| 60 | 𝓓𝓲𝓮 𝓢𝓸𝓷𝓷𝓮𝓷𝓾𝓱𝓻

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Kat träumte – war so in ihrem Traum versunken, dass der Summton aus ihrer Vergangenheit kam und sie sich herumwälzte und nach dem Wecker tastete, um ihn abzustellen. Da war kein Wecker. Ihre Hand begriff es zuerst, dann ihr Gehirn, und die Gegenwart brach über sie herein wie ein Schwall kaltes Wasser. Sie war hellwach und schnappte nach Luft.

«Oliver ...»

Er war sofort wach, schnappte sich seine Jeans von Stuhl. Sie hörte seine bloßen Füße über den Fußboden tappen, während sie sich aus dem Bett schwang, um ihm auf die Galerie zu folgen. Im Vorbeigehen nahm sie ihr Handy von der Kommode. Auf der Kontrolltafel der Alarmanlage blinkte ein Lämpchen: das mit der Kennzeichnung Salon. Oliver betätigte einen Schalter. Der Summton brach ab, in der plötzlichen Stille hörten sie Musik.

Musik. Leise, kaum hörbar, sodass man beim Lauschen den Atem anhalten musste. Kaum mehr als ein leises Wellengekräusel auf der Oberfläche der Stille, aber dennoch unverkennbar Musik. Das Haus um sie herum war dunkel, eine räumliche Anordnung geometrischer Formen, schemenhaft, träumend, jede Linie und jeder Winkel gesättigt mit Vergangenheit wie mit einer Flüssigkeit, die bei der leisesten Berührung überfließen musste. Und die Musik war wie leuchtende Tropfen, die durch das Dunkel fielen, einer nach dem anderen aufglommen und erloschen. Oliver rannte die Treppe hinunter, sie hinterher. Eine Stufe knarrte. Sie verharrte, eine Hand am Geländer. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte. Aber von dem Dunkel und der leisen Musik ging etwas aus, was den denkenden Teil ihres Gehirns übersprang und direkt durch ihre Nerven sirrte. In Olivers Baumwollhemd, das sie sich hastig übergezogen hatte, spürte sie jeden Luftzug. Sie folgte Oliver, ihr Handy uneingeschaltet in der Hand.

Am Fuß der Treppe wartete er auf sie. Gemeinsam durchquerten sie den Flur. Die Salontür war ein breites Rechteck aus schummrigem Licht, drinnen im Raum warfen die Gardinen hauchzarte Schatten auf den Fußboden. Der Halbmond hing, perfekt wie ein Scherenschnitt, in einem Flügel des Erkerfensters. Als sie im Türrahmen standen, ergoss sich das sanfte, klagende Lied über sie wie ein Strom warmer Tränen. Die Tränen perlten jetzt langsam, noch langsamer, Kat legte Oliver die Hand auf den Arm. Dann war Stille.

Er löste sich von ihrer Seite, machte Licht. Schatten wurden scharf, Farben fluteten an ihren Platz. Oliver stand barfuß und mit bloßem Oberkörper vor dem dunklen Erkerfenster und musterte die Spieluhr auf dem Kaminsims. Der Deckel war offen. Als sie wieder aufsah, stand Oliver immer noch reglos da.

«Hast du sie heruntergeholt?», wollte er wissen. «Sie stand sonst immer in meinem Arbeitszimmer.»

Kat schüttelte den Kopf. «Nein, mir ist sie erst heute auf dem Kaminsims aufgefallen, als sie plötzlich angefangen hat zu spielen.»

«Vielleicht war es Madeleine. Sie hat mit mir zusammen das Arbeitszimmer aufgeräumt. Kann sein, dass sie die Spieldose mitgenommen und auf den Kaminsims gestellt hat», überlegte Oliver, aber Kat bezweifelte, dass ihre Großmutter einfach so etwas in diesem Haus verändern würde. Weil sie genau wusste, dass Geister keine Unordnung mochten. Andererseits hatte sie ihm auch den Mojo-Beutel zugesteckt. Kat musste sich eingestehen, dass sie ihre Großmutter nicht mehr kannte.

«Hast du den Deckel zugemacht?», fragte sie. «Heute Nachmittag stand er noch offen.»

«Ich glaube schon. Aber ich kann mich verdammt noch mal nicht erinnern.» Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn und wandte sich ihr zu.

«Aber sie war abgelaufen! Und ich weiß, dass ich sie nicht wieder aufgezogen habe», sagte Kat voller Überzeugung.

«Bist du sicher, dass sie ganz abgelaufen war?»

«Sie ist von allein stehengeblieben.»

Kat ging durchs Zimmer und betrachtete die Spieldose, ohne sie zu berühren. Von O.C. für C.L. Die Maserung des Holzes hielt ihren Blick gefangen. Hinter ihr sagte Oliver plötzlich: «Ach, verdammt.»

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