Bereits am nächsten Morgen brachen sie von der Ordensburg zur göttlichen Hand auf. Dairos war mit einem halben Manipel aus sechzig Ordensgardisten angereist, der Ordensabt hatte ihm zudem ein Dutzend Arkebusiere zugebilligt. Es lag nicht im Selbstverständnis des Ordens, bescheiden aufzutreten. Macht zu demonstrieren bedeutete den gemeinen Mann einzuschüchtern, ihm seinen geringen Stand und niedrigen Wert zu verdeutlichen.
Dairos war sich sicher, dass die meisten Menschen in Granitfurt nicht wagten, sich ihm zu widersetzten, würde er mit diesem Trupp im Glanze der Mittagssonne in die Stadt reiten. Hatte man das Wesen der Bauern und Händler einmal durchschaut, so war es ein Leichtes, sie vor den eigenen Karren zu spannen. Dairos von Ordon erwartete für seine Mission keine größeren Probleme.Der bucklige Wissenswahrer hatte sich unterdessen überraschend behände auf einen prächtigen Wallach geschwungen und sich, wie selbstverständlich, neben dem jungen Ordensritter an die Spitze der Berittenen gesetzt.
Dairos warf dem Gelehrten einen missbilligenden Blick zu.Die Rüstungen der Ordensgardisten glänzten im Licht der Sonne. Es handelte sich durchweg um austrainierte, muskelbepackte Gestalten, die auf jene, welche ihren Weg kreuzten, einen ungeheueren, ehrfurchtsvollen Eindruck machen würden. Die missgestalteten Umrisse des Wissenswahrers stellten dagegen einen Anachronismus dar, eine Beleidigung der Götter. In Dairos brodelte es. Der Orden war rein, der Orden war das Schwert des Lichts. Obgleich er die Absicht des Ordensabts durchschaut hatte, weshalb ihn der Bucklige begleitete, hieß er dies nicht gut. Aber er fand sich notgedrungen damit ab.
Er hatte einmal gezögert, den Anordnungen seiner Lehrmeister zuwidergehandelt und wäre fast des Ordens verwiesen worden. Dies würde ihm kein zweites Mal widerfahren. Seine Loyalität gehörte der Obrigkeit. So musste es sein. Disziplin und Glaube waren Eckpfeiler des Erfolgs.Bis sie Granitfurt erreichten, würden mehrere Tage vergehen. Widerwillig war Dairos gezwungen, seine wertvolle Zeit mit dem Wissenswahrer zu verbringen.
Nach den ersten Stunden eisigen Schweigens war es schließlich der bucklige Gelehrte selbst, der das Wort ergriff. »Habt ihr noch Angehörige in Granitfurt, junger Ordensritter?«, wollte er von ihm wissen.
Dairos schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist zu Beginn meiner Ausbildung an der Akademie meinem Vater in das dunkle Reich nachgefolgt. Meine Brüder sind fortgezogen. Ein Onkel lebt wohl noch in der Stadt. Aber für einen Ritter ist der Orden die Familie. Das solltet ihr wissen.«
»Das ist gut, dann ist euer Kopf frei.«»Wie ist euer Name, Wissenswahrer?«Der Gelehrte kicherte still in sich hinein. »Stimmt, unser ehrwürdiger Ordensabt vergaß, mich vorzustellen. Nennt mich Ignatus, Ignatus vom goldenen Turm.«
Dairos schluckte. Aus der Linie derer vom goldenen Turm entstammte die derzeitige Herrscherfamilie. »Seid ihr ...?«»Ich bin ein Neffe des Königs.«
In ihm überschlugen sich die Gedanken. Was bei Raden-Sur hatte Ignatus in den Orden verschlagen? Jedenfalls hatte ihm Tanat keinen schlichten Wissenswahrer zur Seite gestellt. Dairos wurde sich bewusst, dass diese Offenbarung einiges änderte. Natürlich würde der Gelehrte die Führung der Mission für sich reklamieren. So sehr er Tanat auch achtete, in diesem Moment verwünschte er den Ordensabt. Der ersehnte Ruhm rückte in weite Ferne.
Wie sollte er sich denn im Schatten eines Königlichen beweisen?
»Kennt ihr die Geschichte der Yenraven?«, riss ihn Ignatus übergangslos aus seinen trüben Gedanken. Dairos riss sich zusammen. Seine Mission ging vor. Der Orden war größer wie er. Und dennoch ... fühlte er wieder diese Leere in sich, die er in den vergangenen Jahren doch so emsig mit den Werten des Ordens gefüttert hatte.
»Natürlich. Viele kennen die Legende der Bluthexe, ihren Werdegang.«
Der missgestaltete Mann aus der königlichen Dynastie stieß ein kurzes glucksendes Lachen aus. »In den Bibliotheken des Ordens finden sich viele Wahrheiten, die das gemeine Volk ... und der gemeine Ritter ...«, der Bucklige warf Dairos einen anzüglichen Blick zu, »... nicht wissen sollten.«
Erst die Welt, dann Tanat und nun Ignatus. Immerzu verwies man ihn auf seine Minderwertigkeit. Sie täuschten sich alle. Er wandelte in Raden-Surs Licht. »So wie die Lüge um Gorald? Dass er in Wirklichkeit fiel und keine Yenraven in Ketten gefesselt in die Reichsstadt brachte?«
»Ihr seid frisch der Akademie entschlüpft, Dairos. Ihr gleicht allen anderen Absolventen, die ich zuvor traf. Euch ist dieser heilige Eifer noch zu eigen. Sobald ihr das wahre Leben kennengelernt habt, werdet ihr die Weisheit hinter diesen ... Wahrheiten ... erkennen.«
Dairos' Kiefer mahlten vor unterdrückter Wut. Der Wissenswahrer irrte, kannte seine Geschichte nicht. Dabei war er auserkoren, mit der reinigenden Fackel voranzugehen. Schon bei seiner Geburt hatte sich sein Schicksal enthüllt, denn ohne den Eingriff Raden-Surs wäre er im Kindbett gestorben. Möglicherweise war es ja seine Bestimmung den Orden selbst auf den rechten Pfad zurückzuführen.
»Welche ... Wahrheit ... wollt ihr mir nun offenbaren?«
Der Gelehrte sah gerade aus und deutete auf den Schattenwald, dessen erste Ausläufer sich schemenhaft am Horizont andeuteten.
»Im Zentrum des jetzigen dunklen Forsts liegt der Hexenstein.«»Ist mir bekannt.«
Unbeeindruckt holte der adelige Wissenswahrer einige Papiere aus der Satteltasche und streckte sie ihm entgegen. »Lest dies und ihr werdet verstehen, weshalb es so wichtig ist, die Hexen aufzuhalten.«
Dairos blickte grübelnd auf die vollgeschriebenen Seiten. Ignatus, der sein Zaudern bemerkte, raschelte mit den Blättern. »Ihr fragt euch, ob ihr dem hier trauen könnt. Nun, es sind Abschriften überlieferter Berichte Krotans. Sie stammen aus der damaligen Zeit und lagen bislang unter Verschluss.«
Zögernd nahm Dairos die Papiere an sich. Nachdenklich wog er sie in der Hand. So hatte er sich seinen ersten Einsatz unter dem glanzvollen Ordensbanner nicht vorgestellt. Statt mit dem Schwert hantierte er mit der Feder. Er seufzte.
»Der Ordensabt erwähnte andere Ereignisse, Ignatus. Dürft ihr mir darüber etwas erzählen?« Sie erreichten eine Kreuzung. Da der Wegweiser fehlte, winkte der vorderste Berittene einen der ortskundigen Ordensgardisten herbei. Einen Moment lang diskutierten sie. Danach schlugen sie einen Weg gen Norden ein. Dairos grinste. Er kannte den Weg nach Granitfurt.
Der blonde Ritter sah es Ignatus an, wie dieser mit sich rang. Schließlich gab sich der Gelehrte einen Ruck. »Der Ordensabt gab mir die klare Anweisung, euch reinen Wein einzuschenken. Er misst dem Brief des Bürgermeisters zwar eine größere Bedeutung bei, allerdings erwartet er tatsächlich von euch nur, dass ihr die Lage in der Stadt stabilisiert und wenn möglich wertvolle Informationen gewinnt. Ich begleite euch, Dairos, auf eigenen Wunsch hin, da ich befürchte, dass Granitfurt das Schicksal von Ulmenstein oder Fels Karabatos teilen könnte.«
Fels Karabatos. Dairos erinnerte sich noch gut daran. Die Bergbausiedlung war deutlich kleiner als seine Geburtsstadt. Sie lag westlich davon, auf einer felsigen Anhöhe. Einmal, vor vielen Jahren hatte er den Ort besucht und eine silberne Kette entgegengenommen, die seine Mutter für ihn einst hatte anfertigen lassen.
Fels Karabatos war an drei Seiten vom unheiligen Forst umgeben. Nur im südlichen Bereich gab es eine etwa hundert Fuß breite und doppelt so tiefe Schneise, die die Bewohner mit dem Reich verband. Der Ort galt ob seiner Nähe zum Schattenwald als verflucht. Aber der felsige Hügel, in dessen vernarbter Oberfläche sich die Grubenleute zum wertvollen Silber und Kupfer hinab schlugen, versprach Reichtum. Genug, um Abenteurer und Glücksritter anzulocken. Die berühmte Kaiserstraße, die nordwärts durch den Wald am Hexenstein vorbei führte, nahm hier ihren Anfang und kreuzte dabei die alte Kupferstraße, die sich westlich nach Dryadengrün schlängelte und nordöstlich zur Kraterschmiede abbog.
»Von welchem Schicksal sprecht ihr, Ignatus vom goldenen Turm?«
»Ulmenstein ist entvölkert und auch in Fels Karabatos muss Ähnliches vorgefallen sein. Der Ort wird von den Menschen des Reichs seit Wochen gemieden, weshalb wir nicht wissen, wann genau es geschehen ist. Immer wenn Raden-Surs goldene Scheibe und die Zwillingsmonde sich am morgendlichen Horizont gemeinsam zeigen, kam bislang eine Wagenladung Silber und Kupfer aus der Bergbausiedlung in eine dort nahegelegene kleinere Ordensabtei. Als diese ausblieb, schickte der dortige Ordensabt unverzüglich einige Gardisten zum Fels Karabatos.«
»Wegen der Menschen, oder wegen des ausbleibenden Silbers?«, rutschte es Dairos heraus. Das blendende Licht des Ordens hatte sich innerhalb der letzten Stunden deutlich eingetrübt. Ignatus überging großmütig seine Worte.
Ihm war es anzusehen, wie sehr er es genoss, mit seinem Wissen zu glänzen. Es fühlte sich nicht an wie ein Austausch unter Gleichrangigen.
»Die Ortschaft war verwaist. In den Tiefen der Schächte fanden sie verbrannte Leichen. Jedoch nicht genug, um damit die Anzahl aller Verschwundenen zu erklären.«
Der Bucklige schwieg. Dairos war erschüttert. Er hörte erstmals von diesen
Vorfällen. War der Orden so mächtig, alles darüber unter Verschluss zu halten? In diesem speziellen Fall, da Fels Karabatos ohnehin gemieden wurde, war es denkbar. Jedenfalls rückte diese Nachricht seine Mission ins rechte Licht. Das Zentrum des Geschehens lag nicht in Granitfurt.
»Ihr bringt dies mit den kürzlichen Ereignissen, den verschwundenen Menschen, der Ausdehnung des Walds, der unbekannten giftigen Beere in Zusammenhang?«
»Es sind allesamt ungewöhnliche Vorfälle, Dairos. Eine Verbindung ist äußerst wahrscheinlich. Erachtet unseren Auftrag nicht als minderwertig.«
Ignatus vom goldenen Turm hielt kurz inne. »Ein mutiger Ordensritter, Gremerius von Ordon, der bei Fels Karabatos nach den Verschwundenen suchte, drang auf der alten Kaiserstraße tief in den Wald vor. Er fand Anzeichen dafür, dass eine größere Menschenmenge dort entlang lief.«
»In den Schattenwald hinein? Das wäre Irrsinn. Warum sollte jemand so närrisch sein?«
Ignatus vom goldenen Turm nickte bedächtig. »Ja, ihr habt Recht. Niemand würde freiwillig diesen Weg nehmen. Zumal auf einer überwucherten Straße, welche alten Plänen zufolge genau auf das Zentrum des Walds zuläuft, direkt am Hexenstein vorbei.«
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...