| 35 | 𝓓𝓮𝓻 𝓕𝓵ü𝓰𝓮𝓵

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Sobald sich ihre Nerven wieder beruhigt hatten, holte Kat die Sporttasche aus dem begehbaren Kleiderschrank, wobei sie einen großen Bogen um das rote Kleid am Boden machte. Auf dem Flur fiel ihr ein, dass sie noch einen Abstecher ins Badezimmer unternehmen musste, wenn sie nicht wollte, dass Oliver ihr Duschgel, Shampoo und ihre Einmalrasierer benutzte. Nach dem Erlebnis im Schlafzimmer achtete sie penibel darauf, nur seine Sachen anzufassen und nichts zu berühren, was Claire gehört haben könnte. Rasierschaum, Rasierer, Zahnbürste ... Kat war der Ansicht, dass sie an alles gedacht hatte. Zufrieden zog sie den Reißverschluss der Tasche zu.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch auf dem Flur. Sofort richteten sich ihre Nackenhaare auf. Sie packte die Tasche fester und trat aus dem Badezimmer. Als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, hörte sie es erneut. Diesmal lauter. Etwas war auf den Boden gefallen. Das Geräusch war aus dem Zimmer zu ihrer Rechten gekommen. Die Tür stand weit offen. Kat konnte einen großen Schreibtisch, Aktenschränke und einen Monitor erkennen. Das musste Olivers Arbeitszimmer sein. Der Raum mit dem Bilderrahmen. Kat blickte zwischen dem Zimmer und der Treppe hin und her. Ob der Bilderrahmen noch da war? Sollte sie ihn mitnehmen, damit sie ihn genauer untersuchen konnten? Was, wenn Claire daran gebunden war und versucht hatte, ihnen auf diesem Weg eine Nachricht zu schicken?

Kat schüttelte über sich selbst den Kopf. Du bist wirklich verrückt geworden, dachte sie. Als ob eine Gruselerfahrung am Tag nicht genug wäre! Auf Zehenspitzen schlich sie in das Arbeitszimmer. Hier herrschte noch völliges Chaos, weil Oliver mitten in der Aufräumarbeit mit ihrer Großmutter die Flucht ergriffen hatte. Seitdem hatte hier niemand mehr etwas angerührt. Ein Schritt weiter und sie spürte es auch. Der Raum war deutlich kühler als die anderen. Fast schon kalt. Genau wie Granny gesagt hatte. Auf dem Boden neben dem Schreibtisch entdeckte sie den Bilderrahmen. Er lag mit dem Foto nach unten neben einem Stuhlbein. Kat nahm einen Stift vom Schreibtisch, ging in die Knie und schubste den Rahmen mit dem Stift an. Nichts geschah. Als Nächstes tippte sie ihn mit der Fingerspitze an. Er war eiskalt. Das Silber war angelaufen und am Rand hatte sich Reif gebildet. Alles, was ihre Großmutter erzählt hatte, stimmte.

«Claire? Sind Sie hier?», rief sie in die Stille. «Können Sie mich hören? Bitte reden Sie mit mir. Ich möchte Ihnen wirklich helfen.»

Kat klemmte sich ein Stück Papier zwischen die Finger und drehte das Bild herum. Das Glas war zersplittert, trotzdem konnte sie erkennen, dass es sich um ein Hochzeitsfoto handelte. Oliver hatte es bestimmt auf seinem Schreibtisch stehen gehabt. Wie glücklich und verliebt die beiden aussehen, wirklich ein perfektes Paar. Beim Anblick des Fotos kam die Erinnerung an ihre unheimliche Begegnung im Schlafzimmer wieder hoch und Kat richtete sich hastig auf. Sie stellte den Bilderrahmen zurück auf den Schreibtisch, wo er hingehörte. Oliver musste nur das Glas ersetzen, dann wäre er wie neu. Scheinbar war Claire nicht hier, denn außer der Kälte bemerkte sie nichts Ungewöhnliches.

«Claire?», fragte sie noch einmal, bevor sie sich abwandte. Im Türrahmen hörte sie wieder das dumpfe Geräusch. Überrascht warf sie einen Blick über ihre Schulter. Sie sah sofort, dass der Bilderrahmen nicht mehr auf den Schreibtisch stand, sondern wieder am Boden lag. So wie sie ihn vorgefunden hatte, mit dem Foto nach unten. Als könne jemand den Anblick nicht ertragen.

«Claire, wenn Sie das sind, dann reden Sie mit mir. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Wieso sagen Sie es mir nicht?»

Doch sie bekam erneut keine Antwort. Kat seufzte. Sie hatte jetzt endgültig genug von diesem Haus. Obwohl es wunderschön war, bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie hier war. Wenn sie wüsste, dass es wirklich Claire war, die hier herumspukte, dann hätte sie nicht so eine Scheißangst. Herrje, als Geisterjäger war sie echt eine totale Niete.

Kat schnappte sich die Tasche, stürmte die Treppe hinunter und wollte nur noch weg. Sie packte den Türknauf, aber er ließ sich nicht drehen. Kat stellte die Tasche ab. Mit beiden Händen rüttelte sie an dem Griff, zog und zerrte. Die Tür ging nicht auf. Das konnte doch nicht wahr sein! Erst stand sie weit offen für sie und jetzt kam sie nicht mehr raus. Verzweifelt stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Türrahmen und zog an.

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