Zufrieden begrüßte Tanat den Morgenaufgang. Er ging zum Fenster und badete in Raden-Surs Strahlen, fühlte wie Tatkraft und Zuversicht in ihn zurückkehrten. Wie sehr hatte er sie vermisst.
Eine neue, glorreiche Zukunft erwartete ihn und den Orden. Er dachte an seine verstorbene Frau, wie sie im Kindbett bei der Geburt seines Sohns verstorben war. Nun war es Zeit damit abzuschließen, eine neue Frau zu finden und eine neue Dynastie zu gründen, machtvoller und ruhmreicher denn je. Er ignorierte den stechenden Schmerz in der Hüfte und rief seinen Diener zu sich.
»Den leichten Waffenrock«, befahl er.
Wenig später betrat er den Speisesaal, in dem ihn bereits Ignatus erwartete. Der adelige Ehrgeizling war stets ein früher Vogel gewesen, der die erholsamen Genüsse eines ausgedehnten Schlafs verweigerte.
»Was seht ihr so verkniffen aus, Wissenswahrer. Ich sehe eine goldene Zukunft voraus.«
Tanat ließ sich an seiner, noch leeren Tafel nieder. Sofort stoben einige Bedienstete heran und brachten Körbe voller Brot, Obst und Wein. Ignatus verschränkte die Arme über seine Brust. Er stand am langen Ende des Tischs und blickte hungrig auf die gedeckte Tafel. »Einer meiner Soldaten, die ich den beiden Dryadengrüns nachschickte, ist in der Nacht zurückgekehrt.«
Mit einem genüsslichen Seufzer nahm Tanat einen langen Zug aus dem vollen Weinkelch. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Wo sind die beiden Diebe der Sonnenscheibe?«
Er deutete auf einen der hölzernen Stühle neben sich. »Rückt heran und speist mit mir.«Etwas widerwillig sah sich Ignatus um. Schließlich holte er sich einen Stuhl heran, warf das seidene Kissen zu Boden und setzte sich darauf. Er zog einen Teller mit frisch gebackenem Brot zu sich.
»Sie sind in den Schattenwald entflohen.«
Tanat blieb der Bissen im Mund stecken. Gerade dorthin reichte der lange Arm des Ordens nicht. Jäh spürte er einen schmerzvollen Stich im Rücken. Verärgert knallte er den Kelch auf den Tisch. »Ihr hättet sie nie aus Granitfurt entkommen lassen dürfen. Wie sollen wir jetzt die Sonnenscheibe in unsere Gewalt bekommen?«
Ignatus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er kaute zu Ende und sah dann auf. »Der schmale Pfad, den sie einschlugen, führt zur Kraterschmiede.«
»Zur Kraterschmiede? Die steht doch leer ...«, Tanat furchte die Stirn und straffte sich. »... weshalb sollten sie dorthin reisen?«
Als er in Ignatus' Augen blickte, bemerkte er dort ein wildes Funkeln. Der Wissenswahrer wusste Bescheid. Aber wie war das möglich? Er hatte das Buch über die Geheimnisse der Sonnenscheibe nicht mehr zurückgelegt.
»Ich weiß nicht, warum sie dorthin reisten. Aber ich vermute sogar, dass sie dort auf Cyriana treffen werden. Die ist auf einem Moab in den Wald geflohen.«
Die Entscheidung fiel Tanat nicht schwer. Er winkte einem der bewaffneten Ordensgardisten, die gänzlich unbemerkt im Schatten standen. Er musste rasch handeln. Entschlossenheit war der fruchtbare Acker des Erfolgs. »Gebt Befehl zum Aufbruch.«
Die Wache trat in den Saal und verneigte sich tief. »Ehrwürdiger Ordensabt. Wie viele Soldaten sollen wir mobilisieren und was ist unser Ziel?«
Ignatus fiel ihm ungeniert ins Wort und antwortete statt seiner. »Alle. Nicht wahr, ehrwürdiger Tanat zum Weidentor?«
Die Wache sah irritiert von einem zu anderen. Tanat gab dem Ordensmann ein Zeichen. »Bis auf eine Wachmannschaft alle, für die Pferde bereitstehen. Wir reiten zur Kraterschmiede.«
Der Gardist verließ ziemlich überstürzt den Saal, spürte wohl, dass sich etwas zusammenbraute.
»Woher wisst ihr es, Ignatus?«»Ich sah euch das Buch einstecken.«»Und?«
»Es ging um die Sonnenscheibe. Als ihr einige Passagen daraus gelesen habt ... sah ich ein entschlossenes Glitzern in euren Augen, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen habe ... und die Gier.«
»Mäßigt euch, Ignatus vom goldenen Turm, ihr sprecht mit eurem Ordensabt.«»Muss ich befürchten, dass ihr das eigentliche Ziel aus den Augen verliert? Dass wir Yenraven aufhalten und unseren Schafen das Schutzschild sind, das der Orden versprochen hat zu sein.«»Ihr müsst deswegen keine Bedenken haben, Ignatus. Aber mich darauf hinzuweisen, welche Werte der Orden vertritt ... ist das nicht etwas heuchlerisch?«
Der Wissenswahrer ließ sich nicht beirren. Er griff nach einem Messer und spießte ein großes Schinkenstück auf. Sorgsam legte er es sich auf eine Scheibe Brot. »Weshalb strebt ihr nach der Sonnenscheibe?«
Er weiß es nicht, stochert im Trüben.
Über Tanats Gesicht huschte ein zufriedenes Grinsen. Ignatus hatte keine Ahnung, zu was die Scheibe in der Lage war. Vielleicht einen Verdacht, aber gewiss nicht mehr.
»Ist das alles?«»Wenn wir die Sonnenscheibe besitzen, dann kann Yenraven den Blutritus nicht sprechen.«»War es das?«»Ja.«»Kann ich es lesen?«»Nein.«
Ignatus legte das angebissene Brot zurück auf den Teller und erhob sich. »Ich verhehle es nicht, Tanat, dass ich ehrgeizig bin und dafür alles tue. Ich habe kein Problem, im Namen des Ordens Störenfriede zu beseitigen, wenn es unseren Zielen dient. Aber vergesst nie, dass meine Ziele auch die des Ordens sind. Lasst euch nicht von der Sonnenscheibe vom Weg abbringen.«
»Droht ihr mir?«
»Nein, ich erinnere euch nur daran, dass es die Institution ist, die euch die Macht gibt ... und nicht ihr der Institution.«
»Seit wann steht ihr den Werten des Ordens denn so nahe?«»Es sind nicht die Werte und der Glanz und die ganze Reinheit, um die es geht. Sie sind Werkzeuge, die den Orden groß machen, die ... uns ... zur Macht geleiten. Verliert das nicht aus den Augen.«
Tanat starrte den Gelehrten aus zusammengekniffenen Augen heraus an, versuchte, ihn zu lesen. Der Wissenswahrer ahnte, dass er eigene Pläne mit der Sonnenscheibe hatte. Sollte er ihn zurücklassen, damit er ihm nicht im Weg stand?
»Begleitet mich einfach, Ignatus. Ihr werdet sehen, dass meine Ziele so strahlend und rein wie der Orden selbst sind.«
Oder mitnehmen, damit er im Kampf fiel ...
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...