| 74 | 𝓓𝓲𝓮 𝓦𝓪𝓱𝓻𝓱𝓮𝓲𝓽

58 16 41
                                    

Das Öffnen des Gartentors war wie immer das Signal für sie, die Abwehr zu verstärken, ehe sie sich dem unter den Bäumen wartenden Haus aussetzte. Der Plattenweg war noch immer glitschig, von den schweren Eichenblättern triefte Regen auf ihr Haar. Die Vordertür klemmte, von der Feuchtigkeit aufgequollen. Plötzlich gab sie nach, schwang mit einem kalten Luftschwall auf, als täte das Haus einen Atemzug. Als Kat sie hinter sich schloss, wurde das Plätschern des Regens schlagartig leiser, und sie stand im grauen Licht der Diele. Der Regen war das einzige Geräusch, ein leises Rauschen von allen Seiten.

Das Gespräch mit ihrer Großmutter letzte Nacht hatte ihr die Augen geöffnet. Granny hatte ihr zurecht die Meinung gesagt. Es stand ihr nicht zu, über Oliver zu urteilen, bevor sie nicht alle Einzelheiten kannte. Denn im Grunde hatte er nicht sie betrogen, sondern seine tote Frau. Aber plötzlich hatte sie so schreckliche Angst bekommen, ihn zu verlieren. Wenn es so leicht für Claire gewesen war, ihn zu verlieren, obwohl er sie abgöttisch geliebt und geheiratet hatte, sogar ein Kind mit ihr wollte, wie einfach würde es ihm dann bei ihr fallen, sie zu hintergehen? Sie bedeutete ihm nicht so viel wie Claire, konnte es auch gar nicht, in der kurzen Zeit, die sie sich kannten.

Inzwischen hatte sie sich wieder so weit beruhigt, dass sie hoffentlich vernünftig mit ihm reden konnte. Auch in dieser Hinsicht hatte Granny recht gehabt. Sie war so hysterisch gewesen, dass sie Ben plötzlich mehr geglaubt hatte als Oliver. Das konnte nicht sein.

«Oliver? Bist du hier?», rief sie in die Stille hinein. Vielleicht war er im Arbeitszimmer. «Ich bin's, Kat. Können wir reden?»

Aber das einzige Geräusch war das Rauschen des Regens. Oliver war nicht hier. Kat wollte auf ihn warten. Sie hatte sich in der Arbeit krank gemeldet und Marcus eine Nachricht geschickt, mit der Bitte, seinen Freund auf die restlichen Dateien anzusetzen. Sie mussten unbedingt herausfinden, was Ben vorhatte. In der Zwischenzeit würde sie die Zeit nutzen und nach weiteren Hinweisen im Haus suchen. Irgendwo hier musste es doch noch alte Briefe oder Fotos geben. Etwas, das ihr einen Beweis für Bens Absichten lieferte, so wie das Foto von dem Unfallauto. Selbst ein Geisterecho könnte sie hinnehmen, wenn es ihr den entscheidenden Hinweis lieferte. Am besten fing sie dort an, wo sie auch das andere Foto gefunden hatte. Auf dem Speicher.

Sie holte Luft und stieg die Treppe hinauf, kam nicht gegen den Impuls an, auf Zehenspitzen zu gehen. Oben wandte sie sich nach rechts, um nicht an dem Arbeitszimmer und dem Schlafzimmer vorbeigehen zu müssen. Wäschekammer, Bad, Gästezimmer – sie eilte an den Türen vorbei. Ihr blieb vermutlich nicht viel Zeit.

Auf dem Speicher war der Regen ein dumpfes Trommeln. Durch die fächerförmigen Fenster sah sie triefende Baumwipfel vor einem schweren Himmel. Sie knipste die Birne an, die von einem der Dachbalken hing, und begann die Papiere zu sichten, die stapelweise in ein paar Kartons aufgeschichtet waren. Offenbar gab es zwei Kategorien, Geschäftliches und Privates, und die privaten Papiere waren die, die sie interessierten. In dem harten Licht machte sie sich ans Werk.

Briefe, Zeitungsausschnitte, eine Taschenausgabe des Neuen Testaments, Notenblätter. Und nicht nur Papiere, da waren auch Babylätzchen, bestickt mit kleinen Häschen, und ein Fotoumschlag mit Negativen. Der Regen prasselte an die Scheiben. Ihr wurde plötzlich bewusst, wie wenig Zeit sie hatte. Sie griff nach einem Stapel und blätterte ihn rasch durch. Manches konnte sie auf den ersten Blick ausmustern: drei Muscheln, auf einen Zettel skizziert, ein Bild von Chopin, sorgsam aus einer Zeitung ausgeschnitten – erstaunlich, was die Leute aufhoben. Sie war mit dem ersten Stapel fertig, wählte einen zweiten, überflog Briefe und Zeitungsausschnitte auf irgendwelche Namen, zu schnell, um mehr daraus zu ziehen, als das vage, pastellfarben getönte Bild einer anderen, besseren Zeit. Claire hatte bei einer von Mrs. Bristowes musikalischen Soireen «Claire du lune» gespielt ...»Hier ist es morgens eiskalt, und mittags wird es sehr heiß» ... «Damit dürfte der nächste Montag ausgefüllt sein» ... «Es gab ein Feuerwerk im Ort, aber von unserem Standort aus konnten wir es nicht sehen» ... «Wir hörten gestern Abend ein paar musikalische Darbietungen, und ich musste an dich denken ...»

Mondscheinsonate ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt