Über den Wolken

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Cyriana bückte sich über einen der Jünger Raden-Surs, der von einem Ast Yenravens gestreift, blutüberströmt am Boden lag und lethargisch vor sich hinstarrte.

Während sie sich um die Verwundeten kümmerte, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, wie Kendar den Ballon inspizierte. Der Prinz aus Dryadengrün war sichtbar fasziniert.

»Weshalb kann dieses Gefährt fliegen, Barut-al-Zavid? Mit Magie?«, fragte er beim Hohen Meister nach.

»Nun, er fliegt, weil die Gase, die wir in die Hülle geleitet haben, leichter als Luft sind. Aber in der Tat setzen wir auch die uns gegebene Zauberei ein, um sicherzustellen, dass er die Richtung nimmt, in die wir wollen.«

Er deutete auf einige Jünger, die im Zentrum direkt unterhalb des Ballons standen und mit geschlossenen Augen leise Sprüche vor sich hin murmelten.

Jetzt spürte auch Cyriana den feinen Luftzug, der sie umwehte. Sie hatte vorher gar nicht darauf geachtet. Zurolon kletterte ganz in ihrer Nähe behände über den Bastkorb. Selten hatte sie ihn so ausgelassen gesehen. Fasziniert starrte die kleine Drachenschlange immer wieder in die Tiefe. Als sie sich über den Rand des Korbs beugte und hinabsah, rebellierte ihr Magen.

»Habt ihr das erfunden?«, hakte Kendar nach. Der Hohe Meister musste grinsen, schüttelte dann aber bestimmt den Kopf.

»Nein, das waren schlaue Leute aus den Turmländern. Habt ihr in Dryadengrün noch nie von Ballonen gehört?«

»Es gibt viele Wunder, die es noch zu ergründen gibt, Hoher Meister. Wir Dryadengrüns leben sehr viel in der Vergangenheit. Natürlich werden auch wir Ballone haben ... nachdem alle anderen schon in ... sagen wir mal metallenen Kisten mit Flügeln sitzen, die fliegen können.«»Welch absurde Vorstellung«, gluckste Barut-al-Zavid. Sie mussten beide lachen.

»Ihr habt angedeutet, Hoher Meister, die Sonnenscheibe bedeute mehr. Mein Bruder lässt sie ja nicht einen Augenblick aus den Augen. Aber ist euer Anspruch nicht sogar der ältere, der ursprünglichere?«, fragte Kendar.

Mit dem Hohen Meister, Aratica, Cyriana, Zurolon und den beiden Prinzen waren noch vier weitere Jünger im Korb. Zwei davon standen direkt unterhalb des Ballons und hielten eine große hölzerne Scheibe fest, die statt im Boden des Korbs, in der Höhe in den Trageleinen des Ballons befestigt war. Sie beschworen den Wind, der den Ballon vorantrieb.

»Es hätte keinen Sinn, jetzt um Raden-Surs Sonnenscheibe zu streiten, Prinz Kendar. Wir sind vereint im Kampf gegen Yenraven und haben keine Zeit für einen Zwist, der uns nur schaden würde.«»Ihr lasst ihn aber nicht aus den Augen, Hoher Meister. Die Scheibe wird er nicht behalten dürfen. Ihr habt auch angedeutet, dass Raden-Sur identisch mit dem Artefakt sei.«

Barut-al-Zavid sah in Kendars offenes Gesicht und seufzte.

»Früher war die Sonnenscheibe ein Heiligtum der Jünger Raden-Surs. Sie war nicht nur aus dem Metall des Meteoriten, welcher Raden-Sur auf die Erde schleuderte, sie schien viel mehr zu sein. Mit ihr war es erst möglich viele der mächtigeren Artefakte mit der göttlichen Magie Raden-Surs zu segnen. Als vor Tausenden von Jahren der Meteor auf die Welt fiel, war dies der Anbeginn unseren Glaubens.«

Die Gespräche im Korb erstarben. Alle hörten nun dem Hohen Meister zu.

»Quid pro quo«, murmelte Cyriana leise. Sie spürte, dass der Hohe Meister nun bereit war, das Geheimnis um die Sonnenscheibe zu lüften. Ihr war es nicht zugestanden, dies zu offenbaren. Eine ganze Religion wäre in Gefahr. Und sie hatte schon viel zu viel Unglück in die Welt gebracht.

»Bevor der Meteorit einschlug, brach er in mehrere Teile. Ein kleiner Teil schlug in den Marmorhügeln ein. Seitdem hört man immer wieder von geisterhaften Erscheinungen. Es sind verwehende Abdrücke Raden-Surs, die dort leidend durch die Hügel ziehen und in ihrer Verwirrtheit für ahnungslose Wanderer eine gewisse Gefahr darstellen. Ein weiterer, viel größerer Teil stürzte in den Wald, der heute als Schattenwald bekannt ist. Er bohrte sich tief in die Erde, wurde aber irgendwann einmal freigelegt und zu einer Art Altar gehauen. Ihr kennt ihn als Hexenstein.«

»Dann kam Raden-Sur also nicht allein auf diese Welt. Dann ist Halikarnosa mit ihm hier aufgeschlagen«, vermutete Kendar. Doch der Hohe Meister winkte ab.

»Nein, Halikarnosa ist nicht mitgereist. Halikarnosa ist der Geist Raden-Surs, dessen Essenz in der heute so genannten Kraterschmiede niederging.«

Kendar wich einen Schritt zurück, riss erstaunt die Augen auf.

