Cyriana hing ihren Gedanken nach. Es war einige Zeit seit dem Besuch Torcaans vergangen, doch sie konnte die Geschehnisse nicht aus ihrem Kopf bringen. Hatte sie etwas übersehen?Den beiden Kindern, Ogbert und Ogwina ging es deutlich besser. Seit gestern hatten sie ihnen keine Tränke mehr gegeben. Und auch ihre schlimmste Befürchtung, die Moderbeere hätte in deren Seelen etwas erwachen lassen, hatte sich glücklicherweise nicht bewahrheitet.
In den nächsten Tagen würde sie sie somit nach Hause schicken. Danach wäre es auch für sie das Beste die Gegend zu verlassen, denn sie konnte das Kommende nicht verhindern. Auch der Orden würde es nicht aufhalten können.
Ich kann nicht gehen, durchzuckte sie die Erkenntnis. Sie spürte die Verantwortung wie einen schweren Amboss auf ihren Schultern liegen.
Lautes Kindergeschrei störte ihren Gedankengang. Wie üblich spielten sie in ihrem Kräutergarten. Es wurde Zeit, dass Ogbert und Ogwina heimkehrten. Ohnehin hatte die Mutter schon mehrfach nachgefragt und würde sich nicht weiter vertrösten lassen.
Cyriana vermisste die Ruhe früherer Tage. Zuletzt hatte sie kaum noch Tränke gebraut, da es den Zwillingen immer wieder gelang, sie abzulenken. Dabei war sie auf die Tinkturen und Salben angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mit Schaudern dachte sie daran, dass die Hofherrin des Gänsegeierguts zum kommenden Vollmond den nächsten Augentrank erwartete.Diesmal würde sie wirklich nichts haben.
Geistesabwesend bürstete sie ihre schulterlangen, nachtschwarzen Haare. Ihre Gedanken schweiften in eine ferne Vergangenheit. Bilder, die sie längst gehofft hatte, zu vergessen, liefen immer und immer wieder vor ihrem inneren Auge ab. Sie endeten stets mit dem überraschten Blick ihrer Schwester und einem schmerzhaften Stich tief in ihrer Seele. Verrat, Verlust ... Tod.
»Es beginnt«, zischelte es aus einer dunklen Ecke. Zurolon hatte sich bislang erfolgreich vor den Zwillingen verborgen, litt aber sichtlich darunter. Die Stimmung der kleinen Drachenschlange war am Boden. Sie hatte keine Lust mehr, dauernd darauf zu achten, nicht entdeckt zu werden. Missmutig pirschte sie sich an Cyriana heran. Ihr Schwanz peitschte nervös.
»Wir wussten, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde.«
Sie legte die Bürste auf den Tisch und stülpte die Ärmel der Bluse bis zum Oberarm zurück. »Auch wenn ich gewünscht hätte, es würde nie geschehen.«»Du musst sie loswerden.«
Innerlich gab Cyriana ihrem kleinen Freund Recht, doch sie hatte es sich fest versprochen. Jegliche Diskussion darüber war im Grunde müßig.
»Auch wenn ich wollte, Zurolon, nichts und niemand kann sie entfernen.«
Sie hob ihre Unterarme und musterte die silbern glänzenden Armschienen, die eng auf der Haut lagen. Sie umspannten den Bereich oberhalb des Handgelenks und zogen sich fast bis zum Ellenbogen. Sie folgte mit dem kleinen Finger verträumt den eingravierten Zeichen einer längst vergessenen Sprache.
Zurolon fauchte wütend. Sie wusste, was er davon hielt. Dass er glaubte, sie würde nur vorgeben, die Armschienen nicht abnehmen zu können. Aber er irrte. Schon der Artefaktschmied, der ihr die Metallbänder damals anlegte, hatte sie auf die Endgültigkeit hingewiesen.
»Du hast nur Angst, Cyriana.«»Angst?«»Die Armschienen sind dein Anker. Du klammerst dich an ihnen fest wie ein Kleinkind. Aber in Wahrheit sind sie wie ein Klotz am Bein.«»Lass mich in Ruhe. Du warst doch gar nicht dabei, als sie mir umgelegt wurden.«»Ich hoffe, es hat weh getan.«
Ja, das hatte es. Sie erinnerte sich zurück an den Tag, als sie den Artefaktschmied aufgesucht hatte, um ihre Auftragsarbeit in Empfang zu nehmen, und ihn bat, sie ihr umzuschnallen. Er hatte entgeistert aufgeblickt.
»Die Schienen sind für euch?«»Ja. Bitte legt sie mir an.«»Nein, das könnt ihr nicht wahrhaft in Betracht ziehen. Es gibt kein Zurück.«»Das ist gut, Herr Schmied.«»Ich glaube, ihr missversteht. Die Schienen sind so konzipiert, dass sie euch töten, solltet ihr je wagen, sie abzunehmen.«»Genau so wollte ich sie haben.«
Der Artefaktschmied hatte sich zurückgelehnt und seine Hände abwehrend nach oben gestreckt. »Ihr werdet es einst bereuen, euch selbst zu verleugnen.«»Legt sie an.«
Widerstrebend hatte er sich schließlich ihrem Willen gebeugt. Als die Schnallen sich um ihre Unterarme schlossen, hatte sie das Gefühl, ein Teil von ihr würde herausgebrannt werden. Sie hatte es genossen.
»Es war wunderschön, Zurolon«, antwortete sie ihm und erntete ein abfälliges Zischeln.
Die Drachenschlange sprang auf den Tisch und ließ etwas aus ihren Krallen herausfallen. Eine rote, einzelne Moderbeere rollte über die Holzplatte auf die Kräuterkundige zu. »Dann sieh dir das mal genau an.«
»Bist du verrückt? Wenn Ogbert oder Ogwina die Beere essen, war alles umsonst.« »Nicht die Zwillinge sind es, um die du dich sorgen solltest. Was willst du unternehmen?«
Cyriana nahm die kleine rote Frucht in die Hand und beäugte sie neugierig. Sie sah so harmlos aus, so unscheinbar. Die Schale fühlte sich rau und hart an. Tief in ihr wurde der Wunsch wach, die Beere zu essen. Es war fast so, als riefe die Frucht nach ihr. Sie war auf der Suche.
»Am sichersten ist es, wenn alle wegziehen. Niemand kann sich dem Wald entgegenstellen.«»Die Menschen werden nicht gehen, nur weil eine verschrobene Kräuterkundige wirre Andeutungen macht. Sie werden sterben ... «
Cyriana seufzte. Ihr kleiner Freund hatte Recht. Ihre Rufe würden ungehört verhallen.»Ehe du fragst, Zurolon, ich bleibe hier.«
»Das ist offensichtlich. Du sitzt hier dumm rum und wartest ab, bis sie kommen und dich umbringen. Sie wird dich suchen.«»Dann wird es eben enden.«»Suhlst du dich etwa in Selbstmitleid?«
Fußgetrappel am Eingang. Augenblicklich reagierte die kleine Drachenschlange, sprang vom Tisch und verschwand im Schatten. Fast zeitgleich öffnete sich die Haustür und die beiden Kinder stürmten in die Stube.
Rasch warf sich Cyriana die Beere in den Mund und schluckte sie.
Die Worte des Reims hallten in ihr nach. »rot bringt auch das Blut, und der Magie die Glut.«Die Beere würde ihr nicht schaden. Sie sah die beiden Zwillinge an und setzte ein freundliches Lächeln auf.
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...