert. Doch damit ist der aufkommende Krieg nicht beendet. Obwohl Levian vernichtend geschlagen wurde, fährt er mit seinen...