| 77 | 𝓓𝓪𝓼 𝓓𝓾𝓷𝓴𝓮𝓵 𝓲𝓼𝓽 𝔃𝓮𝓲𝓽𝓵𝓸𝓼

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Am nächsten Abend, während er duschte, schaffte es Kat, die restlichen Papiere durchzugehen. Von einer Verbindung zwischen Claire und Ben war nirgendwo die Rede gewesen. Sie hatte allerdings zu schnell arbeiten müssen, um sich ganz sicher zu sein. Mehr war unter diesen Umständen jedoch nicht drin. Blieben noch die Geschäftspapiere. Aber ein Blick sagte ihr, dass diese Stapel hauptsächlich aus Rechnungsbüchern und Quittungen bestanden, außerdem verstummte jetzt das Rauschen der Dusche. Sie hastete nach unten in den Salon, wobei sie sich bemühte, die Stufen geräuschlos zu nehmen. Sie steckte so tief in der Situation drin, dass die Ironie nur ahnungsweise zu ihr durchdrang – da schlich sie wie eine Katze in diesem Haus herum, nur um nicht ihrem eigenen Freund zu begegnen. Es kam ihr seltsam vor, dass er so viel Zeit in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte. Er musste stundenlang dagesessen und gar nichts getan haben.

Gar nichts? Sie musste an den Nachmittag denken, an dem sie allein gewesen war und erlebt hatte, wie das Haus um sie herum zum Leben erwachte. Wenn ihr das passieren konnte, warum nicht auch Oliver? Bei dem Gedanken überlief sie ein kalter Schauer. Sie hatte sich damit abgefunden, dass Oliver vielleicht nicht immun gegen die Einflüsse des Hauses war, aber die Vorstellung, dass er Tag für Tag in seinem Arbeitszimmer hockte und aktiv mit dem Haus kollaborierte, war zu viel. Wurde sie langsam paranoid? Er hatte sich gewünscht, noch einmal mit Claire Kontakt aufnehmen zu können, sie wusste, wie begeistert er so etwas aufnehmen würde und wie wenig er doch dafür gerüstet war. Ein Tarotkartenbild kam ihr in den Sinn: der Narr, der, die Nase in der Luft und in einer Hand eine Rose, glückselig über den Rand einer Felsklippe spazierte. Für einen Moment packte sie wilde Panik, eher sich ihr vernünftiges Ich wieder einschaltete. Das war alles nur eine Hypothese. Wenn sie es genauer wissen wollte, brauchte sie nur zu fragen. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie für die Antwort bereit war.

Sie blätterte in ihrem Buch und horchte auf die Geräusche im oberen Stock. Er kam aus dem Bad, ging in das Schlafzimmer, sie hörte ihn herumlaufen. Jetzt kam er die Treppe herunter. Sie guckte in das Buch.

Mit einem Handtuch um den Kopf trat er ein, sie sah auf. Ihre Blicke trafen sich, sie lächelten.

«Gut, das Buch?»

«Nicht besonders.»

Oliver setzte sich neben ihrem Sessel auf den Teppich und begann sich das Haar zu trocknen. Wenig später legte er ihr den Kopf auf den Schoß. Diese unerwartete Geste rührte sie, und etwas unbeholfen rubbelte sie ihm mit dem Handtuch den Kopf. Sie sagten nichts. Er hatte die Augen geschlossen. Kat kämpfte mit einem Gewirr von Gefühlen – mit Misstrauen, gegen ihn und seinen Rapport zu dem Haus, und mit Schuldgefühlen, weil sie hinter seinem Rücken herumschnüffelte. Der warme Druck seines Kopfs auf ihrem Schenkel fügte der Mixtur auch noch sexuelle Spannung hinzu und machte die Misere vollkommen. Sie spürte den übermächtigen Drang, zu reden, um alles zu gestehen, ihre Zweifel, Ängste und Vermutungen, ob sie nun rational waren oder nicht. Aber wie sollte sie, wenn er ihr einfach nicht zuhörte? Wie sollte sie, nachdem er, der Himmel mochte wissen warum, mit der besten Freundin seiner Frau geschlafen hatte? Sie wurde aus ihm nicht mehr schlau, und das machte ihr Angst. Unter dem weißen Handtuch wirkte sein Haar so schwarz wie das Federkleid eines Raben. Er gähnte. Drüben in der Bibliothek begann die Standuhr zu schlagen, und der klare, metallische Ton schien mitten durch sie hindurchzugehen: Jeder sanft auslaufende Klangwellenkreis wurde im Moment des Verebbens durch einen neuen ersetzt, jeder bebte unter der Last seiner Vorgänger, bis schließlich der letzte nur noch ein leises Vibrieren der Luft war, und sie fühlte Tränen in ihre Augen steigen und überquellen wie eine Fortsetzung dieser Sequenz. Sie wischte sie weg, aber andere drängten nach.

Oliver sah sie an.

«Kat, was ist?»

Sie zwinkerte. Das Handtuch auf ihrem Schoß zurücklassend, rappelte er sich auf die Knie hoch und legte den Arm um sie. «Was ist los?»

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