Traumland

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Tywen behielt Kendar im Auge. Sie lagerten unweit des Schattenwalds an einem steil abfallenden Hang und hatten ein Feuer angefacht.

Der von einem Dämon besessene Kendar hatte keinen Finger gerührt, als Tywen Brennholz sammelte, welches er unweit in einer kleinen Senke voller Bäume und Sträucher auftrieb.

In einem Kocher brühte Tywen Wasser für einen Tee auf. Dabei griff er in seine Westentasche und tastete nach dem Beutel, den er von der alten Hexe bekommen hatte. Unschlüssig, ob er den Inhalt tatsächlich benutzen sollte, schielte er aus zusammengekniffenen Augen zu seinem Bruder hinüber.

Kendar spürte Tywens Blick auf sich ruhen, achtete aber nicht weiter darauf. Er reckte theatralisch seine Arme in die Höhe und ließ sich auf seine Schlafstatt nieder. Sie hatten seit der Begegnung mit der alten Frau kein Wort mehr miteinander gewechselt. Kendar war ihm so fremd, wie jeder andere, schlimmer noch, er fürchtete sich vor ihm.

Tywen hatte seinen Bruder den Abend über weder etwas essen, noch trinken sehen. Er fragte sich, wie lange der Dämon am Körper noch Raubbau betreiben konnte, bis es zu spät, bis die Hülle verbraucht war.

Raden-Surs Scheibe ging am Horizont unter und noch immer wagte Tywen nicht, sich seiner Müdigkeit hinzugeben. Obgleich sein Bruder besessen war, schien er kein Freund der Hexen zu sein. Es ging Tywen nicht aus dem Kopf, weshalb Cyriana so viel Einfluss auf Kendar ausübte. Hatte Sie ihn verzaubert, gar verhext, als sie beim damaligen Besuch alle anderen fortgeschickt hatte und allein mit ihm zurückblieb?

Ihm gegenüber hatte Cyriana angedeutet, nein, gestanden, sie wäre eine Hexe. Zuzutrauen wäre ihr also schon einiges in dieser Hinsicht. Jeder wusste, wie verschlagen diese Kreaturen waren. Wiewohl er keinen abgrundtiefen Hass auf Hexen verspürte, so galt es vorsichtig zu bleiben. Ihm fielen die Armschienen ein, die Cyriana trug. Sie wurden in den Kerkern Moorhafens genutzt, um Hexen an der Ausübung ihrer Magie zu hindern. War sie von dort geflohen?

Er hätte davon gehört, denn es gab nur gut ein Dutzend dieser magischen Stücke, die einst von den legendären Artefaktschmieden angefertigt worden waren. Und wenn sie sie trug, dann war sie keiner Hexerei mehr mächtig. Unmöglich.

Gedankenverloren lehnte er sich gegen den blanken Stein des Abhangs. Sein Langschwert hatte er abgenommen, die Armbrust steckte noch im Gehänge des Sattels.

Konnte er der alten Hexe aus dem kleinen Weiler vertrauen? Es mochte gut sein, dass die Kräuter blankes Gift waren und sie sich somit an ihm rächen wollte. Sie hatte sie ihm angeblich gegeben, damit er sich besser vor seinem Bruder schützen konnte. Es war in der Tat nicht zu verleugnen, Kendar stellte für ihn eine Gefahr dar. Er öffnete den Beutel und fächerte einen Teil davon in seiner offenen Handfläche auf.

Die Kräuter rochen streng, aber nicht unangenehm. Sein Wissen über Pflanzen, speziell über heilkundige Gewächse gering zu nennen, war eine Übertreibung. Er hatte den Umgang mit Schwert und Armbrust gelernt. Pflanzenkunde hatte im Lehrplan gefehlt.

Er nahm sich aus dem Wasserschlauch etwas Wasser und warf eine Messerspitze der Kräuter aus dem Säckchen in die Tasse, sah zu, wie sie zunächst kreisend an der Oberfläche schwammen, um dann nach und nach in die Tiefe zu sinken. Es war viel weniger, als die Hexe ihm angeraten hatte, aber wenn es sich um Gift handelte, so würde er mit etwas Glück nur mit Bauchschmerzen erwachen.

Tywen gab sich einen Ruck und leerte die Tasse mit einem Zug. Er vertraute seiner Intuition, die ihm einflüsterte, dass Kendar gefährlicher als die alte Hexe war und er sich vorsehen musste.Schließlich, nach endlosen, weiteren Minuten, in denen sich seine Gedanken im Kreis drehten, forderte die Müdigkeit ihren Tribut und der Ritter aus Dryadengrün schlief ein.

Er stand auf einer grünen, weiten Ebene. Das Gras wogte leise im Wind. Über den blauen Himmel zog ein Vogelschwarm.

»Hallo Bruder.«

Tywen drehte sich um und starrte in tiefrot leuchtende Augen. Kendar stand vor ihm und fixierte ihn mit durchbohrenden Blicken.

»Du bist nicht Kendar. Du bist eine Ausgeburt der Hölle.«»Ich bin was ich bin. Und im Moment bin ich Kendar. Das ist sein Körper und ich spüre auch seinen Geist in mir. Weist du, er ist ziemlich stark und will nicht gehen.«

Tywen wollte vorspringen und die Kreatur würgen, konnte sich aber nicht rühren. Irgendetwas hielt ihn fest.

Bedächtig nickte Kendar, während er begann, Tywen, der sich immer noch nicht bewegen konnte, zu umrunden.

Es sah so friedlich aus. Insekten summten im grünen, knöchelhohen Gras. Schmetterlinge bestäubten einige Blüten. Der Himmel war wolkenlos und blau wie das weite Meer, das Tywen von den Küsten Dryadengrüns kannte. Er konnte jedoch keine Sonne entdecken.

Und sein Bruder umschlich ihn gleich einem Raubtier, dass seiner Beute keine Möglichkeit zur Flucht geben wollte. Langsam, jeden Schritt abwägend, dabei den Blick immer fest auf das Opfer gerichtet. In den rot funkelnden Augen seines Bruders gewahrte er eine brutale Erbarmungslosigkeit, ungestillten Blutdurst und zügellose Gier.

»Das ist ein Traum, Kendar. Du kannst mir nichts antun.«»Kann ich nicht?« Die Kreatur, die aussah wie sein Bruder, blieb abrupt stehen. Tywen nahm ihn gerade noch am Rand seines Gesichtsfelds wahr.»Was willst du, Dämon?«

Kendar hatte seinen Gang wieder aufgenommen und befand sich nun im Rücken Tywens. Seine Nackenhaare sträubten sich, als er den Atem seines Bruders spürte. Dicht neben seinem Gesicht gewahrte er den Kopf des Prinzen.

Wenn das ein Traum war, dann war er sehr real.

»Ich will dich«, hauchte ein Flüstern.

Tywen versteifte sich. Er hatte doch die Kräuter genommen. Halluzinierte er deswegen, oder hätten die Kräuter ihn hiervor schützen sollen? Wenn ja, so hatten sie ihren Zweck verfehlt. Vielleicht, so gestand er sich ein, hätte er auch, wie von der Hexe angeraten, mehr davon in die Tasse werfen müssen.

»Warum?«»Oh, dies ist ganz einfach, Prinz aus Dryadengrün. Soll ich dich erleuchten?«

Kendar nahm seine Umrundung wieder auf, schwieg aber. Tywen beobachtete, wie die Gestalt des Prinzen sich vor ihm aufbaute. Dabei hatte sie sich verändert. Die menschliche Gestalt zerfloss zusehends und machte einer abscheulichen Kreatur Platz, die ihn aus tiefroten Augen anstarrte.

Die Arme des Dämons schleiften am Boden, endeten in krallenbewehrten Händen mit jeweils vier Fingern. Die Füße waren eingeknickt, waren aber unglaublich muskulös. Der Kopf glich dem einer haarlosen Katze.

Sah er das wahre Antlitz des Dämons?

»Mein Wirt brennt aus. Ich spüre, dass seine Tage gezählt sind. Ich kann aber nur existieren, wenn ich einen neuen Körper finde. Und dein muskelbepackter Leib erfüllt alle meine Anforderungen.«

»Du wirst mich nicht bekommen, Dämon.«Die Kreatur antwortete mit einem spöttischen Gelächter. »Als ob du das in der Hand hättest.«Sie beugte sich verschwörerisch nach vorne. »Ich werde es lieben, in dir zu nisten.«»Nein, wirst du nicht.« Tywen gelang es, sich aus der Erstarrung zu lösen und nach vorne zu treten. Überrascht wich der Dämon zurück.

»Was bist du, Kreatur? Was hat Cyriana mit dir zu tun?« Er packte die Kreatur am Hals und schüttelte sie. Der Dämon quietschte überrascht, hatte wohl nicht mit Tywens beherzter Attacke gerechnet.

Möglicherweise begannen die Kräuter zu wirken.

Die Haut des Dämons fühlte sich kalt und glitschig an. Die stumpfen Krallen glitten an seinem Arm ab, ohne Schaden anzurichten. Alles Lug und Trug, die Kreatur hatte ihn in dieser furchterregenden Gestalt nur einschüchtern wollen.

Tywen drückte zu.

»Erwürge mich, dann stirbt auch Kendar«, brachte das Wesen spuckend hervor. Der Halbprinz hielt inne. Konnte das wahr sein? Er wusste es nicht. Aber was ihm klar wurde, war, dass er hier und jetzt den Dämon physisch attackieren konnte. Es war wohl den Kräutern zu verdanken, dass er sich wehren konnte und damit hatte er die Kreatur überrascht.

Er würde keine zweite Chance bekommen.

»Was hat Cyriana mit dir zu tun?«

Gehässig gackernd strampelte der Dämon in Tywens stahlhartem Griff.

»Sie ist meine Herrin. Sie hat mich an die Sonnenscheibe Raden-Surs gebunden.«Cyriana! Sie steckte also hinter all dem. Seine Augen verdunkelten sich vor Wut.Aber konnte er der Kreatur vertrauen? Einem Dämon, dessen Wesen Tod und die Lüge war. Andererseits war es schon irritierend gewesen, dass das Wesen ihm bereitwillig gefolgt war ... kaum dass er den Namen der Hexe hatte fallen lassen.

Er würde ihre Rolle klären und sollte die Kräuterkundige tatsächlich Schuld an Kendars Zustand haben, so würde sie dafür mit ihrem Blut zahlen müssen.

Immer noch versuchte der Dämon verzweifelt seinen Griff zu brechen, scheiterte aber kläglich. Die rötlichen Augen wurden stumpfer. Tywen war sich unsicher, wie weit er gehen konnte. Hier in dieser Traumwelt war er dem Dämon nahe. Er konnte ihn attackieren und vielleicht sogar töten. Was würde aber dann mit seinem Bruder geschehen? Wäre der Bann gebrochen oder würde der Dämon ihn mit in den Tod reißen?

Cyriana hatte gesagt, nur in der Kraterschmiede sei Heilung möglich. Auch das alte Hexenweib aus dem kleinen Weiler hatte angedeutet, dass es nicht leicht sei, den Dämon loszuwerden. Aber beide waren Hexen, Cyrianas Wort war somit kaum etwas wert... und selbst wenn, hatten sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen?

»Denk an deinen Bruder. Lass mich los ...«, keuchte die Kreatur verzweifelt.

Tywen fasste einen Entschluss. Es ging um seinen Bruder und möglicherweise gab es keine bessere Gelegenheit mehr als diese. Er zog die Kreatur nahe an sich heran.

»Dumm gelaufen«, hauchte er ihm ins Ohr. 

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt