Cyriana endete mit ihrer Schilderung und begann über das Damalige zu grübeln.
»Was ist mit dieser Schlacht, die im Wald stattfand? Was ist damals wirklich geschehen?«, erkundigte sich Dairos.
Die kräuterkundige Druidin bemerkte, dass der Ballon langsamer geworden war und nötigte den Wind dazu, wieder etwas kräftiger um die Hülle herum zu wehen.
»Meine Schwester und ich wollten die Gefangenen freilassen, doch die Hexen ließen das nicht zu. Wir erzählten ihnen von Halikarnosas wahren Absichten. Daraufhin bildeten sich zwei Lager. Die einen stellten sich auf unsere Seite, die anderen blieben verblendet. Entweder war es ihnen egal, ob Halikarnosa dies alles nur tat, um zur Göttin zu werden, oder sie glaubten uns nicht. Jedenfalls drangen sie darauf, dass wir den Blutritus vollziehen, um die Menschen zu töten. Sie wollten auch nicht, dass wir fortgehen. Halikarnosa brauchte uns für den Ritus.«
»Warum bliebt ihr? Ihr hättet mit dem Saphir des Hohen Meisters fliehen können«, hakte Dairos nach.»Nein, wohl nicht. Kaspians Stein schenkt nur einer Person den Schutz des Unbemerktseins. Entweder meine Schwester oder ich hätten zurückbleiben müssen. Das wollten wir nicht riskieren.«»Wart ihr und eure Schwester nicht mächtiger als die anderen Hexen?«
Cyriana schüttelte traurig den Kopf. Sie erinnerte sich an lange, gesellige Abende am Lagerfeuer. Sie hatten zusammen gelacht und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Auch jetzt noch kannte sie die Namen fast aller ihrer damaligen Mitstreiterinnen.
»Wir waren eine verschworene Gemeinschaft, gar eine Familie. Gewalt gegen unsereins? Nein, das ging nicht.«»Was war mit den Gefangenen?«
Cyrianas Stimme brach mehrfach beim Erzählen.»In einer der darauffolgenden Nächte überzeugte Halikarnosa viele der Hexen davon, die Gefangenen in einem Ritual der Stärke zu töten. Sie gewannen immense Kräfte, zahlten aber mit ihrer Seele dafür. Wir erkannten sie nicht mehr wieder.«
»Was tatet ihr?«»Wir fassten den Plan, den Hexenstein zu zerstören.«»Doch dann kam Gorald«, fügte Dairos an.»Ja, dann kam Gorald. Halikarnosa muss nach ihm geschickt haben. Ich denke, ihr Plan war, einer von uns habhaft zu werden, um die andere zu zwingen, das Blutritual durchzuführen.«
Nachdenklich rieb sich Kendar seine Schläfen.
»Aber die Gefangenen waren doch tot. Brauchtet ihr diese nicht für das Ritual?«»Im Grunde schon. Aber es gab ja immer noch die Hexen und die Ordensgardisten, die Gorald, wohl eben deshalb, mitbrachte.«
Wie aus einer dritten Perspektive berichtete sie weiter. Sie versuchte Abstand von den damaligen Ereignissen zu gewinnen, musste aber immer wieder innehalten, um sich neu zu sammeln.
»Als wir merkten, dass er mit einem riesigen Heer auf uns zu rückte, stellten wir uns mit dem Teil der Hexen, die auf unserer Seite standen, entgegen. In der folgenden Schlacht starben derer viele, aber letztlich drängte uns die Übermacht Goralds bis zum Hexenstein zurück. Die abtrünnigen Hexen halfen ihm gegen uns.«
Tränen liefen Cyriana die Wangen herab. Sie wischte sie mit einer hastigen Bewegung zur Seite. »Meine Freundinnen starben eine nach der anderen und schließlich gelang es Gorald, geschützt durch die Magie der seelenlosen Hexen, meiner Schwester das Schwert an die Kehle zu setzen.«Sie stoppte einen Moment lang in ihren Ausführungen, griff an ihren Hals und zog die Halskette hervor, küsste den roten Halbedelstein.
»Der Hohe Meister wollte noch im Schutz von Kaspians Stein eingreifen, doch dies misslang. Er wurde dabei schwer verwundet und zudem verlor er den Saphir im Gewühl der Kämpfenden.«Dairos kniff die Augen zusammen. »Gorald und seine Männer bedrohten also Yenraven mit dem Schwert und wollten euch dazu bringen, den Blutritus zu sprechen.«
»Ja.«»Wie konntet ihr Gorald besiegen?«, fragte Dairos.
