Hexenstein voraus

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Etwas rüttelte an ihre Schulter. Sie schlug die Augen auf, wobei ihr erster Blick auf eine kopfüber hängende Aratica fiel, die soeben das zermahlene Gestein aus dem Beutel in den Ofen streute.
»Guten Morgen, Hexlein.«

Danach sah sie die Baumwipfel des Schattenwalds, wie sie immer näherkamen.

»Vorsicht«, warnte Kendar. Die untere Takelage verfing sich in einer Laubkrone. Vom eigenen Schwung getragen flog der Ballon zunächst noch einige Fuß weiter, wobei sich der Wipfel des Baums in Flugrichtung bog.

Dann schnellte er zurück.

Aratica wurde aus ihrer Halterung geschleudert. Die Assassine verlor ihren Lederbeutel mit dem Schwebegras, den sie gerade eben noch aus dem Gürtel geholt hatte.

Der Sack segelte gen Wald, prallte gegen den Ofen und trudelte, sich überschlagend in die Tiefe. Geistesgegenwärtig ließ die junge Frau mit den Rastalocken das Tau los und tauchte ab. Am Ende des letzten Seils packte Aratica zu, erwischte das Seilende und zugleich mit der anderen Hand den Lederbeutel.

»Fangt.« Sie schleuderte, vom Schwung des Fallens getragen, den Beutel Kendar zu, der ihn geschickt auffing. Cyriana umklammerte mit beiden Händen die wild umherschwingenden Seile. Die Anderen bewegten sich mit beneidenswerter Leichtfüßigkeit gewandt durch die Takelage.

Der Ballon begann zu steigen. Dairos brachte den nur noch schwach glimmenden Ofen wieder in Position, nachdem dieser durch die Kollision mit dem Baumwipfel nun seltsam verdreht unter dem Luftschiff hing.

Cyriana bewegte sich unbeholfen die Takelage entlang. Die Höhe machte ihr Angst. Solange sie den Ballon gesteuert und im Bastkorb gesessen hatte, war ihr das noch nicht so aufgefallen. Nun hing sie aber an wenigen Seilen über einem Abgrund.

»Fallt nicht runter, Cyriana.«

Der wohlmeinende Zuruf der Assassine, der ihr noch einmal verdeutlichte, wie ungesichert sie in den Seilen hing, ließ ihr Herz wild pochen. Nein, herunterfallen wollte sie keinesfalls. Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor, so sehr klammerte sie sich am Strick fest.Aratica hangelte sich geschickt die Takelage nach oben, und schnitt, nachdem wie durch Zauberhand ein Messer in ihre rechte Hand geschnellt war, die herabhängenden Seile ab, die sich im Baum verfangen hatten.

Kendar warf auf ein Zeichen Dairos' hin den Beutel zum Ordensritter. Der hatte längstens sein Bein um einen Strick gewickelt, um besser fixiert zu sein und schmiss den Sack im Ganzen in den glimmenden, langsam verlöschenden Ofen.

»Gute Idee.« Aratica erreichte Dairos, löste den letzten Beutel von ihrem Gürtel und ließ ihn in hohem Bogen dem anderen in die Glut folgen.

Der Ballon stieg weiter, verhielt aber schließlich an Ort und Stelle.

»Wir müssen wieder Fahrt aufnehmen, Cyriana«, rief Dairos.

Aratica hangelte sich an ihre Seite und fixierte sie mit den Seilen. Die Druidin konzentrierte sich auf ihre Umgebung, erspürte die sanften Winde, befahl ihnen, ihre Richtung zu ändern und den Ballon tiefer in den Wald zu treiben. Das Luftgefährt beschleunigte langsam, schwebte nun etwa fünfzehn Fuß oberhalb der Baumwipfel entlang.
»Da kommen noch viel höhere Bäume.« Kendar hatte als erster die Stämme gewaltiger Mammutbäume entdeckt, auf die der Ballon zusteuerte.

Dairos zückte ein Messer, zerstieß die glimmenden Beutel, so dass das gemahlene Gesteinspulver schneller verbrannte.

Sie gewannen weiter an Höhe.

Cyriana hielt, als sie der Baumgruppe zu schnell näherkamen, mit dem Zaubern inne, woraufhin das Luftschiff sofort langsamer wurde.

»Nein, beschleunigt weiter. Wir schaffen das«, befahl ihr Dairos.

Eine Krähe flog heran, umrundete krächzend die Hülle, starrte sie aus blutroten Augen böse an. Ehe das Federvieh eine zweite Runde drehen konnte, hatte Aratica sich mit einer blitzschnellen Bewegung herumgeworfen und angelte den überraschten Vogel aus der Luft.

Wild flatternd hackte die Krähe mit dem Schnabel auf die Assassine ein. Die ließ sich nicht beirren, brach mit einer Hand dem Vogel kompromisslos das Genick und ließ den Kadaver in die Tiefe fallen. »Ups.«

Cyriana schloss die Augen, intensivierte ihre Bemühungen. Es war ihr, als wäre der Wind hier über dem Schattenwald viel schwieriger zu bändigen, als anderswo.

Der Ballon stieg weiter, aber es würde nicht reichen, die herannahenden Mammutbäume sicher zu überfliegen. In den Wipfeln glaubte Cyriana seltsame, geisterhafte Wesen umherspringen zu sehen. Würde das Luftschiff in die Krone krachen, wäre eine Begegnung nicht zu vermeiden. Aus den unteren Bereichen des Baums hangelten sich weitere Kreaturen in das obere Wipfeldach. Trotz der vielen Jahrhunderte, die sie nun schon in dem dunklen Forst ein und ausging, kannte sie immer noch nicht all die finsteren Geschöpfe, die hier ihr Unwesen trieben.

»Wir werden aufschlagen«, prophezeite Kendar düster.Dairos beachtete ihn nicht. Er wartete ab, bis der letzte Rest des Schwebegrases verglüht war und machte sich zielstrebig daran, die haltenden Seile zu kappen.

»Was tut ihr da?«, begehrte Kendar auf, als der junge Ordensritter mit blitzschnellen Schnitten den Ofen aus seiner Verankerung löste.

Das wuchtige Teil sackte in die Tiefe und verschwand im dichten Blätterdach des Walds.Wie von einer schweren Last befreit machte der Ballon einen gewaltigen Satz in die Höhe. Die Kreaturen in den Bäumen fingen lautstark an zu toben. Sie sahen sich um ihre Beute betrogen. Sie überquerten sicher die Wipfel der Baumgruppe.

»Kappt alle Seile, die nicht notwendig sind«, befahl der Ordensritter.

Aber bitte keines, an dem ich gerade hänge, durchzuckte es die Kräuterkundige, die mit Sorge das geschäftige Treiben um sie herum verfolgte. Ihre Hände schlossen sich um die Seile, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten.

Kendar und Dairos halfen ihr wenig später, in eine etwas höhere Position zu gelangen und schnitten alsdann die Seile so weit oben wie möglich ab. Natürlich ließ es sich Aratica, die an der Herumhangelei sichtlich Spaß fand, nicht nehmen, ganz hinaus in die Takelage des Ballons zu klettern.

Sie fing einen spöttischen Blick der Assassine ein.

Kendar beäugte misstrauisch die Kronen des Schattenwalds. In der Tiefe wogten Büsche. Etwas Großes bewegte sich unter den Wipfeln der Bäume.

»Wie könnt ihr hier navigieren, Cyriana, und den Ort mit dem Hexenstein ansteuern?«»Ich spüre ihn.«»Meint ihr, die Krähe war ein Späher und Halikarnosa weiß über unser Kommen Bescheid?«, wollte der Ritter aus Dryadengrün wissen.

Diese Frage hatte sich Cyriana auch schon gestellt, doch gab es keine Antwort darauf. Auch eine Halikarnosa konnte nicht gleichzeitig durch die Augen aller Kreaturen des Walds blicken. Gleichwohl würde sie Cyrianas Anwesenheit sofort bemerken, sobald sie den Waldboden betrat.»Das kann ich nicht beantworten, Kendar. Es wäre möglich.«

Cyriana schloss die Augen und befahl dem Wind, den Ballon vor sich herzutreiben. Ohne ihre Magie hätte sich das Luftgefährt wohl kaum von der Stelle wegbewegt, wehte doch bislang nur ein unregelmäßig laues Lüftchen aus südlicher Richtung. Angenehmerweise drehte es nun etwas und kam aus Südosten. Das war hilfreich.

Die Assassine turnte derweil munter an der unteren Takelage des Ballons herum, warf dabei immer wieder prüfende Blicke auf die nähere Umgebung.

»Dort!«

Kendar und Dairos folgten dem ausgestreckten Arm der jungen Frau. Über den Wipfeln der Bäume konnten sie südwestlich die Umrisse einer Siedlung, die auf einem kleinen Hügel lag, ausmachen.

»Das ist Fels Karabatos.«

Cyriana erinnerte sich noch gut an die Bergbausiedlung auf der Lichtung des Walds. Dort hatte sie einst als weiße Ordensritterin die Sonnenscheibe tief unter dem Berg verborgen ... bis die beiden Dryadengrüns sie von dort wegbrachten.

»Könnten wir nochmal über den Plan sprechen?«, riss Dairos seine Begleiter aus ihren Gedanken.»Landen, Yenraven töten, Scheibe sichern«, rief ihnen Aratica von oben zu. »Hab mir alles gemerkt.«

Kendar verdrehte seine Augen, Dairos murmelte leise einige Worte. Vermutlich rezitierte er wieder irgendwelche Ordenssprüche des Gleichmuts, um seine innere Balance zu finden.»Wir krachen mit dem Ballon auf die Lichtung. Am besten auf Yenraven und den Hexenstein. Mit etwas Glück sind sie mitten im Ritus, werden zerquetscht oder müssen diesen zumindest abbrechen«, erklärte Cyriana.

»Was nützt es uns, wenn sie nur gestört werden?«, wollte Kendar wissen.»Der Blutritus ist sehr schwierig zu beherrschen. Er besteht aus einer komplizierten Abfolge magischer Formeln. Einige davon können nur Bluthexen sprechen. Wird der Ablauf gestört, muss die Hexe erneut beginnen. Im Idealfall ist aber die Lebensenergie, die für das Ritual zugesteuert werden muss, aufgebraucht.«

»Dann müssen sie abbrechen und anderntags neu beginnen«, folgerte Kendar und schüttelte den Kopf. »Das bringt nicht viel.«

Cyriana musste ihm zwar Recht geben, doch wie sollten sie gegen Yenraven und dem Feuerelementar sonst bestehen? Es musste ihnen doch klar sein, dass sie im Feindesland sowohl gegen eine mächtige Elementarhexe, als auch eine Göttin antraten. Nur ein Wunder konnte sie retten.

»Das ist zu wenig. Wir gewinnen nur ein paar Tage.« Dairos warf einen nachdenklichen Blick auf sie, als wäre sie der Schlüssel zum Erfolg. Verstand dieser Narr denn nicht, welchen Mächten sie entgegensteuerten?

»Wenn Yenraven den Feuerelementar beschwört, kostet sie dies viel von ihrer Magie. Sie wird angreifbarer. Vielleicht können wir das nutzen«, schlug sie vor, um einfach etwas zu sagen und Hoffnung zu verbreiten, wo es keine gab.

»Ihr wart damals mittendrin, Cyriana.« Dairos von Ordon schwieg eine Weile. »Was hat euch dazu getrieben? Als ich euch kennenlernte, habt ihr euch um Menschen gekümmert, sie geheilt, beschützt. Das tatet ihr mit dem Einsatz eures eigenen Lebens.«

In der folgenden Stille waren nur das Knarzen der Taue und das leise Wehen des Winds zu hören. Ihrer beiden Blicke trafen sich.

»Ihr wollt also meine Geschichte erfahren, Ordensritter?«»Ja, Cyriana, das will ich.«»Wir waren zwei junge Mädchen, die am Waldrand lebten. Unsere Mutter war eine Naturhexe, unser Vater ein geachteter Druide. Mit den Dorfbewohnern kamen wir gut aus. Eines Nachts kamen Männer auf unseren Hof. Sie waren aufgebracht und ...«

Aus Cyrianas linkem Auge perlte eine einsame Träne die Wange herab. Nie vergessene Bilder aus der Vergangenheit wischten unbarmherzig das Hier und Jetzt zur Seite ...

Ich fahre auf, als mich lautes Geschrei weckt. Meine Mutter stürzt an mir vorbei zum Fenster. »Bei den Göttern, sie kommen mit Fackeln.« »Bleib hier, ich gehe hinaus und beruhige sie. Bleib du hier bei den Kindern.«Mein Vater lässt das Beil sinken und legt es auf den Tisch. Entschlossen schreitet er zur Tür, sieht sich aber noch einmal um und streckt seine Hände nach uns aus. Wir laufen zu ihm und umarmen ihn.

»Es wird alles gut«, murmelt er zuversichtlich und entzieht sich unserer Umarmung. »Es sind unsere Nachbarn, gute Menschen. Ich kläre es.«

»Bleib, bitte«, fleht meine Schwester ihn an. Doch er schüttelt traurig den Kopf. »Flüchtet über die rückwärtige Klappe ins Freie.«

Als er hinausgeht, laufen wir stattdessen zum Fenster. Die aufgebrachte Menge steht in unserem Hof. Es sind etwa zwei Dutzend Männer und Frauen. Alle halten Fackeln in den Händen und sind aufgebracht. Ich kenne sie doch alle. Mein Lehrer ist darunter und der große Bruder meiner besten Freundin. Warum sind sie nur so zornig?

»Ihr habt unser Vieh vergiftet.«»Hexengesindel.«»Das Wasser im Brunnen ist pechschwarz.«

Mein Vater stellt sich vor sie und hebt beschwichtigend die Hände. »Freunde, wir haben nichts getan. Ihr kennt uns doch schon seit Jahren.«

Er sieht zur Seite auf einen älteren Mann, der mit einer Hand die Fackel hält und mit der anderen die Krücke. »Julius, habe ich dir nicht letztes Jahr dein Bein gerichtet? Es wäre dir sonst abgenommen worden. Und dir ...« Er wendet den Blick. »... habe ich erst vor zwei Wochen geholfen, dein Dach neu einzudecken, das im letzten Sturm beschädigt wurde.«

Der Mob zögert, die aufgebrachte Stimmung beruhigt sich etwas. Ich atme auf, als ich die beiden Männer sehe. Männer des Ordens, in hellblauen, glänzenden Rüstungen. Sie kommen aus dem Dunkel der Nacht und schreiten würdevoll an der Menge vorbei, bis sie meinen Vater erreichen. Nun wird alles gut.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt