| 70 | 𝓙𝓾𝓷𝓲

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05. Juni 2018

Der Nieselregen wurde stärker, als Oliver zu Claires Mausoleum kam. Als er zwischen den Gräbern hindurch ging, dachte er daran, wie Robert «Hast du schon deinen Besuch gemacht?», gefragt hatte, als gehörte er jetzt schon zum offiziellen Tagesplan des Friedhofs. Vielleicht war es ja so. Er dachte daran, wie alle seinem Kummer einen Platz eingeräumt hatten, als wäre er ein Gegenstand. Im normalen Leben schreckten die Menschen davor zurück, aber auf dem Friedhof waren alle an die Nähe der Hinterbliebenen gewöhnt und deshalb gingen sie mit dem Tod auf eine schlichte Art um, die Oliver bisher nie bemerkt hatte.

Er spannte schwungvoll seinen Schirm auf und setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf die Stufen. Oliver lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Die Steinstufe, auf der er saß, war kalt und niedrig, seine Knie reichten fast bis zu den Schultern. Hallo, Liebling, sagte er, kam sich aber wie immer albern vor, laut mit einem Mausoleum zu sprechen. Stumm fuhr er fort: Hallo. Ich bin da. Wo bist du? Er stellte sich vor, dass Claire wie eine Heilige in ihrer Klause im Inneren des Mausoleums saß und lächelnd durch das Gitter in der Tür zu ihm heraussah. Claire?

Sie hatte immer unruhig geschlafen, sich ständig hin und her gewälzt, oft sogar sämtliche Decken geklaut. Wenn sie allein schlief, streckte sie alle viere von sich, als wollte sie ihr Territorium mit Armen und Beinen abstecken und nicht mit einer Flagge. Wenn sie bei Oliver schlief, wurde er oft von einem verirrten Ellenbogen oder Knie geweckt, oder von ihrem um sich schlagenden Beinen, als würde sie im Bett rennen. «Irgendwann brichst du mir nachts mal die Nase», hatte er zu ihr gesagt, und sie gab zu, eine gefährliche Bettgenossin zu sein. «Ich entschuldige mich schon im Voraus für jeden durch mich entstandenen Schaden», hatte sie zu ihm gesagt und die betreffende Nase geküsst. «Aber es steht dir bestimmt gut und verleiht dir eine gewisse gangsterartige Aura.»

Jetzt war da nur Stille. Die Tür war eine Barriere, die er hätte überwinden können – außer dem Schlüssel im Friedhofsbüro lag ein weiterer in seinem Schreibtisch. Claires Leichnam ruhte, nur wenige Meter von ihm entfernt, in einer Kiste. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was drei Monate aus ihm gemacht hatten. Wieder war Oliver von der Endgültigkeit des Ganzen erschüttert, die sich ihm als geballte Stille in dem kleinen Raum hinter seinem Rücken bot. Ich muss dir so viel erzählen. Hörst du mir zu? Zu Claires Lebzeiten hatte er nie begriffen, dass etwas erst wirklich passiert war, wenn er ihr davon erzählte.

Roche hat gestern den Brief an Daphne und Iris geschickt. Oliver stellte sich vor, wie der Brief von Roches Büro nach Cornwell unterwegs war, wie er in den Briefkasten in der Pembridge Road 99 fiel, wie er von Iris aufgehoben wurde. Ein dicker, cremefarbener Umschlag mit dem Absender Roche, Elderige, Potts & Lefley, Anwälte, in schwarz glänzenden Prägelettern, und die Namen und Adressen der Schwester geschrieben in der krakeligen Schrift von Roches uralter Sekretärin Constance. Oliver stellte sich vor, wie eine der Schwestern den Umschlag hielt, ihre Neugier.

«Ich kann alles dir vererben», hatte sie gesagt. «Oder aber meinen Geschwistern.» Sie war in einer melancholischen, düsteren Stimmung, völlig ungewöhnlich für seine Frau.

«Gib es deinen Geschwistern», hatte er erwidert. «Ich besitze mehr als genug.»

«Hmm. Na schön. Aber was kann ich dir hinterlassen?»

Sie saßen auf ihrem Ehebett. Claire hatte Fieber, es war während einer heftigen Grippe, die sie zum vorzeitigen Abbruch ihrer Tournee gezwungen hatte. Ihr Abendessen stand unberührt auf dem Nachttisch. Er massierte ihr die Füße, seine Hände waren glitschig vom warmen, duftenden Öl. «Ich weiß nicht. Könntest du es so einrichten, dass du wiedergeboren wirst?»

«Meine Schwestern sind mir angeblich ziemlich ähnlich». Claire lächelte. «Wenn sie möchten, lass ich sie herkommen und in die Villa ziehen. Soll ich dir meine Schwestern vermachen?»

Oliver erwiderte ihr Lächeln. «Das könnte nach hinten losgehen. Und ziemlich – schmerzlich werden.»

«Das weiß man erst, wenn man es ausprobiert. Aber ich möchte dir etwas schenken.»

«Eine Haarlocke?»

«Oh, aber mein Haar ist doch nicht so schön», sagte sie und befingerte ihre dunklen Strähnen.

Oliver schüttelte den Kopf. «Ist nicht so wichtig. Ich möchte nur irgendwas von dir haben.»

«Wie es im viktorianischen Zeitalter üblich war? Dann könntest du Ohrringe oder eine Brosche oder sonst was draus machen.» Sie lachte. «Du könntest mich klonen.»

Er tat so, als würde er darüber nachdenken.

«Ich glaube nicht, dass sie schon alle Probleme beim Klonen gelöst haben. Du wärst dann vielleicht krankhaft fettleibig, hättest Schwimmflossen statt Arme und Beine oder was weiß ich. Außerdem müsste ich warten, bis du erwachsen bist, und bis dahin wäre ich Rentner und du würdest nichts mit mir zu tun haben wollen.»

Oliver legte ihren Fuß behutsam auf ein Handtuch, wischte sich die Hände ab und setzte sich wieder in die Rundung der Decke neben ihrer Taille. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Kissen ab, direkt neben ihrem Kopf, und beugte sich über sie. Claire legte ihre Hand an seine Wange. Ihm war, als würde er mit Schleifpapier berührt, ihre Haut tat ihm beinahe weh. Er wandte den Kopf und küsste ihre Hand. All diese Dinge hatten sie viele Male gemacht.

«Ich schenke dir meine Notenbücher», sagte Claire leise. «Dann kennst du alle meine Geheimnisse.»

Später wurde ihm klar, dass sie das schon eine ganze Zeit geplant hatte. Aber damals sagte er nur: «Erzähl mir doch jetzt deine vielen Geheimnisse. Oder sind sie so schlimm?»

«Grauenhaft. Aber es sind uralte Geheimnisse. Seit ich dich kenne, führe ich ein keusches, unbescholtenes Leben.»

«Keusch?»

«Na ja, zumindest monogam.»

«Schon besser.» Er küsste sie kurz. Ihr Fieber war gestiegen. «Du solltest jetzt schlafen.»

«Massierst du mir noch ein bisschen die Füße?» Sie war wie ein Kind, das um seine liebste Gutenachtgeschichte bat. Er setzte sich wieder zu ihren Füßen, gab etwas Öl auf die Hände und wärmte es durch Verreiben zwischen den Flächen.

Claire seufzte und schloss die Augen. «Einfach herrlich.» Dann war sie eingeschlafen, und er hatte dagesessen und nachdenklich ihre glitschigen Füße gehalten.

Oliver öffnete die Augen. Er überlegte kurz, ob er eingeschlafen war. Die Erinnerung war so lebhaft gewesen. Wo bist du, Claire? Vielleicht lebst du jetzt nur noch in meinem Kopf. Oliver starrte zu den Grabsteinen auf der anderen Wegseite, die sich gefährlich neigten. Bei einem wuchsen zu beiden Seiten Bäume, die das Grabmal leicht aus dem Fundament gehoben hatten, so dass es ein paar Zentimeter in der Luft schwebte. Das Tageslicht schwand allmählich. Oliver war durchnässt und fror. Er richtete sich auf.

«Gute Nacht, Claire.» Noch während er es sagte, kam er sich albern vor. Er stand auf, ging langsam zurück in das leere Haus und fühlte sich wie in seiner Jugendzeit, als er gemerkt hatte, dass er nicht mehr beten konnte. Wo immer Claire sein mochte, hier war sie nicht.

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