Cyriana schloss die Augen, erinnerte sich zurück an jenen schrecklichen Moment. Der Großmeister stand in seiner gepanzerten Rüstung mit dem unverwechselbaren Flügelhelm vor ihr und sie war umringt von Hunderten von Ordensgardisten. Von den Hexen lebten nur noch wenige Dutzend, darunter einige derer, die Halikarnosa in seelenlose Marionetten gewandelt hatte.
Kendar beugte sich nach vorne. In seinen Augen glimmte Mitleid. »Ihr habt euch geweigert und er tötete deshalb Yenraven?«, vermutete er.
»Nein.«»Nein?«, echote Kendar verblüfft.»Ich fügte mich ...«
Einen Moment starrten Dairos, Kendar und Aratica sie verständnislos an, bis der blonde Ordensritter blass wurde.
»Ihr spracht den Blutritus?«»Ich entfesselte das Grauen.«
Cyriana erinnerte sich daran, wie sie die ersten Zaubersprüche wob. Halikarnosas sanfte Stimme unterwies sie, gab ihr Kraft. Einem Hurrikan gleich entriss sie die Lebensfunken den Leibern der Ordensleute und aller Hexen, die sie umstanden. Sogar die glimmenden Funken der Sterbenden und Verletzten verschmähte sie nicht.
Und als sie kurz davor stand, den eigentlichen Blutritus zu entfesseln, lenkte sie die Energien um, schmetterte sie gegen den Hexenstein, um ihn zu zerstören.
Danach überschlugen sich die Ereignisse. Halikarnosa schrie vor Schmerz gepeinigt auf, wurde tief in den Stein hineingetrieben und Gorald ... köpfte ... ihre Schwester.
»Hat aber auch irgendwie Spaß gemacht«, erklang eine wohlbekannte Stimme in Cyrianas Geist. »Aber die damaligen Lebensenergien hätten ohnehin für den eigentlichen Ritus nicht mehr ausgereicht.«
Die Druidin riss entsetzt die Augen auf. »Wir sind entdeckt. Halikarnosa weiß, dass wir kommen.«
»Besser noch, kleine Bluthexe, ich kann euch sehen.«
»Wir verlieren drastisch an Höhe. Etwas zieht uns in die Tiefe«, brüllte Aratica aus Leibeskräften.»Dort, die Lichtung.« Die scharfen Augen Kendars hatten den Ort ausgemacht, auf dem der Hexenstein stand.
»Könnt ihr den Ballon auch steigen lassen?«, schrie Dairos. Die ersten Baumwipfel hoher Bäume rauschten heran. Man konnte fast schon die Arme danach ausstrecken.
Cyriana verlor die Kontrolle über den Ballon, der sich um sich selbst zu drehen begann. Schneller und immer schneller. »Ich kann den Wind nicht dazu nutzen, um uns Höhe gewinnen zu lassen.«
»Heimkehr, Tochter.«
»Das wird ein harter Aufschlag werden, wenn das Tempo weiter so zunimmt. Versucht, in die höhere Takelage zu gelangen.« Dairos befreite sich aus den Seilen, die ihn fixierten und kletterte weiter nach oben.
Der Prinz aus Dryadengrün tat es ihm nach.
Cyriana war wesentlich ungelenker. Sie öffnete die Knoten, die sie hielten und zog sich in die Höhe. Dabei rutschte sie am Seil ab. Dairos blickte zu ihr und stieß einen Fluch aus. Sie versuchte, einen anderen Strick zu ergreifen, glitt aber sogleich ab.
»Hier meine Hand.« Er fädelte sich geschickt in den Seilen ein, so wie es vorher Aratica gemacht hatte und ließ sich kopfüber nach unten fallen.
Der Ballon drohte bereits die ersten Baumwipfel zu streifen. Angst und Verzweiflung wischten einer Woge gleich ihren Mut zur Seite. Sie sah seine ausgestreckte Hand, krallte sich aber noch mehr an den Seilen der Takelage fest.
