Lincoln
Umso weiter der Herbst voranschritt, umso schneller näherte sich der Winter. Das Date mit Mathias war zwar schon einige Wochen her aber ich dachte nach wie vor jeden Tag daran. Wir hatten uns seither beinahe Täglich gesehen. Entweder gingen wir spazieren und genossen das Farbenspiel des Herbstes während wir über Gott und die Welt redeten, oder wir tranken eine heiße Schokolade im Mouchos. Trafen uns immer wieder mal zum Mittag oder Abendessen oder telefonierten stundenlang, nach einem anstrengenden Studientag am Campus. Von Micah hatte ich schon seit längerem nichts mehr gehört. Ich wusste nicht wie lange genau aber es war bestimmt schon einen Monat her? Seufzend ließ ich mich in die Lehne der Parkbank zurücksinken. Sie versprach mir Sicherheit. Irgendwie fühlte ich mich hin und hergerissen. Wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es mir egal wäre. Als dass mir diese ganze Situation egal wäre. Obwohl ich so viel Zeit mit Mathias verbrachte und ihn ehrlich mochte, so konnte ich nicht aufhören an Micah zu denken. Und an mein Manuskript was bei seinen Lektoren vermutlich auf einem Stapel lag und darauf wartete von ihnen beurteilt zu werden. Ein schmerzlicher Knoten voll von Unbehagen zog sich in meiner Magengrube zusammen, als ich daran dachte und mir vorstellte, wie die Lektoren Seite um Seite lasen. Wort um Wort sorgfältig abwogen und miteinander bewerteten um schließlich zu dem Schluss zu kommen, das Buch abzulehnen. Ob ich eine weitere Absage verkraften konnte? Ob mein Ego das noch einmal verkraften würde? Ich hatte keine Ahnung. Und genau das war es, was mir so schwer auf der Seele lag. Gepaart mit Micahs plötzlichem Ghosting. Ich begann mir Gedanken zu machen, ob es vielleicht an mir lag. Im Gegensatz zu ihm, war ich unerfahren. Hatte vor ihm nur einen Sexualpartner gehabt bei dem ich lediglich gelernt hatte mich auf das einzulassen, was andere wollten und mein Vergnügen hintenanzustellen.
„Du verdienst was Besseres" Warum hallten diese Worte gerade jetzt in meinem Kopf nach und quälten mich mit ihrer schmerzvollen Bedeutung? Warum erinnerten sie mich daran, dass ich nicht mehr gewesen bin, wie das erstbeste was ihm geholfen hat von seiner letzten Beziehung loszukommen?
„Weiß nicht. Glaube Abstand wäre fürs erste das Beste. Sie war einfach zu viel" Ich keuchte auf. Versuchte das Bild des Chats aus meinen Gedanken zu vertreiben. Krallte mich verzweifelt in das Holz der Bank und ließ meinen Blick nach unten gleiten. Weg vom strahlend blauen Oktoberhimmel hin zu dem dunklen schwarz des frisch geteerten Bodens.
„Zu viel", flüsterte ich mir die Worte zu. War ich das vielleicht auch für Micah? Meldete er sich deswegen nicht mehr? Wir hatten noch keine sonderlich tiefgründigen Gespräche geführt. Er wusste von meinen Narben. Er hat sie immerhin gesehen in all ihrer Pracht, waren sie im grellen Licht seiner LED ihm zur Schau gestellt worden. Wie ein groteskes Kunstwerk der Selbstverstümmelung.
Ich betrachtete das schwarze Display meines Handys. Versuchte dem Drang zu widerstehen in seinen Chat zu gehen und ihm zu schreiben. Ihm mein Herz und meine verwirrten Gedanken auszuschütten. Mit Mathias reden? Nein. Keine gute Idee. Außerdem hat er gerade eine Vorlesung und diesen Nachmittag sowieso keine Zeit. Irgendwie bekam ich, umso mehr ich darüber nachdachte, große Lust mir die Birne wegzuballern. Entweder mit einer Knarre, damit diese verfluchten Gedanken endlich still waren, oder mit Alkohol, damit sie verstummten und sich stattdessen in einen Kater verwandelten der mich für den Rest der Woche begleitete.
„Das hat doch keinen Sinn", lachte ich mir zu. Lehnte meinen Kopf in den Nacken und betrachtete die Vögel wie sie hoch oben am Himmelszelt ihre Kreise zogen und Richtung Süden langsam davonwanderten.
Plötzlich vibrierte es in meiner Hand. Mein Herz tat einen hoffnungsvollen Sprung. Ein Schrei, der erhört wurde.
M: Wir müssen reden.
Das klang so ... Trocken. Kalt. Professionell. Scheiße dieser Mann hatte mich an Stellen berührt die niemand zuvor berührt hatte. Ich war wie ein naives junges Rehkitz ihm entgegengelaufen, ohne über die Konsequenzen meiner Handlung nachzudenken. Ohne darüber nachzudenken, was passieren würde. Ich war einem Raubtier, bereitwillig in die scharfen Klauen und Fänge gelaufen.

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Eden - Craving Love
RomanceOft passieren einem im Leben die besten Dinge, wenn man noch nie dagewesene Entscheidungen trifft. Das zumindest hat mir mal einer meiner Professoren erzählt. "Wenn du nie ein Risiko ein gehst, wirst du als Person nie wachsen Lincoln. Du wirst nie d...