Verborgene Bibliothek

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In seinem langen Leben hatte Tanat zum Weidentor viel erlebt. Bauern hatten sich schon gegen den Orden aufgelehnt. Adelige hatten versucht, ihre Pläne auf den Rücken der Ordensäbte auszutragen. Einmal, damals als er kurz davor stand das Amt des Großmeisters anzunehmen, hatte es sogar einen Anschlag gegen ihn gegeben.

Aber die Weigerung eines jungen Ordensritters auf seinen direkten Befehl hin war etwas gänzlich Neues, Erschreckendes. Die harte Schule des Ordens prügelte aus jedem Novizen den noch so kleinsten Funken an Ungehorsam und Trotz heraus.

Dairos von Ordon hatte sich in wenigen Tagen drastisch verändert. Das fanatische Funkeln war wie weggeblasen, hatte einer traurigen Leere Platz gemacht. Was ging in dem jungen Mann vor? Er hätte ihn festsetzen können, um ihn im Kerker den rechten Gehorsam einzuhämmern. Aber es stand außer Frage, dass Dairos ungemein fähig war. Er konnte es sich nicht leisten, auf ihn zu verzichten. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht, doch später würde er auf diese Insubordination zurückkommen.

»Erklärt euch, junger Ordensritter. Ihr widersetzt euch dem Wort eines Ordensabts«, fauchte nun der bucklige Wissenswahrer. Ähnliches hatte er ebenfalls sagen wollen.

Der blonde Ordensritter schnaubte ungehalten. Als er aufstand, streifte er den Tisch. Kelche kippten um und dunkelroter Wein bildete stille Seen.

Tanat zum Weidentor schrak zusammen. Mit diesem, geradezu gewalttätigen Ausbruch hatte er nicht gerechnet. Wie sehr hatte sich der junge Ritter gewandelt. Der Fanatismus war noch da, aber er galt nicht mehr dem Orden.

»Die ganze Zeit über höre ich Geschichten von Yenraven, dem Hexenkrieg, vom Schattenwald, von einer goldenen Sonnenscheibe. Und jedes Mal kommen Details hinzu oder ändern sich. Ich habe dieses Lügengebilde satt.«

Er sah vom Ordensabt zum Wissenswahrer und warf beiden einen tadelnden Blick zu. »Der Orden ist rein, der Orden ist strahlend. In seinem Glanze leuchten Ruhm und Ehre. Das sind doch nur leere Worte. Lasst uns gemeinsam die Wahrheit finden. Wir haben nicht mehr die Zeit für kleinliche Momente. Keine Geheimniskrämereien mehr.«

»Dann beginnt ihr, junger Ordensritter. Hat euch Cyriana etwas Bedeutsames erzählt?«, wollte Ignatus vom goldenen Turm wissen.

Tanat entging nicht, dass Dairos zusammenzuckte, sich aber sogleich bemühte ein nichtssagendes Lächeln aufzusetzen. Freiwillig würde der Ritter nichts sagen. Er musste einschreiten, sich seinen Einfluss sichern und die Gemüter beruhigen.

»Eure Worte sind wahrhaftig, Dairos. Lasst uns also gemeinsam die Wahrheit finden.«Zufrieden stellte Tanat fest, dass ein Ruck durch den blonden Ritter ging.

»Cyriana erzählte mir etwas über die Sonnenscheibe. Ich habe geschworen, es für mich zu behalten. Das Wort eines Ordensritters. Es ist nichts, was im direkten Zusammenhang mit dem Blutritus oder mit ihr selbst steht.«

Tanat beobachtete, wie Dairos prüfend in die Runde blickte. Ignatus war deutlich anzusehen, was er von diesem Versprechen hielt. Aber dem Wissenswahrer waren die Werte des Ordens ohnehin allerlei, sofern er sie nicht als Waffe gegen andere einsetzen konnte. Nein, Tanat fasste einen Entschluss, für einen Ordensabt war der Gelehrte aus der königlichen Dynastie nicht geeignet.

Er selbst würde das Wort eines Ordensritters natürlich achten. Aber vielleicht gab es Möglichkeiten, ihn dennoch zum Sprechen zu bringen.

»Kraft meines Amtes entbinde ich euch von eurem Versprechen, Dairos. Ihr begeht also an den Werten des Ordens keinen Verrat, wenn ihr nun frei sprecht.«

Irritiert starrte Dairos ihn an. »Ihr ... entbindet ... mich ... von meinem Schwur?«»Ich verkörpere den Orden wie kein anderer. Niemand wird mir widersprechen, wenn ich sage, ich bin eine Legende. Raden-Sur spricht aus mir.«

Der junge Ordensritter wankte. Die Lehre des Ordens verbunden mit der eingehämmerten Loyalität zu seinen Vorgesetzten verunsicherten ihn. Doch schließlich schüttelte Dairos den Kopf. »Nein.«

Tanat war enttäuscht, zeigte dies aber nicht. »Ich verstehe euch, Dairos von Ordon. Ein gegebenes Wort ist heilig.« Er straffte sich. Vor seinen Augen verschwamm für einen Moment die Umgebung. Hatte er zu viel Wein getrunken? Um Dairos das Geheimnis zu entlocken, durfte er ihn jetzt aber nicht aussperren. »Wir werden später darüber nochmal ausführlich sprechen. Ihr habt euren Wert bewiesen. Um diese Krise zu meistern, werden wir uns nun gemeinsam zur verborgenen Bibliothek aufmachen.«

Ignatus vom goldenen Turm schien zunächst verwirrt, doch dann riss er seine Augen weit auf. »Die verborgene Bibliothek. Es gibt sie also doch.«

»Ja, Wissenswahrer. Glaubtet ihr etwa, es gäbe keinen Grund, weshalb ich, Tanat zum Weidentor in dieser etwas abgelegenen Ordensburg Dienst schiebe? Ich verwalte für den Orden dessen größten Schatz.«

»Und was ist die verborgene Bibliothek?« Dairos von Ordon hatte nie zuvor davon gehört. Er tat sich ohnehin schwer damit Bücher und die Vielzahl ihrer verwirrenden Inhalte mit den klaren Lehren des Ordens in einer Koexistenz zu sehen.

»Mein lieber Dairos. Ihr habt die Weihe zum Ritter über die Schule Ordon erhalten. Die Schule Ordon ist bekannt dafür, Bücher abseits der Lehre abzulehnen. Derartige Bücher enthalten oftmals unangenehme, der Lehre des Ordens widersprechende Passagen, die ...«, er grinste freudlos, »... aber wahr sind.«

Dairos von Ordon ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen, griff sich einen der umgestürzten Kelche und leerte den kargen Rest. Seine Lippen bewegten sich. Zweifellos rezitierte er still die Richtlinien des Gleichmuts.

Tanat holte tief Luft, ehe er fortfuhr. »Der Orden ist zwar tief in seinen Lehren verwurzelt, aber er ist nicht dämlich. Bücher mit unangenehmen Inhalten müssen zwar entfernt werden, sollten aber auch zur Verfügung stehen, wenn man sie benötigt. Exemplare dieser besonderen Bücher werden in der verborgenen Bibliothek aufbewahrt. Nur wenige haben Zugriff oder wissen davon. Ihr, Dairos von Ordon zählt nun zu den wenigen Glücklichen. Ehe wir diese Bibliothek, die tief unter der Burg versteckt ist, aufsuchen, brauche ich also euer Wort als Ordensritter, dass ihr niemals mit irgendjemandem darüber sprechen werdet.«

Dairos nickte. »Bei meiner Ehre und beim Glanz des Ordens, ihr habt mein Wort.« Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort. »Welche ordensfeindliche Wahrheit suchen wir dort?«

Tanat ging nicht auf Dairos' ketzerische Frage ein. Er gab den anderen ein Zeichen ihm zu folgen.»Wir müssen mehr über den Blutritus erfahren, über die Gefahr die uns droht. Es muss Aufzeichnungen über den Hexenkrieg geben, die nicht in die Legenden eingeflossen sind«, steckte Tanat das ihm wichtigste Ziel ab.

Ignatus vom goldenen Turm ergänzte. »Wir sollten über Cyriana Nachforschungen anstellen. Vielleicht erfahren wir mehr über sie. Sie hat unzweifelhaft Fähigkeiten einer ungemein mächtigen Druidin. Wenn sie tatsächlich schon sehr lange lebt, dann hat sie ihre Fußabdrücke in der Geschichte hinterlassen. Diese müssen wir aufspüren. Vielleicht finden wir auch Hinweise darauf, wieso sie wohl auch eine Bluthexe ist.«

Tanat führte Ignatus und Dairos in einen Bereich der Ordensburg, der weniger frequentiert war. Vor einer alten schäbigen Fichtentür, die den Eindruck machte, als wäre dahinter nur eine Abstellkammer, blieb er schließlich stehen.

Die Tür war nicht einmal abgeschlossen.

»Eine überzeugende Tarnung ist besser als eine schwer bewaffnete Schutztruppe. Das eine wird nicht wahrgenommen, das andere macht Menschen neugierig.«

Sie betraten einen winzigen Raum mit einer Unzahl übereinandergestapelter Stühle und Hocker.»Wir müssen das Gerümpel zur Seite räumen«, befahl er seinen beiden Begleitern und schloss hinter sich die Tür. Diesmal legte er einen schweren Riegel vor.

Dairos schob die Stühle und Schemel zur Seite. Darunter kam ein alter verfilzter Teppich zum Vorschein. Der bucklige Wissenswahrer rollte ihn auf und legte eine Falltür frei.

»Was erwartet uns dort unten?«, wollte der junge Ordensritter wissen.»Die Treppe führt tief unter die Ordensburg. Ihr müsst stark sein, Dairos von Ordon. Die Bibliothek ist weitläufig, beschützt und bewahrt durch die Magie mächtiger Zauberer, die der Orden dafür einst fürstlich entlohnte.«

»Magier?«, echote Dairos. Sein Glauben an die Lehre des Ordens wurde durch jedes Wort, das in den letzten Minuten gesprochen worden war, mehr und mehr pulverisiert.»Der Orden hasst Magie. Wir lehnen das ab«, hauchte er fassungslos.»Nun junger Ordensritter wisst ihr, warum die Bibliothek verborgen und unsere Geschichte gereinigt wurde. Die Wahrheiten sind nicht immer zu ertragen. Wir lehnen die Magie offiziell ab, da wir ihre Macht fürchten.«

Tanat beugte sich vor und öffnete die Luke. Eine enge Wendeltreppe führte in die Tiefe.»Nur der Großmeister, ich und die vom Orden der Stimmlosen wissen hiervon. Einmal im Jahr öffne ich diesen Trakt und dann kommen die zungenlosen Ordensmänner und verstauen neue Werke in der Bibliothek.«

»Dann ist niemand dort unten?«, wollte Dairos wissen.Tanat nickte. »Es ist nicht notwendig.«

Sie stiegen die Treppe hinab. An deren Fuße leuchteten einige Steine auf und tauchten den Ort in einen milchigen Schimmer. Dairos rezitierte kaum vernehmbar die Richtlinien des Gleichmuts. Ihm war anzusehen, dass sein fester Glauben Risse bekommen hatte. Aber nicht erst seit heute, durchfuhr es Tanat. Er musste bei Gelegenheit mit Ignatus allein sprechen. Es musste noch etwas vorgefallen sein, über das sich Dairos ausschwieg.

Eine mehrfach verriegelte Tür, verstärkt mit metallenen Bändern, verhinderte das Fortkommen. »Man muss die Riegel in der richtigen Sequenz öffnen, sonst bleibt das Tor verschlossen.« Tanat machte sich an den Sperren zu schaffen. Er bemerkte, dass Ignatus aufmerksam zusah und sich die Reihenfolge einprägte.

Natürlich tut er das, dachte Tanat, er weiß, dass Wissen Macht ist.Die schwere Eichentür schlug auf. Über ineinandergeschachtelte Treppen ging es tiefer, wobei gelblich glimmende Steine in den Wänden den Weg ausleuchteten. Die Stufen der Treppen wirkten weiß, wie gemahlene Knochen.

»Das sind Schimmersteine. Aber so viele und so große habe ich noch nie zuvor gesehen«, merkte Ignatus an und fuhr mit einer Hand über einen handtellergroßen Stein, der im Mauerwerk eingesetzt, einen gelblichen Schein warf.

Wenig später erreichten sie die erste größere Halle. Diese war gespickt mit einer Vielzahl von überquellenden Regalen voller Bücher. Jedes Mal wenn er herunterkam, war Tanat beeindruckt, wie ungewohnt sauber es hier war. Keine Spinnweben, kein Staub, kein Verfall.

Er roch die Magie förmlich. Es widerte ihn an ... und faszinierte ihn.

»Hier müssen wir suchen.« Tanat blieb an einem großen Pult stehen und klopfte mehrere Male auf das Holz.

Ignatus sah sich mit leuchtenden Augen um. Auch ohne dass es irgendwer gesagt hatte, wussten sie alle, welche Schätze hier lagen. All jene Bücher, die dem Orden unerträglich waren und die er in den Jahrhunderten außer Verkehr ziehen ließ, weil sie Geschichten erzählten, die nicht dem Kanon des Ordens folgten. Ein unermesslicher Wissensschatz.

Tanat verlangte lautstark Bücher über den Hexenkrieg. Nach jedem Klopfen bildete sich ein Nebel auf dem Pult und ein Buch materialisierte.

Nachdem drei Bücher auf dem Pult lagen, blickte er zufrieden um sich.»Lasst uns nach der Wahrheit über Yenravens Hexenkrieg suchen.«

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt