𝓟𝓻𝓸𝓵𝓸𝓰

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Juni 2015

Zuerst sind die neuen Stimmen nicht von den alten zu trennen. Sie erheben sich allmählich, ein Teil des Raunens, von dem das Haus Tag und Nacht erfüllt wird, ein Gemurmel aus all den Stimmen, die je innerhalb dieser Wände ertönten und sie mit Worten sättigten. Nach und und werden sie vernehmlicher, diese eifrigen neuen Stimmen samt dem Spektakel, das sie begleitet – dem Schlurfen und dem Hallen von Schritten, die die Echos verscheuchen und den Staub aufwirbeln. Nach und nach werden die neuen Stimmen lauter, klarer, bis sie schließlich alle anderen übertönen. Oder fast alle. Oben lässt ein kaputtes Rouleau unermüdlich einen Lichtfleck an der Wand anwachsen und zerplatzen. Immer und immer wieder, ein unablässiges Wispern des alten Hauses mit sich selbst. Unten schlägt eine Tür: Ein Luftzug saust, durch Treppenschacht und Flure gesogen, vom Grund des Hauses nach oben, das Rouleau knallt gegen das offene Fenster wie ein Segel im Wind. Die Stille, die folgt, ist eher ein Lauschen.

Unten in der schummrigen Eingangsdiele gibt es eine Deckenlampe, aber keine Birne. Der alte Mann geht schlurfend zum Salon, dort zieht er die Gardinen auf, und Sonnenlicht ergießt sich in den Raum, verwandelt Grautöne in Gold. Hinter seinem Rücken sehen die beiden sich an. Sie wollten eigentlich das ganze Haus besichtigen und sich dann beraten. Aber als der junge Mann das Licht über die verschossenen Bezüge der Sessel fluten sieht, kann er nicht länger an sich halten.

»Haben Sie verstanden, was in unserem Brief stand, Mr. Gilfoy? Wir möchten gern in das Haus meiner verstorbenen Großmutter einziehen. Natürlich nachdem wir es von Grund auf renoviert haben.«

Der Alte in seinem schwarzen Mantel schaut den jungen Mann an, sieht nur ein gespanntes Gesicht, Hände, die einen Zettel falten, auseinanderklappen und wieder falten – offenbar die Wegbeschreibung, die er während ihres Telefonats notiert hat. Die junge Frau steht ein kleines Stück hinter ihrem Mann; wie er trägt sie Jeans. Beide sehen nicht gerade wie Mitglieder einer Gründerfamilie aus. Sie schaut sich in dem Raum um, aber der Alte sieht, dass sie dem Gespräch nicht folgt. Ihretwegen übertreibt er jetzt seinen näselnden Südstaaten-Akzent.

»Renovieren?«, sagt er. »Den alten Kasten? Ist 'ne Menge Arbeit. Mrs Calvert hat seit Jahren nichts mehr machen lassen.«

Die beiden lächeln. Das Lächeln des jungen Mannes ist mechanisch, überspielt seine Verärgerung, ihres hingegen ist echt, er kann sich fast die Hände dran wärmen.

»Na ja, ohne die Meinung eines Architekten lässt sich nicht definitiv sagen« – es ist der Ehemann, der jetzt redet –, »wie viel Arbeit es wirklich ist, oder ob es auch nur ...«

Aber der Alte unterbricht ihn. »Ich kenne die Geschichten. Die Leute sagen, hier spukt's. Na ja, vielleicht stimmt's ja. So ein altes Haus muss ja Erinnerungen bergen. Ich bin hier seit Jahren der Hausverwalter, habe nie einen Geist gesehen, keinen einzigen. Aber jetzt heißt es, hier spukt's, und wer will schon in einem Spukhaus leben? Wenn Sie's wollen, können Sie's gern haben.«

Die junge Frau sieht ihn an: Er hat das Gefühl, dass sie ihn bemitleidet, aber warum? Das ernste, junge Gesicht rührt ihn. Irgendwann, vor langer Zeit – hat ihn da mal jemand so angeschaut? Er kann sich nicht erinnern und kramt in seinen Manteltaschen nach den Hausschlüsseln.

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