| 6 | 𝓓𝓲𝓮 𝓖𝓮𝓼𝓬𝓱𝓲𝓬𝓱𝓽𝓮 𝓿𝓸𝓷 𝓲𝓱𝓻𝓮𝓶 𝓖𝓮𝓲𝓼𝓽

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03. April 2018

Claire Laurent war nun seit fast einem Monat tot und versuchte immer noch, die Regeln zu verstehen.

Zuerst war sie nur in ihrem Haus herumgeschwebt. Sie hatte wenig Energie und verbrachte viel Zeit mit dem Betrachten ihrer früheren Habseligkeiten. Oft döste sie ein und wachte Stunden, vielleicht Tage später wieder auf – sie wusste es nicht und es spielte auch keine Rolle. Sie war gestaltlos und verbrachte ganze Nachmittage damit, von einem Sonnenfleck am Boden zum nächsten zu gleiten, bis jedes Partikelchen von ihr erhitzt war und sie aufstieg und fiel, warm wurde und abkühlte, als wäre sie Luft.

Eines Morgens sah sie ihre Füße. Sie waren kaum vorhanden, aber Claire erkannte sie und empfand große Freude. Hände, Beine, Arme, Brüste, Hüfte und Rumpf folgten, und zum Schluss spürte Claire ihren Kopf und Hals. Es war der Körper, in dem sie gestorben war, aber sie war lange Zeit so glücklich darüber, ihn zu sehen, dass es ihr nichts ausmachte. Mit der Zeit wurde sie undurchsichtig – das heißt, sie selbst konnte sich immer besser sehen, für Oliver hingegen war sie nahezu unsichtbar.

Am Anfang verbrachte er viel Zeit in ihrem Haus, wickelte ihre Geschäfte ab, wanderte umher und berührte Sachen, legte sich mit einem ihrer Kleidungsstücke eingerollt aufs Bett. Sie machte sich Sorgen um ihn. Er wirkte dünn, krank und deprimiert. Ich möchte das nicht sehen, dachte sie. Sie schwankte zwischen der Entscheidung, ihm ihre Anwesenheit bewusst zu machen oder ihn allein zu lassen. Wenn er weiß, dass du hier bist, kommt er nicht darüber hinweg, redete sie sich ein.

Er kommt ohnehin nicht darüber hinweg.

Manchmal berührte sie ihn, und auf ihn schien ein kalter Luftzug zu wirken. Sie konnte sehen, wie er eine Gänsehaut bekam, wenn sie ihn mit der Hand streichelte. Für sie fühlte er sich warm an. Mittlerweile spürte sie nur noch warm und kalt. Rau und glatt, weich und hart – solche Empfindungen waren ihr verlorengegangen. Sie hatte keinen Geschmacks- und Geruchssinn mehr. Claire wurde von Musik verfolgt. In ihrem Kopf liefen plötzlich Stücke, die sie geliebt, gehasst oder kaum wahrgenommen hatte, es war ihr nicht möglich, sie wieder loszuwerden. Wie ein Radio, das leise in einer benachbarten Wohnung lief.

Claire schloss gern die Augen und streichelte ihr Gesicht. Unter ihren eigenen Händen konnte sie sich spüren, auch wenn der Rest der Welt durch sie hindurchglitt, als würde sie zwischen einer Leinwand und einem Filmprojektor gehen. Auf tägliche Rituale wie Waschen, Anziehen und Schminken konnte sie jetzt verzichten, denn sie brauchte nur an ihr liebstes Kleid oder ihren liebsten Pullover zu denken, und schon hatte sie es an.

Claire reflektierte sich nicht mehr in Spiegeln. Das machte sie wahnsinnig, denn sie fühlte sich ohnehin schon an den Rand gedrängt, und das eigene Gesicht nicht mehr sehen zu können, machte sie einsam. Manchmal stand sie im Flur und schaute konzentriert in die verschiedenen Spiegel, erhaschte aber nichts weiter als eine dunkle, schemenhafte Andeutung, als hätte jemand mit Kohlestift in die Luft gemalt und es dann unvollständig ausradiert. Wenn sie die Arme ausstreckte, sah sie ihre Hände ganz deutlich vor sich. Wenn sie sich vorbeugte, sah sie ihre Füße. Doch ihr Gesicht suchte sie vergeblich.

Ihr Dasein als Geist zwang sie dazu, sich von der Welt zu nähren. Sie besaß nichts mehr. Sie musste ihre Freude aus den Handlungen anderer beziehen, aus deren Fähigkeit, Gegenstände zu bewegen, zu essen, zu atmen.

Claire hätte unheimlich gern Krach gemacht. Aber Oliver konnte sie nicht hören, selbst wenn sie nur wenige Zentimeter vor ihm stand und schrie. Sie folgerte daraus, dass sie nichts mehr hatte, um Töne zu erzeugen – ihre ätherischen Stimmbänder waren der Aufgabe nicht gewachsen. Also konzentrierte sie sich auf das Verrücken von Dingen.

Anfangs reagierten die Gegenstände überhaupt nicht. Claire nahm ihre geballte Substanz und Wut zusammen und warf sich auf ein Sofakissen oder ein Buch: Nichts passierte. Sie versuchte, Türen zu öffnen, Teetassen zu rütteln, Uhren anzuhalten. Die Ergebnisse waren nicht wahrnehmbar. Sie beschloss, eine neue Strategie anzuwenden, und zielte auf kleine Effekte. Eines Tages triumphierte sie über eine Büroklammer. Durch geduldiges Ziehen und Schieben schaffte sie es, die Klammer im Laufe einer Stunde einen Zentimeter zu bewegen. Im selben Moment wusste sie, dass sie kein unbedeutendes Wesen war: Sie konnte, wenn sie es nur hart genug versuchte, die Welt beeinflussen. Also übte Claire jeden Tag. Irgendwann konnte sie die Büroklammer vom Schreibtisch stupsen. Sie konnte Vorhänge flattern lassen und den Bilderrahmen auf Olivers Schreibtisch zum Zittern bringen. Dann widmete sie sich den Lichtschaltern. Sie konnte eine Tür ein paar Zentimeter hin- und herschwingen lassen, als wehte ein Luftzug durch den Raum. Zu ihrer Freude gelang es ihr, die Seiten in einem Buch umzublättern. Lesen war Claires große Freude im Leben gewesen, neben der Musik, und jetzt konnte sie ihrer Leidenschaft wieder frönen – man musste ihr das Buch nur aufgeschlagen hinlegen. Sie begann daran zu arbeiten, Bücher aus den Regalen zu ziehen.

Obwohl Gegenstände für Claire körperlos waren – und umgekehrt –, waren die Wände im Haus absolut unüberwindbare Barrieren. Am Anfang störte sie das nicht. Sie hatte Angst, von Wind und Wetter zerstreut zu werden, wenn sie ins Freie ginge. Aber irgendwann wurde sie unruhig. Offene Fenster und Türen waren verführerisch, aber nutzlos. Wenn sie versuchte, durch sie hindurchzugehen, war sie zwar noch da, aber sie verlor an Form und war kurz davor, sich aufzulösen.

Warum?, überlegte Claire. Was soll das Ganze? Ich verstehe das Grundprinzip von Himmel und Hölle, Belohnung und Strafe, aber wenn dies das Zwischenreich ist, wozu soll das gut sein? Was soll ich aus diesem spirituellen Hausarrest lernen? Muss jeder Tote sein ehemaliges Zuhause heimsuchen? Und wenn ja, wo sind dann die vielen anderen Menschen, die vor mir hier gewohnt haben? Oder ist den himmlischen Autoritäten in meinem Fall ein Versehen unterlaufen?

Claires Verhältnis zur Religion war immer locker gewesen. Sie war ein Mitglied der katholischen Kirche wie jeder andere auch: Irgendwie glaubte sie an Gott, aber es war ziemlich uncool, viel Aufhebens um ihn zu machen. In die Kirche ging sie nur, wenn jemand gestorben war oder heiratete. Im Nachhinein kam sie sich noch nachlässiger vor, weil der Lafayette Friedhof praktisch vor der Tür lag. Ich wünschte, ich könnte mich an meine Beerdigung erinnern. Vermutlich hatte sie stattgefunden, während sie sich in einem amorphen Dunst auf dem Fußboden des Hauses gewälzt hatte. Claire fragte sich, ob sie sich Gott gegenüber gewissenhafter hätte verhalten müssen. Sie fragte sich, ob sie bis in alle Ewigkeit in ihrem Haus feststeckte. Und ob jemand, der schon tot war, sich umbringen konnte.

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