| 67 | 𝓛𝓪𝓭𝓾𝓷𝓰 𝓓𝔂𝓷𝓪𝓶𝓲𝓽

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Den Abend verbrachte sie mit Lesen. In der Bibliothek war sie tatsächlich auf ein paar Bücher über Parapsychologie, Voodoo-Zauber und andere übersinnliche Phänomene gestoßen, die ihre Großmutter vermutlich begeistert hätten. Vielleicht kannte Granny sie aber auch schon ...

Kats Wissen über Hellsehen war ziemlich dürftig: Das Thema hatte sie nie sonderlich interessiert. Deshalb hatte sie sich für dieses Buch entschieden. Es ging darum, dass man die Geschichte eines Gegenstandes zu lesen versuchte, indem man ihn in die Hand nahm. Aber sie hatte sich nie detaillierter mit diesem Phänomen befasst, bis jetzt, da es sie unmittelbar betraf, falls sie nicht einfach im Begriff war, den Verstand zu verlieren.

Unter Psychometrie oder Hellsehen durch Betasten versteht man ... dass die agierende Person durch Berühren oder Anschauen eines Gegenstandes Informationen erhält, die sich entweder auf Ereignisse beziehen, die mit diesem Gegenstand zu tun hatten, oder aber auf das Leben irgendeiner Person, die ihn in der Vergangenheit berührt hat ...

Sie sah von dem Buch auf, drüben in der Scheibe des Erkerfensters sah ihr Spiegelbild ebenfalls auf. Es gab Geister – und Geister.

Sie las den Absatz zu Ende: ... wobei entscheidend ist, dass zwischen der agierenden Person und der Person, in deren Leben diese Ereignisse stattgefunden haben, eine räumliche Verbindung besteht, entweder direkt oder vermittelt über das Objekt.

Wie konnte ein Ding eine ganze Ansammlung vergangener Momente in sich tragen, ähnlich einer Versteinerung? Hinterließ sie, Katherine LaSalle, jetzt in diesem Moment, um – kurzer Blick zu der Uhr auf dem Kaminsims – 21 Uhr 22 an einem Julisamstag, selbst irgendwelche bleibenden Spuren in diesem Zimmer, diesem Sessel, diesem Buch? Sie blätterte weiter.

Im Jahr 1939 hatte ein bekannter Parapsychologe die These aufgestellt, dass physikalische Strukturen Eindrücke speicherten, die später dann von einer Person mit der entsprechenden Sensitivität wahrgenommen werden konnten. Eindrücke visueller, akustischer und taktiler Art. Aber wie? Selbst wenn sich die physikalische Struktur eines Gegenstands durch Ereignisse verändern konnte, wie sollte in dieser Veränderung etwas so Spezifisches kodiert sein wie ein bestimmter Zeitpunkt, ein konkreter Schatten an der Wand? Darüber gab das Buch keinen Aufschluss, sie schlug es zu und starrte auf den Einband. Angenommen, so etwas geschah tatsächlich – auf welche Weise auch immer –, was dann? Die Folge war, dass sie warmen Atem im Gesicht spürte oder einen Besen über die Dielen fegen hörte und Geisterechos sah. Sensorische Halluzinationen, alles miteinander, ausgelöst durch Bilder, die auf mysteriöse Weise in der physikalischen Struktur irgendwelcher Objekte konserviert waren und auf nicht minder mysteriöse Weise durch ihre – wie hieß die Formulierung doch gleich? – entsprechende Sensitivität aktiviert wurden.

Bei aller Schwammigkeit war diese Hypothese doch beruhigend. Sie bot eine Erklärung für jene verwirrenden Momente, die ebenso sehr Produkte ihres eigenen Hirns wie Ausgeburt dieses Spukhauses sein konnten. Und sie stützte die Theorie, dass diese Momente einfach nur ein Echo längst vergangener Geschehnisse waren, also nicht die aktiven Bemühungen eines körperlosen Geistes, mit ihr zu kommunizieren. Oliver hing eher der Theorie von bewussten Spuk an. Sie schüttelte den Kopf, und auf der anderen Seite des Raums bewegte sich etwas; sie sah rasch auf und erkannte wieder ihr eigenes Spiegelbild im Erkerfenster.

Dumme Kuh. Ihre Hände umklammerten das Buch auf ihrem Schoß. Eindrücke, von physikalischen Strukturen gespeichert. Spieldose, Sonnenuhr, Kleider, Klavier, jedes Ding angefüllt mit seinen eigenen Bildern, im ganzen Haus hallte die Vergangenheit wider. Erklärte das wirklich, was hier geschah? Auf die Spieldose traf es einwandfrei zu, auf das Sofa im Arbeitszimmer wahrscheinlich, auf die Sonnenuhr vielleicht. Alle Dingen waren vermutlich von Claire in irgendeiner Weise berührt worden und mussten, der Theorie zufolge, irgendetwas von ihr gespeichert haben. Die geschäftigen Geräusche, die sie an jenem Nachmittag gehört hatte, passten schon weniger ins Bild, aber natürlich ließen sich auch da Zusammenhänge vermuten. Aber was war mit der Stimme, die sie während der Séance mit Rosanna gerufen hatte? Und wie kam es zu der Trance, in der sie den Friedhof gesehen hatte? Haftete diesen beiden letzten Vorfällen etwas qualitativ anderes an – trugen sie den Stempel eines Bewusstseins? Auf eine gespenstische Weise wirkten sie wie Reaktionen auf die jeweilige Situation.

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