Der Holzscheit barst und Funken stoben in die dunkle Nacht. Der alte Mann sah in die erwartungsvollen Gesichter von etwa zwei Dutzend Kindern, die sich eng an eng um das Lagerfeuer scharten.
»Ihr wollt also die Legende der Bluthexe hören, ihr wollt alles über Yenravens Hexenkrieg erfahren?«Einige der Kinder nickten heftig, andere brachten ein zaghaftes »Ja« hervor, aber alle blieben sie gespannt sitzen, wagten nicht, sich zu rühren. Wie gebannt hingen sie an den Lippen des alten, greisen Mannes.
Der Geschichtenerzähler genoss diese Momente. Er legte eine kurze Pause ein, ehe er fortfuhr. »Es geschah vor vielen hundert Jahren. Damals, wie auch heute, gab es hier einen Wald. Aber einst war er noch nicht dunkel und gefährlich. Seinerzeit lebten die Menschen mit der Natur in Frieden und Eintracht.«
Der Erzähler stockte, griff sich einen Stab aus dem Feuer und zeichnete im Dunkel der Nacht eine Gestalt aus feurigen Funken.
»Bis eines Tages Yenraven aus dem Wald kam. Sie war jung, wunderschön, hatte feuerrotes Haar, aber in ihrem Herzen brannte eine dämonische Bosheit, denn sie war eine Bluthexe.«
Die Kinder stießen erschreckte Laute aus, als sich die im Dunkeln magisch gezeichnete Gestalt eines hübschen Mädchens in eine schreckliche Fratze verwandelte.
»Sie wanderte von Ort zu Ort, war auch hier in Torflohe. Dort, wo sie auftauchte, brachte sie Leid und Trauer, denn sie stahl den Müttern ihre Kinder. Andere Hexen schlossen sich ihr an. Sie verließ die Ortschaften und die Hütten brannten, Mütter weinten, Väter lagen tot im Gras.«
Ein kleines Mädchen fing an zu schluchzen. Ihr etwas älterer Bruder zog sie eng an sich. Die tröstende Nähe verfehlte nicht ihre Wirkung, denn das Wimmern wurde leiser und erstarb.
Der alte Mann erzählte weiter, sprach von Menschen, vor allem von Kindern, die in den Wald verschleppt wurden und niemals wiederkamen. Wer sich Yenraven und ihrer Hexenbrut in den Weg stellte, wurde von ihrer gewaltigen magischen Macht zermalmt. Es schien hoffnungslos.
»In der Not wandten sich die Menschen an den Orden, die strahlenden Ritter Raden-Surs. Es war der Großmeister selbst, der mächtige Gorald von den tiefen Auen, dessen Herz ob des Leids schwer wurde.«
Die Augen der Kinder weiteten sich. Einige kannten die Geschichte schon, wurde sie doch immer wieder an den Tagen der Legenden von herumreisenden Erzählern weitergetragen.
Der alte Mann wusste, was er seiner Zuhörerschaft schuldig war. Er hub mit seinem Stock in die Glut und eine Feuerlohe stieg in die Höhe und formte einen gewaltigen Hünen in Rüstung und mit einem mächtigen Beidhänder.
»Gorald scharte seine Ritter um sich, und obgleich sie an Zahl der Hexenschar unterlegen waren, warfen sie sich den Hexen immer dann furchtlos entgegen, wenn diese sich wieder zum Plündern und Brandschatzen aufmachten. Er tötete viele Hexen, doch gelang es ihm nicht, Yenraven, diese feige Kreatur des Bösen, zu stellen.«
Der Erzähler schwieg eine Weile. Es folgten weitere Geschichten und Heldentaten von Gorald und seinen Rittern. Einmal stellte sich der legendäre Heroe alleine einer zwanzigköpfigen Hexenschar, die gerade dabei war, hilflose Frauen und Kinder in den dunklen Forst zu verschleppen. Er ließ keine Gnade walten.
»Der Hexenkrieg wogte lange, doch eines Tags erhielt Gorald schreckliche Kunde von einem Jünger Raden-Surs. Die Bluthexe bereitete im Wald ein furchtbares Ritual vor. Hierfür sollten viele der verschleppten Menschen beim Hexenstein, einem verborgenen Ort tief im Gehölz, geopfert werden. Der Großmeister sammelte all seine Ritter um sich und das Heer der Helden ritt in den Wald, zur entscheidenden Schlacht.«
Das Lagerfeuer war fast abgebrannt. Die Holzscheite schickten ein letztes, verzweifeltes Glimmen in die Nacht, tauchten das Gesicht des Erzählers in einen gespenstischen Schein.
»Gorald fand den Hexenstein und stellte Yenraven zum Gefecht. Es muss ein furchtbares Gemetzel gewesen sein. Dem Großmeister gelang es Yenraven zu bezwingen und sie in magische Ketten zu legen. Schließlich kehrte er triumphal mit ihr aus dem Hexenwald heim. Er war allein. Alle seine tapferen Mitstreiter fielen im Kampf gegen die Hexen.«
Der alte Mann lehnte sich zurück.
»Viel mehr gibt es nicht zu berichten, meine verehrten Zuhörer. Yenraven wurde auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leib verbrannt. Gorald selbst war durch den Kampf so gezeichnet, dass er in den Ruhestand trat.«
Der Erzähler munterte seine jugendlichen Lauscher auf Fragen zu stellen.
»Warum ist der Wald dann so düster geworden?«, wollte ein kleines, blondes Mädchen mit großen neugierigen Augen wissen.
»Nun, nachdem Gorald mit Yenraven aus dem Forst zurückkehrte, begannen sich Bäume, Sträucher, sogar die Tiere zu verändern. Das Blut der toten Hexen vergiftete den Waldboden. Ausgehend vom Hexenstein wurde das Dickicht immer undurchdringlicher, feindseliger. Die Bewohner des Walds, wie die sanftmütigen Waldaffen, wurden zu reißenden Kreaturen, die bis zum heutigen Tag jeden angreifen, der sich ihnen nähert.«
»Ich habe gehört, dass es noch Hexen gibt«, meldete sich einer der älteren Jugendlichen zu Wort. Ein Frösteln ging durch die Zuhörerschaft.
»In der Tat, diese Brut ist nicht auszurotten. Der Orden hält seine schützenden Hände über uns, verfolgt diesen Abschaum. Aber leider leben diese heimtückischen Kreaturen immer noch unter uns. Viele unerkannt, manche werden geduldet, wenn sie der Gemeinschaft dienen.«
Ein kleines Mädchen fing leise an zu weinen.
»Nein, seid beruhigt, Kinder. Die heutigen Hexen sind weit entfernt von der Macht einstiger Tage. Ich kenne noch viele weitere Geschichten ...«
Eine gutgekleidete Dame, die Vorsteherin Torflohes, trat in die Mitte. »Das reicht für heute, es ist spät.«
Der Erzähler und die grauhaarige, hagere Frau, warteten ab, bis die Kinder durch ihre Mütter und Väter eingesammelt, den Dorfplatz verlassen hatten.
»Habt ihr von Ulmenstein gehört?«, erkundigte sie sich. Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Granitfurt.«
Die Vorsteherin senkte ihre Stimme, um sicherzugehen, dass allein der Erzähler sie hörte.
»Aus Ulmenstein kommt schreckliche Kunde. Man sagt, Entsetzliches wäre dort geschehen. Leute des Ordens sind dorthin aufgebrochen.«
Der Erzähler sammelte seine Packtaschen ein und auch das restliche magische Pulver, welches er für den Zaubertrick mit dem Stab genutzt hatte. »Wisst ihr mehr?«
Die Vorsteherin schluckte. »Sie ist zurückgekehrt.«
Der Erzähler verstand nicht. »Wer ist zurückgekehrt?«»Yenraven! Die Bluthexe!«
Karte des nördlichen Teils des Goldenen Reichs
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...