Um einen besseren Blick zu gewinnen, kletterte Logard in die Baumwipfel eines hohen, alten Baums. Bis auf den Flügelhelm hatte er seine schwarze Rüstung zuvor abgelegt. Nach einer kurzen Weile sichtete er die beiden Ritter aus Dryadengrün, die ihm seine Krähe bereits angekündigt hatte. Sie folgten einem alten Pfad in den Wald hinein. In aller Ruhe beobachtete er die beiden Männer aus Dryadengrün, wie sie zielstrebig auf die Kraterschmiede zusteuerten.Als in einigem Abstand vier Ordensgardisten nachfolgten, stieß er einen verärgerten Fluch aus.
Das verkomplizierte die Angelegenheit. Immerhin, als das Ziel der beiden Dryadengrüns ersichtlich wurde, hielten die Reiter an, diskutierten kurz. Danach löste sich einer aus dem Trupp und kehrte um.
Warum die Gardisten die beiden Brüder verfolgten, erschloss sich Logard nicht, aber möglicherweise waren auch sie hinter der Scheibe her. Einer kehrte wohl nun zurück, um Bericht zu erstatten, denn es war ersichtlich, dass die Dryadengrüns auf die Kraterschmiede zusteuerten. Denkbar, dass er mit Verstärkung zurückkam.
Jedenfalls störten sie ihn.
Die vier Waldaffen, die ihn begleiteten, warteten im Dickicht auf seine Anweisungen. Mehr hatte ihm Halikarnosa nicht zugebilligt. Die Mehrzahl der Kreaturen hatte sie zu ihrem eigenen Schutz um sich herum am Hexenstein zusammengezogen. Er schüttelte den Kopf. Dieses Vorgehen war für ihn, einem mit militärischen Operationen durch und durch vertrauten Mann, nicht nachvollziehbar. Kaum vorstellbar, dass eine noch so große Einheit bis zu ihr durchbrechen konnte. Die Scheibe dagegen war für Halikarnosa unverzichtbar.
Unter dem Helm irrlichterten seine Augen. Ihm war bewusst, dass er ihr verpflichtet war. Einem Werkzeug stand es nicht zu, zu zweifeln.
Seit den Ereignissen vor achthundert Jahren hatten die eigene Sicherheit und die Yenravens für Halikarnosa oberste Priorität. Eine derart mächtige Hexe war für die Göttin im Hexenstein einfach nicht ersetzbar. Erst danach folgte die Scheibe.
Die Lebensenergien, die das Ritual benötigte, standen am Ende der Prioritätsliste. Logard wusste, dass damals die Menschen zum Stein getrieben worden waren, um sie für den Ritus zu opfern. Der jetzige Plan mit den Nachtschrecken war deutlich durchdachter, mussten sie diesmal niemanden ernähren, oder bewachen.
Sein Blick folgte den Reitern aus Dryadengrün. Wer von den beiden die Sonnenscheibe besaß, war aus dieser Entfernung einfach nicht zu erkennen. Solange er nicht wusste, wer der Träger war, durfte keiner von ihnen Gelegenheit bekommen, zu entfliehen. Die Verfolger durfte er dabei nicht außer acht lassen. Sie durften ihm nicht in die Quere kommen.
Im Notfall konnte er es vielleicht sogar gleichzeitig mit allen fünf aufnehmen. Das würde ihm aber nicht helfen, wenn sich die Gegner einem Kampf gar nicht stellten und der Träger der Sonnenscheibe flüchtete.
Da die Waldaffen nicht dazu geeignet waren, trickreiche Angriffsstrategien auszuführen, musste er sie klug einsetzen. Im Grunde waren sie nur für Kommandos wie »warten«, »losschlagen« und vielleicht noch »zurückziehen« empfänglich.
Zunächst galt es sie günstiger zu positionieren. Er verließ seinen erhöhten Ausguck und schlüpfte zurück in seine Rüstung.
Die Ritter folgten weiterhin dem alten, weitgehend überwucherten Pfad. Früher war es ein breiter, gepflasterter Weg gewesen, der die Kraterschmiede mit dem Reich verbunden hatte. Logards Blick entging nicht, dass hier in letzter Zeit Hand angelegt worden war, denn störende Äste und Gebüsch hatte man entfernt oder zurückgeschnitten. Zweifellos nutzten die Jünger aus der Schmiede ihn regelmäßig, um den Schattenwald zu verlassen.
Zwei der Affen schickte er in weitem Bogen zurück und wies sie an, an der Waldgrenze auf dem Pfad zu warten. Sie sollten verhindern, dass irgendwer den dunkeln Forst verließ, vor allem nicht derjenige, der im Besitz der Sonnenscheibe war. Zumindest sollten sie in der Lage sein, einen Fliehenden lange genug aufzuhalten, bis er eintraf.
Die beiden anderen Affen platzierte er auf dem Pfad zwischen den Dieben der Scheibe und den drei Gardisten. Sie sollten verhindern, dass die Trupps sich verbanden.
Er selbst nahm seine Position auf dem Weg ein, an dem die Dryadengrüns vorbeikommen mussten. Sein Plan war denkbar einfach. Sobald er wusste, wer von den Beiden die Scheibe hatte, würde er zuschlagen. Der andere spielte keine Rolle.
Hier, nahe der Kraterschmiede war der Schattenwald überraschend licht. Der Weg war auf etwa zwanzig Fuß gut einsehbar. Logard stellte sich mitten auf den Pfad, zückte seinen mächtigen Beidhänder, rammte ihn in den Boden und lehnte sich breitbeinig dagegen.
Er wartete nicht lange. Zwei Reiter folgten dem Pfad und schälten sich aus dem Dickicht vor ihm.Schweigsam beobachtete Logard, wie die beiden erstaunt ihre Pferde zügelten. Sie wandten die Köpfe zueinander und beratschlagten. Schließlich näherten sie sich vorsichtig dem hünenhaften Krieger mit dem Flügelhelm, dessen Augen unter dem geschlitzten Visier tiefrot glühten.
»Freund oder Feind?«, wollten sie von Logard wissen.
Das war eine dumme Frage, setzte sie doch voraus, dass er die Reiter kannte. »Das kommt darauf, wer ihr seid«, antwortete er knurrig.
»Mein Name ist Prinz Kendar aus Dryadengrün. Und das hier ist mein Bruder, Prinz Tywen. Wir wollen zur Kraterschmiede. Seid ihr ein Wächter dieses Orts?«
Langsam schüttelte Logard sein Haupt. Er musste auf der Hut sein. Die Diebe der Scheibe waren, im Gegensatz zu ihm, beritten und konnten ihn an beiden Seiten des Pfads in schnellem Galopp passieren, ohne dass er es hätte verhindern können.
Kendar schien ihm der deutlich Ungefährlichere der Beiden zu sein. Er hing erschöpft im Sattel, war offensichtlich am Ende seiner Kräfte. Seinem Bruder war aber der erfahrene Kämpe abzulesen. Auf ihn musste Logard achten.
Sollte er vortäuschen, ein Verbündeter oder gar Freund zu sein? Doch der angespannten Haltung der beiden war abzulesen, dass sie ihm niemals vertrauen würden. Er machte sich keine Illusionen, denn allzu vertrauenserweckend wirkte er wahrlich nicht.
Er entschied sich dazu, direkt zum Punkt zu kommen. »Das wäre zu viel gesagt, meine Herren. Ich bin hier, um etwas einzufordern.«
Einer der beiden, Kendar, griff sich unterbewusst an die Brust. Zeichnete sich darunter die Scheibe ab? Logard war sich nicht sicher.
Sein Begleiter zückte sein Schwert. »Wir reiten um ihn herum, Bruder.«Auf einmal drangen Schreie vom unteren Ende des Pfads herauf. Kendar blickte zurück, während sein Bruder den Hünen mit dem Flügelhelm nicht aus den Augen ließ.
Er ist tatsächlich der Gefährlichere, durchzuckte es den Gefolgsmann Halikarnosas.Die Affen mussten die drei Ordensgardisten angegriffen haben und sorgten so für die gewünschte Ablenkung. Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Mit einem unglaublichen Satz über mehrere Meter hinweg, sprang Logard an Kendars Pferd heran, warf es einfach um. Der Prinz fiel zwar aus dem Sattel, war aber geistesgegenwärtig genug, um sich sofort aus der Reichweite des Schwerts des gerüsteten Kriegers zu rollen.
Tywen sprang vom Pferd. Sein grimmiger Blick durchbohrte Logard.
»Ihr wagt es«, brüllte er, schnellte heran und deckte ihn mit einer Serie aus Schlägen und Finten ein. Scheinbar mühelos parierte der Hüne, der sogar den großgewachsenen Tywen überragte, jeden noch so kraftvoll geführten Streich.
Er wich zurück, als Kendar nun auch sein Schwert zog und näher heranrückte. Dabei fiel Logard auf, dass sich die Weste flach über dessen Brust zog. Die Sonnenscheibe war nicht dort. Er visierte Tywen an. Trug er das Artefakt? Das war gut möglich, denn wie er bemerkte, beulte sich doch bei einigen Angriffsbewegungen des Prinzen dessen Weste.
Die beiden Adeligen rückten nun geordnet vor. Allein für sich waren sie Logard nicht gewachsen, doch man merkte den Dryadengrüns an, dass sie jahrelang gemeinsam trainiert hatten. Sie wechselten sich mit den Schlägen perfekt ab.
Zwar fehlten den Hieben Kendars Kraft und Wucht, aber ihr abgestimmtes Vordringen offenbarte keine Lücken.
Logard sah sich gezwungen, zurückweichen, stieß ein verärgertes Knurren aus.Die beiden Prinzen rückten energisch nach und setzten Hieb auf Hieb. Es gelang ihnen aber nicht, auch nur einen einzigen Wirkungstreffer zu setzen. Der Hüne ahnte alle Schläge voraus und zeigte trotz seiner Größe gar unmenschliche Reflexe
Ein gewaltiger Affenkörper kam den Pfad entlang gestolpert. Der Waldaffe blutete aus verschiedenen Wunden am Körper. Als er die beiden Prinzen mit Logard kämpfen sah, stellte er sich auf und stieß ein wildes, bedrohliches Brüllen aus. Die Brüder hielten unschlüssig inne.Die Ablenkung gab dem gerüsteten Krieger mit dem Flügelhelm den einen Augenblick, den er gebraucht hatte.
Mit einem Tritt gegen das Standbein Kendars brachte er diesen zu Fall. Dafür kassierte er einen Streich von Tywen, der ihm den linken Arm aufriss. Dunkelschwarzes Blut troff aus der Wunde, schloss sich aber sogleich wieder.
»Was seid ihr für eine Kreatur?«, brachte Tywen noch heraus, ehe Logard ihn packen und mit einem festen Ruck die Weste zerfetzen konnte.
Darunter kam die Sonnenscheibe Raden-Surs zum Vorschein.Kendar rollte sich gegen Logards Beine und brachte ihn zu Fall, noch ehe dieser Tywen das Schwert in den Körper stoßen konnte. Überrascht entglitt dem Gefolgsmann Halikarnosas der Zweihänder.
Am Boden liegend wandte sich der Prinz herum und hieb mit seiner Klinge auf die Stelle, an der Logard lag. Ehe ihn das Schwert treffen konnte, stemmte sich der Hüne hoch und sprang aus der Reichweite.
Als Tywen seinem Bruder zu Hilfe eilte, tauchte Logard unter dem zuschlagenden Schwert durch, packte die Schlaghand des Prinzen und riss ihn zu Boden.
Sie rollten über den Pfad. Logard bekam die Kette mit der Sonnenscheibe zu fassen und riss sie vom Hals Tywens. Er hatte, was er wollte. Es war Zeit zu verschwinden. Er sprang auf und wollte sich gerade umdrehen, um fortzulaufen, als die Sonnenscheibe zu pulsieren begann. Eine dämonische Kraft sprang ihn an und ließ ihn zurücktaumeln. Ein Schutzzauber!
Mit einem Schrei voller Wut und Schmerz schleuderte Logard die Scheibe von sich. Die Hand, mit der er das Artefakt gehalten hatte, rauchte. Er konzentrierte sich erneut. Mit Zauberei konnte er gut umgehen. Seit er aus dem Totenreich zurückgekehrt war, war er gegen Magie weitgehend gefeit. Aber er musste sie aktiv bannen.
Die Szenerie erstarrte. Auf dem Waldboden lag Raden-Surs Sonnenscheibe. Tywen rappelte sich auf, während Kendar mit dem Schwert in der Hand schwer keuchend nach Luft schnappte.Der arg ramponierte Affe stand immer noch auf dem Waldpfad und wartete auf einen Wink Logards. Dieser fixierte die im Gras liegende Scheibe. Ihm fiel auf, dass sie nicht vollständig war. In ihrer Mitte, in der einst die rotierende Kugel thronte, klaffte ein Loch. Er verwünschte Cyriana. Sie hatte nicht nur die Sonnenscheibe über Jahrhunderte hinweg gut versteckt, sondern sie auch in ihre zwei Bestandteile zerlegt.
Es machte keinen Unterschied, ob er das Artefakt zurückließ, oder es an sich nahm. Für Halikarnosa war nur die vollkommene Scheibe von Nutzen.
Aus Richtung der Kraterschmiede kamen einige Gestalten mit gelben Togen angestürmt. Sie trugen Krummsäbel und bauten sich sofort drohend zwischen ihm und dem unvollständigen Artefakt auf.
Aber jetzt wusste er auch, was die beiden Ritter aus Dryadengrün hier suchten. Das Spiel war noch nicht entschieden. Knurrend brachte er sich mit einem Satz in Sicherheit. Dabei gelang ihm das Kunststück, sein Schwert vom Waldboden aufzugreifen. Einen letzten Fluch ausstoßend, tauchte er im Gebüsch unter. Der Waldaffe zögerte einen Moment, brüllte und folgte ihm humpelnd nach.
»Wir danken euch für eure Hilfe.« Kendar nickte den Männern mit den gelben Togen freundlich zu. Sie beachteten ihn nicht und scharten sich um die Sonnenscheibe.»Das ist mein Eigentum, rührt es nicht an«, warnte Tywen die gelbgewandeten Gestalten. Er wollte die Männer zur Seite schieben, fand aber sogleich die Klinge eines Krummsäbels an seinem Hals wieder.
»Habt Respekt, Jünger und verneigt euch vor diesem Augenblick. Die heilige Scheibe Raden-Surs ist zu uns zurückgekehrt.«
Hilflos mussten Kendar und Tywen zusehen, wie die Gelbgekleideten ihnen die Schwerter abnahmen. Überraschenderweise erlaubten sie Tywen, die Scheibe an sich zu nehmen. Vermutlich hätte der Schutzzauber sie aber auch attackiert.
Hastig legte er sie um und schob sie unter seine Lederrüstung.
»Folgt uns.«
Sie nahmen die beiden Brüder in ihre Mitte und führten sie in Richtung der Kraterschmiede.Logard beobachtete aus dem dichten Gebüsch heraus, wie die Jünger und die beiden Ritter abzogen.
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...