Überraschender Besuch

67 10 0
                                    

»Wer ist da?«, erklang eine verwunderte Stimme in der Dunkelheit. Sie war weich und wohlklingend.

Cyriana schwieg. Sie war selbst davon überrascht, dass sie nun in Halikarnosas Geist erwacht war. Bei den bisherigen Malen war es andersherum gewesen.

Diesmal lauschte Cyriana den Gedanken einer Göttin. Sie mussten den Waldrand erreicht oder sogar überschritten haben.

»Dein Gewissen«, ließ sich Cyriana nun doch zu einer Antwort hinreißen.

Eine überraschte Stille folgte.»Tochter? Das ist außergewöhnlich. Bist du eine Göttin?«»Nein, das wäre nicht erstrebenswert, ich kenne bereits eine.«

Ein leises, sympathische Lachen hallte in der Dunkelheit wider.

»Ich habe die Scheibe«, frohlockte die Stimme Halikarnosas.»Ja.« Einen Moment zögerte Cyriana, dann kam ihr etwas in den Sinn, was gut zu Aratica gepasst hätte »Familienzusammenführung.«

Das leise Lachen hub nun zu einem donnernden Gelächter an.

»Ich liebe diesen neuen Humor an dir. Du bist sonst so ernst.«»Was versprichst du dir von dem Blutritus, von der Vereinigung mit Raden-Sur?«

Es kam ihr so vor, als würde Halikarnosa zu einer raschen Antwort ansetzen, nur um dann aber innezuhalten und nachzudenken.

»Eine interessante Frage, Tochter. Streben wir nicht alle nach Vollkommenheit?«»Du könntest so viel Essenz in dir aufnehmen, wie du willst, du würdest dennoch niemals vollkommen sein. Es fehlt Wesentliches.« »Jetzt bin ich aber neugierig, Tochter. Du meinst doch nicht solch abstrusen Gefühle wie Liebe und Zuneigung.«»Ich meine all das, was das Zusammenleben von uns Menschen ausmacht.«»Also meinst du Hass, Wut, Neid und Missgunst.«

Ihr glockenhelles Lachen schürte die Wut in Cyriana.

»Du verstehst nichts, Halikarnosa. Hast du dich nicht gefragt, warum du als Meteorit auf die Welt gestürzt bist?«»Du bist also doch eine allwissende Göttin?«»Nein, ich bin ein Mensch. Ich kann mir aber vorstellen, dass du von deinen Mitgöttern auf diese Welt verbannt wurdest, weil sie es mit dir nicht mehr ausgehalten haben.«»Das tut weh und überdies ist dies eine reichlich böse Spekulation. Wolltest du mir nicht etwas über Liebe, Respekt und Mitgefühl erzählen?« »In der Tat, Mutter, denn das hättest du über die vielen Jahrhunderte lernen können. Weißt du, warum deine Essenz dich aus der Kraterschmiede vertrieben hat? Lange Zeit war mir dies nicht klar.«

»Du machst mich neugierig, Tochter.«»Deine Essenz wollte nichts mehr mit dir zu tun haben. Ein Teil deiner selbst hasst dich. Raden-Sur wollte sich von dir trennen, ein eigenes Wesen werden. Hat er dich, als der Meteorit herabstürzte aus sich herausgeworfen?«»Ich habe lange darüber nachgedacht, was damals geschehen ist. Aber ich habe nun mal keine Erinnerung mehr daran. Vielleicht wurde ich auf diese Welt geschickt, um aufzuräumen und alles Leben zu zerstören.«

»Vielleicht solltest du beim Absturz einfach nur krepieren?«

Cyriana schüttelte in Gedanken den Kopf. Die Diskussion führte zu nichts. Wenn überhaupt konnte sie bestenfalls Yenraven noch auf den rechten Weg führen. Es gab keinen Weg, die Göttin von ihrem selbstgewählten Pfad abzubringen.

Auf ihr Schweigen hin fuhr Halikarnosa ungerührt fort.

»Wenn ich mit der Sonnenscheibe verschmelze, wird der erwachende Raden-Sur in mir aufgehen. Gut möglich, dass ich danach anders bin. Wäre das nicht etwas, was wir gemeinsam herausfinden können? Stelle dir vor, ich würde zu einer mildtätigen Halikarnosa werden.«

Ihr glockenhelles Lachen erklang wieder. Eine Welle aus Mitleid überschwemmte Cyrianas Geist.

»Dafür müssen erst Tausende sterben?«»Der Tod ist der Tribut, den Sterbliche eben an ihre Götter zu entrichten haben. Dadurch gewinnt ihre Existenz erst eine Bedeutung.«»Ich verzichte auf diese Götter, sie haben keinen Nutzen für die Menschen.«»Nutzen? Tochter, wir sprechen gerade vom Verhältnis eines Landadeligen zu den Milchkühen seiner Leibeigenen. Ihr seid für uns da. Nicht anders herum.«»Du ekelst mich an. Du könntest doch viel mehr sein.«»Tochter, ich will aber gar nicht mehr sein. Ich will vollständig sein. Das genügt.«»Du könntest eine Göttin sein, zu der man mit Achtung aufschaut.«»Bevor ich diese Diskussion fortsetze, liebe Tochter, würde es mich schon sehr interessieren, wieso wir überhaupt so ein nettes Gespräch führen können. Beim ersten Mal warst du im Wald, so konnte ich dich kontaktieren. Beim zweiten Mal brachte ich ein kleines Bruchstück von mir in deine Nähe. Du erinnerst dich doch an den Drachen. Aber jetzt? Ich spüre dich nicht im Wald. Wo bist du, Cyriana?«

Cyriana lachte glockenhell auf.

»Gute Nacht, Mutter.«

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt