| 22 | 𝓓𝓲𝓮 𝓑𝓲𝓫𝓵𝓲𝓸𝓽𝓱𝓮𝓴

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Kat hatte die Tür erreicht. Sie hoffte, dass Granny recht hatte. Eine weitere Runde mit Beschuldigungen und Wutausbrüchen würde sie nicht überstehen. Ihre Hand zitterte, als sie gegen die Tür klopfte. Ihr Puls raste schon wieder. Mit angehaltenem Atem wartete sie. Nichts geschah. Langsam öffnete sie die Tür und steckte vorsichtig den Kopf durch den Spalt.

»Oliver, sind Sie da drin?«

Wieder keine Antwort. Na prima, das fing ja schon gut an. Kat stieß die Tür auf und trat in den Raum. Es war die Bibliothek oder besser gesagt das, was noch davon übrig war. Dunkle Holzregale reichten an drei Wänden vom Boden bis zur Decke. Auf halber Höhe gab es eine schmale Galerie, die um den ganzen Raum lief und durch eine Wendeltreppe zu erreichen war. Auf beiden Ebenen gab es eine Leiter mit Rollen, die an einer Schiene unter der Galerie und der Decke befestigt war, um an die höher gelegenen Bücher heranzukommen. An der linken Wand befand sich ein offener Kamin mit zwei gemütlichen Ohrensesseln davor. Direkt gegenüber von der Tür öffnete sich ein breiter Durchgang. Dahinter konnte Kat einen riesigen Wintergarten voller Blumen und Pflanzen erkennen.

Kat sah sich um. Die Bücher, die sich in Reichweite der Einbrecher befunden hatten, waren achtlos aus dem Regal gezerrt worden. Sie lagen quer verstreut im ganzen Raum auf dem Boden. Sie konnte Oliver nirgendwo entdecken. Vielleicht war er im Wintergarten und hatte sie deshalb nicht gehört. Einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen arbeitete sich Kat vorwärts. Sie wollte auf keines der Bücher treten. Bestimmt handelte es sich um wertvolle Originalausgaben und seltene Sonderauflagen.

Erst als sie schon fast den Durchgang zum Wintergarten erreicht hatte, hörte sie ein leises Schluchzen. Erschrocken fuhr sie herum. Im Halbdunkel des Sonnenlichts, das durch die großen Glasfenster vom Garten in die Bibliothek schien, konnte sie eine zusammengekauerte Gestalt neben der Tür erkennen. Er lehnte gegen das Regal, die Beine angezogen. Seine Unterarme ruhten auf den Knien und er hatte den Kopf zwischen den Armen verborgen, als wolle er sich möglichst klein und unsichtbar machen.

Kat schob die heruntergefallenen Bücher zur Seite und setzte sich vor ihn auf den Boden.

»Oliver?«, flüsterte sie.

»Gehen Sie weg«, hörte sie seine Stimme gedämpft.

»Nein, ich werde nicht gehen«, sagte sie bestimmt. »Ich werde mich keinen Zentimeter bewegen. Ich bleibe genau hier. Wenn Sie reden wollen, dann reden wir. Wenn nicht, dann sitzen wir hier zusammen, bis es vorbei ist. Okay?« Sie streckte die Hand aus und berührte ihn sanft am Arm. Seine Haut war kühl, die Sehnen darunter hart und verkrampft.

»Ich kann das nicht«, murmelte er, den Kopf noch immer zwischen den Armen verborgen. »Ich kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen.«

»Das müssen Sie auch nicht. Keiner verlangt das von Ihnen.«

Sie rutschte über den Boden neben ihn und lehnte sich gegen das Regal. Ihre Schultern und Oberschenkel berührten sich. Erneut spürte sie seine Wärme durch die Kleidung. Sie hatte nicht gewusst, wie gut es sich anfühlen konnte, mit einem Mann auf dem Boden zu sitzen.

»Ich erinnere mich nicht mehr an ihre Stimme ... Ich fange an, sie zu vergessen ...« Er hob langsam den Kopf. Seine Wangen waren feucht, seine Augen gerötet. Oh Gott. Er hatte geweint. Seine Verzweiflung brach ihr das Herz.

»Erzählen Sie mir von ihr. Alles, woran Sie sich erinnern. Ich bin mir sicher, dass es noch ein ganze Menge ist.«

Er schüttelte den Kopf, fuhr sich durch die Haare. Sein Gesicht war noch immer kreidebleich. »Es waren eine Million Kleinigkeiten, die sie ausgemacht haben«, sagte er. Seine Stimme war so voller Liebe, dass Kat sich unwillkürlich fragte, ob ein Mann sie jemals so sehr lieben würde. »Sie hat jeden Raum wie die Sonne durchflutet, sie hat immer diesen kleinen Jubelschrei von sich gegeben, wenn sie eine besonders schwere Passage fehlerfrei gespielt hatte. Sie liebte Bücher und Hunde. Sie war der ehrlichste und offenherzigste Mensch, den ich kenne. Sie liebte es, bei Regen in die Badewanne zu steigen und dem Prasseln der Regentropfen auf dem Glasdach zuzuhören. Sie war schrecklich kitzlig und sie bekam immer diesen lustigen Schluckauf, wenn sie Rotwein getrunken hatte. Sie roch nach Maiglöckchen und Sonne und Tinte. Ihre Haut war weich und warm und sie hatte dieses Muttermal über ihrem Bauchnabel, das aussah wie ein kleines Herz und wenn wir uns geliebt haben, dann schien es zu pochen.«

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