Am Rande des Untergangs

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Ignatus wurde sogleich von zwei Gardisten gepackt und in eine der hinteren Ecken des Schankraums gezogen. Dairos schüttelte sich kurz und zog in einer einzigen geschmeidigen Bewegung sein Schwert. Im Dunkeln gewahrte Cyriana ein gelbliches Schimmern auf der Schneide der Waffe. Es war eine aus dem Metall Raden-Surs geschmiedete, und von dessen Jüngern gesegnete Klinge.

Einer der Menschen wurde von einem Nachtschrecken gepackt. Mit atemberaubender Schnelligkeit trocknete der Körper des Unglückseligen aus und fiel zerbröselnd in sich zusammen. Die Kreatur stieß ein zufriedenes Glucksen aus und eilte aus dem Schankraum.

Cyriana schrie überrascht auf, als dicht neben ihr ein Ordensgardist strauchelte und sie fast von ihrem Stuhl riss. Ihr Blick fiel auf den Holzboden. Sie hatten alle nicht mehr an das Hexenmyzel gedacht. Das Wurzelwerk hatte sich in den zurückliegenden Stunden bis nach Granitfurt ausgedehnt. Es musste Torcaans Gräben unterwuchert haben. Nun überrannten die wohl entsetzlichsten Kreaturen des Walds, die Nachtschrecken, den Ort.

Dairos schwang das Schwert auf sie zu. Viel zu überrascht, um noch auszuweichen, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Klirrend zerteilte die scharfe Schneide der magischen Klinge die Glieder der Handschellen. Cyriana war ihre Fessel los.

»Ihr seid frei«, rief er über das Getümmel hinweg. »Flieht.«

Der Gardist, der zuvor gestrauchelt war, wurde von einer finsteren Gestalt attackiert. Der Mann schlug mit dem eiligst gezogenen Schwert zu. Getroffen wankte die unheilige Kreatur zurück.

Eine einfache Hiebwaffe wird nichts ausrichten, durchzuckte es sie, ... wir sind verloren.

Nur Dairos' Klinge versprach Hoffnung. Mit wilden Hieben trieb der Ordensritter die Nachtschrecken zurück. Eines der Geschöpfe zuckte getroffen zusammen, stieß einen schrillen Schrei aus und löste sich auf.

Weitere Menschen kamen über Nebeneingänge in den Schankraum. Sie suchten panisch die Nähe der Ordensleute, welche aber ihrerseits hilflos herumstanden und mühevoll mit ihren Hieben die eindringenden Kreaturen auf Abstand hielten.

Einer der Gardisten wurde von einem der Nachtschrecken berührt. Diesmal ging es nicht so schnell. Der Mann wehrte sich mit eisernem Willen dagegen, ausgesaugt zu werden. Die heiligen Riten der Ordensritter schufen einen gewissen Schutz.

Dennoch wäre er verloren gewesen, hätte Cyriana nicht den Wissensstein vom Tisch ergriffen und ihn gegen den Schädel des finsteren Wesens geschleudert. Magie prallte auf Magie. Die Kreatur torkelte zurück, ließ den Gardisten frei.

Im nächsten Moment reagierte der Wissensstein, verfärbte sich schwarz und tauchte den Gastraum in eine Dunkelheit, die jegliches Licht der Lampen erstickte. Erschreckte Schreie folgten. Die Nachtschrecken nutzten den Augenblick und schlugen gnadenlos zu.

Sekunden später erlosch die Magie des Artefakts und das flackernde Licht der Laternen kehrte zurück. Cyriana stand wie erstarrt. Ihre Tat hatte alles nur noch verschlimmert.

Menschen schrien in Panik und immer, wenn ein Nachtschrecken ein Opfer berührt und ausgesaugt hatte, verließ die untote Kreatur sogleich die Herberge.

Sie kehren zurück in den Wald ... zu ihr ... es ist zu spät, durchzuckte es Cyriana. Sie wurde von einem Gardisten zur Seite geschleudert. Die zupackenden Hände eines dunklen Geschöpfs glitten ins Leere. »Passt auf, sonst werdet ihr getötet.«

Ignatus riss sie an einer Schulter herum. »Das ist euer Werk, Hexe! Dasselbe ist auch in Ulmenstein schon geschehen. Der gesamte Ort wurde ausgelöscht. Das ist unser aller Ende.«

Sie schüttelte ihn ab, torkelte verwirrt gegen eine Wand. Bei den Göttern, Ulmenstein, hämmerte es in ihr, nicht schon wieder. Auch damals hatte alles dort begonnen.

Dairos von Ordon stand unterdessen auf schwierigem Posten. Nur er war im Besitz einer geweihten Klinge. Den Waffen der Gardisten fehlte die Segnung. Doch wie ein Fels in der Brandung hielt er die Stellung an der Tür.

Verfolgt von einem Nachtschrecken, der durch eines der Fenster eindrang, suchte ein Mädchen hinter ihrer Mutter Schutz. Beide wichen panisch zurück, stießen gegen einen der Tische. Die Lampe fiel zu Boden und splitternd brach das Glas. Die ölige Flüssigkeit lief aus. Im Nu loderten Flammen in die Höhe, tauchten den Raum in zuckenden Schein. Ein Gardist fing Feuer und torkelte schreiend durch den Schankraum, prallte gegen eine Wand und sank an ihr herab.

Erinnerungen tanzten höhnisch vor ihrem inneren Auge, verlachten sie. Sie wankte durch Feuer und Rauch ... brennende Menschen wälzten sich am Boden, weinende Kinder klammerten sich am Saum ihrer niedergestreckten Mütter ... Schwertergeklirr. Über ihr verfärbte sich der Himmel blutrot und das Antlitz ihrer Schwester schälte sich aus den Wolken, beäugte sie anklagend, ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Wehklagen, ihre feuerroten Haare wehten im Wind ... dann brach ihr Blick.

Die panischen Schreie der Mutter und ihrem Kind holten Cyriana wieder zurück. Sie sah, wie die Kreatur ihre knöchernen Hände nach ihnen ausstreckte.

Du musst handeln, hörte sie Zurolons Stimme in Gedanken. Die kleine Drachenschlange starrte sie böse an. Wehre ... dich ... endlich ...

Mit einem gellenden Schrei warf sich Cyriana nach vorne, auf den Nachtschrecken, umschlang ihn mit ihren Armen. Voller Wut rammte sie dem finsteren Geschöpf ihre Faust in den Torso, ließ ihren druidischen Kräften freien Lauf. Die Kreatur bäumte sich auf, starrte sie ungläubig an und ... zerbarst.

Unversehens fand sich Cyriana auf dem Boden. Um sie herum tobte das Chaos. Der Herzschlag pochte ihr bis zum Hals. Sie holte tief Luft.

Zwei Gardisten standen an einem der Hintereingänge und halfen einigen Frauen und Kindern in den Schankraum. Andere warfen Tische um und verrammelten die Fenster. Zwei Männer traten das Feuer aus.

Von der Treppe schwebten drei Nachtschrecken herab. Dicht neben ihr schrie ein Gardist auf, torkelte einen Schritt auf sie zu und ging in die Knie. Sein mumifizierter Körper schlug schwer auf dem Boden auf.

Dairos stand immer noch am Haupteingang und trieb unerbittlich die Kreaturen zurück. Doch in seinem Rücken kämpfte jeder bereits um sein nacktes Leben.

Männer, Frauen, Kinder ... starben einer nach dem anderen. Eine Nebentür zersplitterte und die beiden Gardisten, die sich verzweifelt gegen sie gestemmt hatten, wurden in den Innenraum geschleudert. Dunkle Gestalten drängten herein.

Cyriana schluckte. Ein tolldreister Gedanke keimte in ihr, schlug Wurzeln. Sie ignorierte ihre Furcht, stürzte zu den Fenstern, die zur Vorderseite hinaus zeigten. Ein Nachtschatten wollte gerade eindringen. Sie trat ihm ihren Stiefel gegen die Brust und schleuderte ihn zurück in die Dunkelheit.

Bange warf sie einen raschen Blick hinüber zu dem blonden Ordensritter. Dairos starrte sie entgeistert an. In seinen Augen wechselte Verzweiflung zu grimmiger Entschlossenheit. Er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand, war bereit zu sterben.

»Ich brauche echten Boden, Ordensmann ... und bei Raden-Sur ... helft mir!«, brüllte Cyriana dem Ritter zu, während sie sich durch ein Fenster unbeholfen ins Freie zwängte. Hinein in die Dunkelheit voll herumstreifender Nachtschrecken.

Einen Moment hielt sie bebend inne, erspürte unter den Sohlen ihrer Stiefel die dünne Erdschicht und darunter das sich windende, weiße Wurzelwerk. Die Straße war übersät mit schreienden Menschen und umherjagenden Nachtschrecken. Männer, Frauen und Kinder, die es noch aus ihren Häusern geschafft hatten, stoben panikerfüllt durch das Dunkel der Nacht.

Einige der unheiligen Wesen bemerkten die Druidin und näherten sich ihr. Ihr Herz raste. Das erste untote Geschöpf konnte sie noch zurückschleudern, doch dann wurde sie von zwei Nachtschrecken gleichzeitig ergriffen. Sie ächzte auf und ging in die Knie.

Ein schwarzer, katzengroßer Schatten warf sich auf eines der Wesen, biss zu, und jagte den Dorn am Schwanzende immer und immer wieder in die Kutte der Kreatur. Obwohl Zurolons Angriff keine sichtbare Wirkung entfaltete, lies der Nachtschrecken überrascht los, taumelte zischend zurück.

Cyriana zog das verbliebene Wesen, das an ihr hing und verzweifelt versuchte, ihr das Leben auszusaugen, näher an sich heran.

»Verschwinde, Zecke.« Sie schleuderte das untote Geschöpf meterweit durch die Luft in Richtung des Eingangs. Mit lautem Brüllen kämpfte sich in diesem Moment ein Mann in stahlblauer Rüstung bis in den Türrahmen. Mit einem einzigen Handstreich fegte er zwei der Angreifer zur Seite und trat ins Freie.

Immer mehr Nachtschrecken drangen auf ihn ein, doch der Ordensritter stand da wie ein von den Göttern geschickter Recke und trieb die Kreaturen Schritt für Schritt zurück, erreichte die Straße.

Cyriana ließ sich auf ihre Knie fallen und begann verzweifelt den Boden aufzugraben. Das hier war jedoch die Hauptstraße Granitfurts. Hier hatten unzählige Wägen das Erdreich hart wie Stein gepresst. Es war unmöglich. Ein Fingernagel brach. Sie grub trotz der Schmerzen weiter.

Etwas dunkles, katzengroßes sprang einige Schritt weit von ihr entfernt auf die Straße, Zurolons Krallen zogen tiefe Furchen in den Boden. Sie wollte zu der kleinen Drachenschlange eilen, doch eine Faust packte sie an ihren Haaren, zog sie weg. Gerade, als sie nach dem Arm des Nachtschreckens griff, näherte sich ihr ein Zweiter von vorne. Er umschloss ihre Taille und drückte sie fest an sich. Ein Schwächeanfall ließ sie ächzen. Dunkle Punkte flirrten wie Insekten vor ihren Augen.

Eine dritte Gestalt schnellte ihr entgegen, umklammerte ihre Beine, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Schwer krachte sie auf den Boden. Aus dem Dunkel schälten sich weitere Kreaturen.

Blindlings um sich schlagend, versuchte sie sich aus dem Griff der Nachtschrecken herauszuwinden, doch die finsteren Geschöpfe klebten unerbittlich an ihr, hielten sie fest, pressten ihr die Luft aus der Lunge, saugten an ihrer Lebenskraft. Sie spürte, wie sie schwächer wurde. Sollte es jetzt enden? Sie sah das Gesicht ihrer Schwester. Ihre grünen Augen blitzten zornbebend. Untersteh dich!

Schlagartig ließ der Druck nach.

Über ihre Schulter rollte der Kopf eines Nachtschreckens. Der Griff an ihren Haaren endete jäh. Im nächsten Moment fehlten der Kreatur, die sie umfasst hatte beide Arme. Eine gelblich schimmernde Klinge durchstieß den Torso eines weiteren untoten Wesens. Schützend baute sich Dairos vor ihr auf.

»Tut endlich, was ihr vorhabt, oder es ist zu spät.«

Cyriana nutzte den unverhofften Augenblick, robbte hinüber zu Zurolon. Die kleine Drachenschlange hatte den Boden soweit aufgewühlt, dass die Kräuterkundige das Hexenmyzel förmlich spürte. Sie konnte es nicht sehen, dazu war es zu dunkel, aber die unheiligen, weißen Wurzelstränge wanden und bogen sich, trunken vor Freude in der Mulde.

Einen Moment lang zögerte sie. Bei all ihren druidischen Fähigkeiten war es ein selbstmörderisches Vorhaben. Wie konnte sie es wagen, sich gegen diese Mächte zu stellen?

Ein kleines Mädchen rannte schreiend an ihr vorbei, verfolgt von einem Nachtschrecken. Nein, kein Zurück ... niemals ...

Sie stieß mit ihrer linken Hand in die Tiefe und umgriff das weiße Wurzelwerk. Siedend heißer Schmerz durchzuckte ihr Inneres. Ihr Körper begann zu zittern. Das Hexenmyzel versuchte sie abzustoßen, doch Ihr Griff wurde nur fester. ... Niemals ...

Ein gelbliches Leuchten umtanzte ihre Hand, als sie ihre heilende Magie in den Wurzelstrang pumpte. Das Myzel reagierte. Ein furchtbarer Schmerz zog sich vom Arm über ihre Schulter in ihre Brust. Auf ihrem Rücken entstand ein blutroter Fleck.

Sie ließ nicht los.

Ihr rechter Arm wurde jählings zur Seite gerissen. Mehrere Stellen ihrer Haut platzten auf, Blut sickerte ins Erdreich. Der Strang, den sie umfasst hielt, wand sich in ihrem Griff wie eine Schlange. Sie schloss für einen Moment die Augen, sah die brennenden Gehöfte, sah die weinenden Kinder ... sah die sterbende Schwester.

Sie ließ nicht los.

Einige Nachtschrecken blieben abrupt stehen, schauten sich irritiert um. Als sie sie erblickten, stießen sie einen furchtbaren Laut aus und rannten wie auf ein geheimes Kommando auf sie zu.
Bei den Göttern, sie werden mich unter sich begraben. Eine mächtige Gestalt sprang über sie hinweg und mit mehreren Hieben zerstückelte Dairos die Körper der heranstürmenden Kreaturen.

Cyriana keuchte, sah die wachsamen Augen ihrer Schwester vor ihrem inneren Auge. Finde Frieden ...

Sie ließ nicht los.

Auf der Straße wölbte sich der Boden. Weißes Myzel durchbrach kreischend das Erdreich, ringelte sich vor Schmerzen. Die Nachtschrecken verloren augenblicklich ihre Zielstrebigkeit, blieben überrascht und orientierungslos stehen. Wie ein gewaltiger Tentakel klatschte ein riesiger Wurzelstrang auf ihren Rücken. Wieder und immer wieder. Ihr Körper wurde zu einem einzigen brodelnden Feld des Schmerzes ... und das Leid Unzähliger schrillte im Chor.

Sie ließ nicht los.

Löcher entstanden im Boden und explosionsartig wurde weißes, sich schnell ins Grau wandelndes Wurzelwerk in die Luft geschleudert. In aufkommender Panik rannten die Nachtschrecken davon, Richtung Schattenwald. Viele kamen nicht weit, lösten sich auf und versickerten im Erdreich. Kreischend starb das Hexenmyzel unter ihnen ab. In einigen Löchern begann es zu flackern, dann entzündeten sich die ergrauten, wild gebärdenden Wurzelstränge, bildeten kleine brennende Gruben. Cyriana spürte ihren Körper nicht mehr. Sie wusste nicht, ob sie lebte oder schon tot war. ... Schwester, ich komme!

Der Wurzelstrang entglitt ihren kraftlosen Fingern. Sie sackte in sich zusammen. Die letzten Eindrücke, die sie mitnahm, waren die einer kleinen buckligen Gestalt, die aus der Herberge auf sie zulief und befahl sie zu fesseln.

Und ein großer hünenhafter Ritter, der sich über ihrem geschundenen Körper aufbaute. »Wer sie auch nur anrührt, stirbt.«

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt