| 83 | 𝓓𝓪𝓼 𝓝𝓪𝓬𝓱𝓼𝓹𝓲𝓮𝓵

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Das Klingelzeichen ertönte. Nach dem dritten Mal begann sie mitzuzählen. Vier. Auf der Empfängerseite war ihr nie aufgefallen, wie lang die Abstände zwischen den Klingeltönen waren.

Fünf. Nur eine leichte Gehirnerschütterung, hatte der Arzt gesagt. Aber Kopfverletzungen waren gefährlich. Sie hätte dableiben müssen, um auf verdächtige Symptome zu achten. Benommenheit. Übelkeit.

Sechs. Die Gedanken erstarrten zu einem kalten, harten Klumpen in ihrem Inneren.

Mitten in das siebte Klingeln hinein sagte seine Stimme: «Hallo?»

«Oliver.» Es kam seltsam heraus, sie merkte, dass sie den Atem angehalten hatte.

«Kat. Wo bist du?»

«Ich bin bei Marcus.»

Schweigen, dann sagte er: «Kommst du wieder zurück?»

Sie sah sich in seinem Wohnheimzimmer um. Er hatte ihr die Schlüssel gegeben, nachdem es ihm nicht gelungen war, sie zu überreden, zu einem gemütlichen Familienabendessen bei seiner Familie in Baton Rouge mitzukommen. Das Zimmer war klein und schäbig im Vergleich zu der Villa. An der einen Wand war ein Poster, ein enorm vergrößertes Foto von einer weißen Ratte, die genau in die Kamera guckte. Die feuchtrosa Nase war so groß wie Kats Faust. «Ich weiß nicht», sagte sie. Sie wollte, er hätte es nicht so formuliert. Sie wollte, er hätte gesagt: «Wann kommst du wieder?» Oder: «Was zum Teufel machst du bei Marcus?» Dann hätte sie sich schrittweise vortasten können, und ihre uneindeutigen Antworten hätten nach und nach zum Kern der Sache geführt. So hingegen schien es ein plötzlicher, unwiderruflicher Sprung ins Nichts. Sie wandte den Blick von der Rattennase ab. Oliver sagte: «Kat?»

«Ich bin hier.»

«Ich weiß, du hast absolut keine Veranlassung, mir zu trauen. Aber ich muss dir was sagen. Die Luft ist rein.»

«Was?», fragte sie verständnislos.

«Sie ist weg.»

«Weg?»

«Ja. Bei der Séance muss irgendwas passiert sein. Sie hat wohl irgendeine Energie freigesetzt oder so was.»

«Wie kommst du darauf?», fragte sie. «Woher ...»

«Man spürt es. Beziehungsweise spürt eben nichts. Es ist einfach nicht mehr da.»

«Hast du ... irgendwas gemacht?»

«Du meinst, einen magischen Kreis gezogen und Heb dich von hinnen, Geist gesagt? Nein. Es war die Séance.»

Sie saß da, das Handy am Ohr, und wusste nicht, was sie fühlte. «Aber Oliver ...»

«Hör zu.» Er war ganz aufgeregt. «Bei dieser Séance gestern Nacht muss ein Haufen Energie freigesetzt worden sein. Weißt du, warum das Licht ausgegangen ist? Ich habe den Sicherungskasten überprüft. Es hat alle Sicherungen im ganzen Haus rausgehauen. Und nicht nur das, der Bilderrahmen ist mitten durchs Fenster katapultiert worden. Hat die Scheibe zerschmettert. Ich habe das Ding im Gebüsch gefunden. Ist ganz schön weit gesaust», sie hörte Papiergeraschel, «acht Meter einundfünfzig.»

Kat lachte auf; die schiere Erleichterung – er klang wieder ganz und gar wie er selbst. «Der Bilderrahmen?»

«Du weißt doch, der zerbrochene, eiskalte Bilderrahmen mit dem Hochzeitsfoto.» Schweigepause, als würde ihm die Bedeutung dieser Worte erst jetzt klar, als er sie aussprach. Sie fühlte die Stille in sich widerhallen, eine Art Leerraum vor dem Begreifen. Dann sagte Oliver mit einem langen, tiefen Ausatmen: «Und die Spieluhr taucht plötzlich wieder auf ...» Sie hörte einen dumpfen Schlag: Er hatte auf irgendetwas eingeschlagen, vermutlich auf die Wand. «Was hat das zu bedeuten?»

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