| 12 | 𝓖𝓮𝓫𝓻𝓸𝓬𝓱𝓮𝓷𝓮 𝓢𝓮𝓮𝓵𝓮𝓷

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Mit verschleiertem Blick und tropfender Nase rannte Kat die ganze Strecke zurück zum Lafayette Friedhof, wo ihr Fahrrad noch immer am Zaun angekettet war. Inzwischen war es ihr egal, ob man ihr Fahrrad überwacht hatte und nur darauf wartete, dass sie zurückkehrte. Aber es stürzte sich niemand auf sie oder schoss auf sie, als sie das Schloss aufsperrte. So schnell sie konnte, schwang sie sich in den Sattel und raste die Straße hinunter. Sie wollte nur noch weg. Weg von diesem Friedhof. Weg von Claire. Weg von Oliver. Warum hatte sie sich auch eingemischt? Sie hatte mit dieser ganzen Geistergeschichte nichts zu tun haben wollen. Und ihre Großmutter war schuld. Wenn sie ihr nicht diesen Quatsch mit den verlorenen Seelen und den unvollendeten Aufgaben erzählt hätte, würde Kat jetzt mit ihren Freundinnen im Cafe sitzen und Eiskaffee trinken. Und niemand hätte sie angeschrien, aus seinem Haus geschmissen und ihr Herz gestohlen.

Kat ließ ihren gesamten Frust an den Pedalen aus. Heute hatte sie ganz sicher den Rekord gebrochen. Nach fünfzehn Minuten, in denen sie wie eine Wahnsinnige gefahren war, schob sie ihr Rad durch den Vorgarten, stellte es an den Zaun und stürmte ins Haus. Ihre Großmutter saß im Wohnzimmer und las ein Buch. Als Kat an ihr vorbei die Treppe hinauf direkt in ihr Zimmer rannte, legte sie das Buch zur Seite und sah ihr verständnislos hinterher.

»Hey, wo bist du solange gewesen?«, rief sie ihr nach. »Hast du nicht gesagt, du wolltest bis Mittag wieder hier sein. Ich hab auf dich gewartet. Das Essen ist jetzt kalt.«

Kats einzige Antwort war ihre Zimmertür, die ins Schloss fiel. Sie wollte jetzt nicht mit ihrer Großmutter reden. Sie wollte einfach allein sein. Granny würde ihr nur vorwerfen, dass sie wieder mal mit dem Kopf durch die Wand wollte. Dabei war es nicht mal ihre Schuld. Claire hatte sie dazu überredet. Vielleicht hätte er ihrem Vorschlag nie zugestimmt, aber er würde sie wenigstens nicht hassen.

»Kat?« Es klopfte leise an der Tür. »Schätzchen, was ist denn los?« Die Stimme ihrer Großmutter klang besorgt. »Willst du darüber reden?« Die Tür öffnete sich einen Spalt und Granny steckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer. »Ist was passiert?«

Kat fiel mit einem lauten Stöhnen aufs Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. »Ich hab Mist gebaut, das ist passiert.« Granny entschied, dass ihre Enkelin ihr wohl nicht den Kopf abbeißen würde, betrat das Zimmer und setzte sich an den Bettrand. »Du bist ja ganz aufgelöst.« Sie drückte ihre Hand. Und bevor Kat überhaupt wusste, was sie tat, sprudelte alles aus ihr heraus. Sie erzählte ihrer Großmutter, wie Oliver sie auf dem Friedhof überrascht hatte, von den Schüssen, von den gemeinsamen Stunden in Olivers Haus. Granny hörte sich alles aufmerksam an, erst bei der Stelle, an der Oliver verwundet wurde und sie nur knapp ihren Angreifern entkommen waren, keuchte sie erschrocken auf. Kat musste ihr mehrfach versichern, dass es ihr gut ging, bevor sie fortfahren konnte. Sie wusste, dass ihre Großmutter sie nicht verurteilen würde, trotzdem fiel es ihr schwer, wiederzugeben, was nach dem Pizzaessen passiert war.

»Er hat dir nicht geglaubt«, sagte Granny, noch bevor Kat zu der Stelle kam, an der er sie vor die Tür setzte. Ein trauriger Blick lag in ihren Augen, als sie Kats Arm streichelte.

»Nein«, seufzte sie. »Er wurde richtig wütend und hat mich raus geworfen.« Sie schnappte sich ihr Kissen und drückte es fest gegen ihre Brust.

»Na, was hast du denn erwartet, wenn du bei einer solchen Geschichte mit der Tür ins Haus fällst?«

Kat zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich dachte, er wäre froh, noch immer eine Verbindung zu Claire zu haben. Als wir die Pizza gegessen haben, war er so gelöst und hat sogar gelacht. Ich wollte nicht, dass er wieder alleine und einsam in diesem Haus sitzt, wenn ich weg bin. Und Claire meinte ebenfalls, dass ich ihm gut tue und mehr Zeit mit ihm verbringen soll. Also habe ich ihm den Vorschlag gemacht, bei uns zu wohnen. Irgendwie habe ich Panik bekommen, weil er mich zurückgewiesen hat. Ich hab gespürt, dass es ein Fehler war, aber da war es schon zu spät. Es war Claires Idee. Sie meinte, ich solle es ihm sagen.«

Ihre Großmutter runzelte die Stirn. »Der Geist hat es dir geraten?«

Kat nickte.

»Hm, bist du sicher, dass sie nur helfen will?«, überlegte sie. »Ich meine, er war ihr Mann. Bestimmt hat sie gewusst, wie er auf so eine Geschichte reagieren würde. Was, wenn sie nicht wollte, dass du ihn mit zu dir nach Hause nimmst? Was, wenn sie nicht wollte, dass du ihm näher kommst? Du hast gesagt, in der Villa war ihre Anwesenheit am stärksten.«

»Ja, zumindest war ihre Stimme dort klar und deutlich. Gesehen habe ich nichts.«

»Vermutlich ist ihre Seele an ein Objekt im Haus gebunden. Das wäre nicht das erste Mal. Und dann ist es natürlich in ihrem Sinne, ihn in der Villa zu halten.«

War das möglich?, dachte Kat. Bisher hatte Claire ihr immer geholfen. Sie hatte den Eindruck gehabt, sie wäre dankbar, dass sich jemand um Oliver kümmerte. Stattdessen sollte sie eifersüchtig sein? Natürlich war es schwer, nur anhand der Stimme die Beweggründe herauszufinden, aber Kat konnte sich nicht vorstellen, dass Claire so durchtrieben war.

»Was hätte sie denn davon? Oliver kann sie nicht hören und sehen. Wenn sie mich von ihm fernhält, hat sie gar keine Möglichkeit mehr mit ihm zu kommunizieren. So wie sie ihn geliebt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ihm diese Einsamkeit antun will. Sie hat doch gesehen, was die Trauer mit ihm angerichtet hat. Er wollte sich umbringen. Nein, sie war froh, als es ihm besser ging.«

»Aber du weißt doch gar nichts über ihre Ehe. Du weißt nicht, ob sie glücklich waren. Manchmal wollen sich Geister einfach rächen ...«

»Nein. Nein, das hätte ich gespürt.«

»Warum ist sie dann noch hier? Wenn ihre unvollendete Aufgabe war, ihren Mann am Selbstmord zu hindern, dann wäre sie längst nicht mehr hier.«

»Das habe ich auch schon gedacht. Es muss etwas anderes sein, dass sie noch hier festhält.«

»Sei vorsichtig, Kat. Geister sind nur übrig gebliebene Splitter der Persönlichkeit. Sie sind nicht das Gleiche wie die Person zu Lebzeiten. Niemand weiß, welcher Teil zurückgeblieben ist. Claire kann zu Lebzeiten der liebenswürdigste Mensch gewesen sein. Das heißt nicht, dass es ihr Geist auch ist. Ein halbes Jahr in der Zwischenwelt ist eine lange Zeit. Ihre Seele könnte Schaden genommen haben. Die meisten Geister hadern mit ihrem Schicksal und werden verrückt, weil sie in dieser Welt gefangen, aber kein Teil mehr davon sind, und nicht weiterziehen können. Diese Ausweglosigkeit und Verzweiflung hinterlässt Spuren.«

»Und was soll ich jetzt machen?«, schniefte Kat.

Ihre Großmutter strich ihr tröstend übers Haar. »Erstmal gar nichts. Ich werde versuchen, mehr über dieses Haus in Erfahrung zu bringen. Ich erinnere mich an die Explosion in New York. Damals waren die Zeitungen voll davon. Es war eine Tragödie. Diese junge Frau, die so früh und so grausam aus dem Leben gerissen wurde. Die ganze Stadt hat mit den Calverts getrauert. Vielleicht gibt es eine Verbindung zur Geschichte der Villa. Das will ich herausfinden. In der Zwischenzeit solltest du dich vom Garden District und dem Lafayette Friedhof fernhalten. Und damit meine ich auch Oliver Calvert. Erst wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben, können wir eventuell nochmal auf ihn zukommen. Einverstanden?«

Kat nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Okay. Wenn du meinst.«

»Und ich möchte auch, dass du nicht mehr mit diesem Geist sprichst. Solange wir ihre Absichten nicht kennen, müssen wir sehr vorsichtig sein. Bei der Historic Society planen wir eine Intervention nie ohne eine vorherige, gründliche Recherche. Ich weiß, dass dir die Geschichte nahe geht und du helfen möchtest, aber versuch, es dir nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen. Du kennst diese Leute nicht. Du weißt nichts über ihre Vergangenheit und das kann gefährlich sein.« Granny drückte ihre Hand und lächelte.

»Du hast ja recht. Ich wollte von Anfang an nicht in die Sache reingezogen werden. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, wir sind verbunden. Vielleicht weil wir beide jemanden verloren haben, den wir noch immer lieben.«

Sie nickte. »Ich weiß. Irgendwann wird er es verstehen. Und bis dahin denk einfach etwas mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen, okay?« Sie stand auf und ließ Kat allein.

Wenn das so einfach wäre, dachte Kat. Ihr Herz war voller Mitleid und Verständnis und Zuneigung so angeschwollen, dass ihr Verstand gar keinen Platz mehr hatte.

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