»Cyriana, vertraut mir!«, beschwor er sie erneut. Furcht ließ sie zunächst zögern, doch dann gab sie sich einen Ruck, ließ mit der Rechten den Strick los und streckte sich nach seiner Hand.Mit einem ohrenbetäubenden Bersten touchierte das Luftschiff die ersten Bäume. Äste und Zweige klatschten gegen sie. Ihre Finger lockerten sich um das Seil und sie rutschte daran herab, griff mit der freien Hand blindlings um sich, erwischte ein Tau und klammerte sich daran fest.»Zieht sie endlich hoch, Dairos«, hörte sie Aratica rufen.
Der Ordensritter stieß einen ganz und gar nicht im Einklang mit dem Geiste des Ordens stehenden Fluch aus und streckte sich Cyriana weiter entgegen.
In diesem Moment traf sie ein weiterer Baumwipfel frontal und riss sie mit voller Wucht vom Seil. Zweige, Blattwerk, Äste klatschen schmerzhaft gegen ihren Körper, schnitten tief in sie hinein. Sie krachte gegen einen dicken Ast, glitt daran herab.
Vom Ballon hörte sie einen lauten Aufschrei, dann folgte ein schmaler Schatten, der sich ihr hinterherwarf.
Schwer schlug sie auf den weichen Waldboden auf. Ein Nachtschrecken in der Nähe musterte sie mit feindseligem Blick.
»Ah, da bist du ja«, lachte eine fröhliche Stimme glockenhell in ihrem Kopf auf.
Direkt neben ihr landete federnd eine Gestalt, sah sich sofort suchend mit gezogenem Dolch um.»Nicht einmal festhalten könnt ihr euch, Hexlein«, wurde sie von Aratica getadelt. Sie reichte ihr die Hand. Dankbar ergriff Cyriana diese und zog sich in die Höhe.
Um sie herum sah sie nur dichtes, stacheliges Gebüsch und tiefhängende, knorrige Äste. Aber weiter vorne, geradeaus, nahm sie gerade noch durch das Blätterdach hindurch, einen großen, dunklen Schatten wahr, der in den Wald stürzte. Halikarnosa ließ den Ballon direkt auf die Lichtung krachen.
Kendar und Dairos standen somit Yenraven und Gorald allein gegenüber. Sie waren ihnen nicht gewachsen.
»Wir müssen zum Hexenstein.«
Sie wollte losrennen, doch ihr linkes Bein blieb in einer Wurzel hängen. Beißender Schmerz stach in ihren Knöchel. Aratica ergriff ihren Arm, legte ihn sich über die Schulter. Gestützt von der Assassine humpelte sie durch das Dickicht.
Einige Nachtschrecken tauchten auf. Sie standen in Gruppen zusammen und warteten leicht schwankend auf den Beginn des Blutritus. Cyriana atmete auf. Die Kreaturen waren zu vertieft, um sie wahrzunehmen. Sie mussten weiter.
»Beeilt euch, sonst fangen wir ohne euch an«, feuerte Halikarnosa die beiden an und kicherte danach leise, wie ein kleines unartiges Kind. »Lauf, Cyriana ...«
Schließlich durchbrachen sie humpelnd und taumelnd das letzte Gebüsch und standen auf der Lichtung. Der Ballon lag seitlich in den Bäumen, wog schlaff im Geäst. Der Prinz aus Dryadengrün hing regungslos in den Seilen, Dairos konnte sie nirgends erkennen.»Moderbeeren?«, rief Aratica freudig aus und deutete auf das grüne Gebüsch, welches hinterhalb des Hexensteins wuchs.
»Später, Aratica. Wir müssen näher an den Hexenstein.«
Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, wie sich Kendar zu rühren begann und sich eine weitere große Gestalt unterhalb des Ballons hervorarbeitete.
Gorald stand unweit des Steins. Er trug die Sonnenscheibe offen auf der Brust. Seinen mächtigen Beidhänder hatte er vor sich in den Boden gerammt und beide Hände über den Griff gelegt.
Yenraven schlenderte gelassen über die Lichtung zum Hexenstein. Dabei warf sie sich einige Moderbeeren in den Mund.
»Ich wollte schon gestern das Ritual durchführen, Cyriana, aber Halikarnosa riet mir, zu warten.«»Nur für dich, Tochter«, bestätigte die Göttin siegessicher.
»Ups, ich habe eine Stimme im Kopf«, meldete sich Aratica zu Wort.
Halikarnosa schien ihren Triumph auskosten zu wollen und ließ alle daran teilhaben. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie noch scheitern könnte.
»Letzte Gelegenheit, Tochter. Ich hätte dich gerne an meiner Seite.«»Du hast keine Seite, an der man stehen kann. Da sind nur Abgründe.«»Das sind doch nur die Worte einer verletzten Tochter. Wagen wir doch den Neuanfang.«
»Lasst euch nicht von ihr einwickeln.« Dairos erreichte die Lichtung. »Denkt an eure Schwester.«
Kendar humpelte ihm mit gezogenem Schwert nach. Seine Worte waren überflüssig. Cyriana war weit davon entfernt, noch einmal dem Charme der Göttin zu erliegen. Unwillkürlich griff sie sich an den Hals. Der Anhänger ihrer Schwester gab ihr Kraft.
»Es wird keinen Neuanfang geben, nur ein Ende, Halikarnosa.«»Ja, das Ende meines ewigen Exils.« Die Stimme Halikarnosas klang sehnsüchtig.
»Yenraven! Wisst ihr, dass ihr beim Ritual sterben werdet?«, rief Cyriana der Bluthexe zu.Die junge Hexe lachte auf. Es klang fast, als würde Halikarnosa antworten.
»Mutter sagte, dass ihr uns auseinanderbringen wollt.«
»Sie ist eine brave Tochter«, erklang es wieder in Cyrianas Geist. Der Druidin wurde gewahr, dass vermutlich alle Halikarnosa hören konnten, nicht aber Yenraven selbst.
»Kann uns nicht hören«, stimmte ihr die Göttin, begleitet von einem warmen Lachen, zu.»Warum lässt du mich das hier sehen, Halikarnosa? Hast du keine Angst, dass ich den Blutritus verhindern könnte?«
»Du? Gebrauche deine Kräfte und du bist tot. Getötet von deiner eigenen Magie ...« ein kurzes Gelächter folgte ... »Wie wollt ihr mich auch nur im Entferntesten aufhalten? Ihr seid erbärmlich, Cyriana.«
Yenraven stellte sich breitbeinig auf und hob die Hände.»Kann ich anfangen, Mutter?«, rief sie fragend in den Himmel. Ihre Augen glänzten vor Vorfreude.
Dairos zückte sein Schwert und wollte auf sie zulaufen. Er kam nur zwei Schritte weit, dann wurde er auf einen Wink Yenravens hin zu Boden geschleudert. Er versuchte aufzustehen, doch schien eine gewaltige Last auf seinem Rücken zu liegen. Muskelstränge traten dick an den Oberarmen hervor. Doch es gelang ihm nicht, sich in die Höhe zu stemmen.
Kendar blieb neben Dairos stehen. Er wirkte ratlos, war aber klug genug, um zu wissen, dass ihm das gleiche Schicksal wie dem Ritter drohen würde, täte er auch nur einen einzigen Schritt.»Noch warten?« Enttäuscht ließ die Bluthexe ihre Hände sinken. Anscheinend sprach Halikarnosa getrennt mit ihnen und mit Yenraven.
»Denke nach, Cyriana. Ich kann hier und jetzt jedem das Leben belassen, den du mir nennst. Stelle dich an meine Seite. Ich kann dich auch von der schwärenden Wunde heilen, die dich innerlich verfaulen lässt.«
»Kein Wort mehr«, rief Dairos. Er befürchtete, sie könne den Schmeicheleien der Göttin erneut verfallen, die Seiten wechseln. Doch er irrte, Cyriana war nichts ferner.»Warum hängst du so an mir, Halikarnosa? Und glaube nicht ich falle auf Liebe und Sympathie herein.«»Deine Kräfte sind unglaublich. Du hattest Recht. Irgendwer hat mich aus dem Pantheon verbannt. Zu dieser Zeit war ich vollkommen, bin aber doch unterlegen. Ich brauche dich, Cyriana, will ich dieses Schicksal nicht erneut erleiden.«»Verrecke endlich.«
Cyriana spürte, wie eine Welle der Enttäuschung sie umspülte. Halikarnosas harte, ernüchterte Stimme erscholl.
»Ich bin nicht so schrecklich, wie du denkst, Tochter. Ich will nur nach Hause.«»Mein Heim hast du mir genommen, meine Schwester getötet. Dein Recht hierzu ist längst erloschen.«»Schade, aber wenn das dein Wille ist.«

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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...