»Ihr meint ...«»... ja, Halikarnosa und Raden-Sur sind zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören zusammen.«»Aber warum konnten die Kreaturen des Walds die Blütenhänge der Kraterschmiede nicht betreten?«, wollte Aratica wissen, die aufmerksam zugehört hatte. Da sie ohnehin an nichts glaubte, war diese Offenlegung für sie eine Geschichte wie jede andere.

»Halikarnosa ist eine Göttin ohne Körper. Kurz vor dem Aufschlag trennte sich ihr Geist von ihrem Leib. Der weitaus größere Teil ihrer Selbst schlug einen gewaltigen Krater. Im Meteoriten fanden wir eine gelblich, flüssige Masse, die unsere Schmiede schließlich zu einer Scheibe formten. Wir gründeten die Jünger Raden-Surs.«

Barut-al-Zavid blickte westwärts, in Richtung des Schattenwalds.

»Halikarnosa wollte sich immer mit dem Rest ihres Leibs wiedervereinen. Aber es geschah etwas, mit dem sie nicht rechnete. Ihr Körper entwickelte nach und nach ein eigenes Bewusstsein. Raden-Sur entsteht wirklich und er lehnt sie ab. Er will nicht mit ihr verschmolzen werden. Er ist derzeit noch nicht in der Lage sich uns deutlich mitzuteilen, aber eines Tages wird es dazu kommen.«

Tywen schluckte. »Ich trage hier einen Gott auf der Brust?«

Barut-al-Zavid nickte langsam. »In der Tat Ritter Tywen. So könnte man es sagen.«»Aber wurde sein Körper nicht über viele Jahre hinweg in zahlreiche Artefakte aufgeteilt und über die ganze Welt verstreut?«, spielte Kendar auf die langjährige Bearbeitung des Meteoritengesteins an.

»Nein. Das für die magischen Artefakte, wie zum Beispiel für die Ordensschwerter oder Araticas Dolch verwendete Metall entstammt nicht direkt dem Meteoriten. Der Meteorit hat beim Aufprall das umgebende Gestein gewandelt. Der Meteorit war ursprünglich nur etwa so groß wie ein Bär. Wäre der Meteorit größer gewesen, wäre wohl die Welt untergegangen.«»Und der Bär?«, wollte Kendar wissen.

»Wir schlugen den Meteoriten auf und fanden in ihm jene gelbe Flüssigkeit, von der ich zuvor gesprochen habe. Ein wahrlich begnadeter Schmied formte aus diesem gelben, weichen Metall die Sonnenscheibe. Sie besteht aus zwei Teilen, der Scheibe und einer Kugel, die man ins Zentrum der Scheibe einsetzen kann. Manchmal, wenn Raden-Sur aus seinem Dämmerzustand erwacht, teilt er uns etwas in unseren Träumen mit. Wir glauben, dass der entscheidende Teil in der Kugel steckt.«

Tywen betrachtete argwöhnisch die Sonnenscheibe, die um seinem Hals hing. Er hatte die Hand weggezogen, wagte nicht mehr, sie zu berühren. »Was wird geschehen, wenn Halikarnosa wieder zur Göttin wird?«

Barut-al-Zavid zuckte mit den Schultern. »Wer weiß das schon. Aber eingedenk der Tatsache, dass der Blutritus wohl Tausenden das Leben kosten wird, denke ich nicht, dass Halikarnosa ein Paradies für uns Menschen schaffen wird.«

»Das wird meinem Onkel nicht gefallen«, murmelte Aratica grinsend.

»Woher weiß man eigentlich, was beim Blutritus geschehen wird, wenn dieser doch noch nie durchgeführt wurde?«, wollte nun Tywen wissen.

»Oh, er wurde schon durchgeführt. Das Ritual ist bekannt. Wir hatten Kunde von einem Blutritus in einem anderen Reich, fernab von hier. Dort wurde er aber in viel kleinerem Maßstab und zu anderen Zwecken gewirkt. Aber auch da starben zahlreiche Menschen, sowie die Hexe bei der Ausführung.«

Der Bastardprinz schüttelte den Kopf. »Was bewegt euch? Halikarnosa ist die wahre Gottheit. Müsstet ihr nicht zu ihr beten? Raden-Sur ist nur eine vage Hoffnung.«

Sie warten auf die Entstehung Raden-Surs, schoss es Cyriana durch den Kopf. Der Hohe Meister seufzte auf, setzte sich wieder auf den Boden des Basaltkorbs. »Keiner will Jünger einer grausamen Göttin sein, Prinz Kendar.«

Tywens Blick wendete sich ihr zu. »Ihr wusstet natürlich davon, Cyriana«. Wie so oft schwang im Tonfall des Halbprinzen aus Dryadengrün Verärgerung mit. Cyriana sah ihn lange nachfühlend an. Tywen war der uneheliche Sohn eines Königs. Seine Existenz war die eines Spielkameraden für Kendar. Und auch wenn sich die beiden wirklich als Brüder fühlten und sich zugetan waren, so war der Zorn niemals aus Tywens Gemüt verschwunden.

»Ja, Tywen. Ich kenne viele Wahrheiten, so auch diese.«

»Ihr werdet Gelegenheit haben, eure Taten zu beichten. Es ist nicht an mir euch zu verurteilen.«Cyriana schloss die Augen und griff nach ihren Halsketten. Die Geschichte hatte sie bereits bestraft. Es gab nicht mehr viel, was man ihr antun konnte. Obgleich sie den blutigen Weg, den sie einst beschritten hatte, hinter sich wusste, war er noch da ... und die Geister der Toten riefen ihren Namen, forderten Vergeltung.

»Das Urteil ist schon längst gesprochen, Tywen.«

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt