Nachdenklich verfolgte Cyriana, wie der Hohe Meister alle, außer ihr und dem vom Dämon besessenen Tywen aus dem Raum schickte. Sogar die beiden Drachenschlangen trollten sich.Nachdem sie offenbart hatte, dass sie vor achthundert Jahren am Hexenstein gewesen war, hatten alle Fragen an sie gestellt. Doch der kahlköpfige Mann hatte sie freundlich, aber auch nachdrücklich gebeten, damit zu warten. Er wollte sich um Tywen kümmern.
»Ihr seid nicht derselbe Barut-al-Zavid, der mit mir am Hexenstein weilte«, stellte Cyriana fest.»In einer gewissen Weise schon. Das Wissen aller Hohen Meister wird weitergegeben. Und mit diesem Wissen auch ein Stück des Selbst. Ich wurde geboren als Virad-un-Opat und erlangte in der Zeremonie der großen Weihe das Wissen aller meiner Vorgänger, beginnend mit dem ersten Barut-al-Zavid, dessen Namen ich dann auch annahm.«
Er holte aus seinem Gürtel einen milchig weißen Brocken hervor und legte ihn auf den Tisch. Sie erkannte es sofort und erschauerte. »Das ist ein Stück des Hexensteins.«
»Auch Halikarnosa kam einst als Meteorit auf die Welt. Wie Raden-Surs Meteoritengestein ist auch ihres magisch und ermöglicht Zauber, die wir uns gar nicht vorstellen können. Der Stein hier hat die Eigenschaft, das Wissen seines Trägers, und Teile seiner selbst, in sich aufzunehmen. Er wird bei der großen Weihe weitergereicht.«
Cyriana verstand. »Hat Barut-al-Zavid diesen Stein damals von der Lichtung mitgenommen? Ich habe es nicht bemerkt.«
»Ihr wart damals nicht mehr ihr selbst. Es ist ein Wunder, dass ihr überhaupt entkommen seid.«Mit einem Blick zu Tywen, der aufmerksam zuhörte, wechselte der Hohe Meister das Thema. »Keine weiteren Worte vor ihm.«
Sie entfernten sich außer Hörweite und senkten ihre Stimmen.
»Er ist von dem Dämon besessen, den ich an die Scheibe gebannt habe. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Tywen noch da ist.«
»Wir müssen uns um ihn kümmern, Druidin.«
Sie atmete tief ein. »Das sehe ich nicht so.«
»Tywen ist ein unschuldiges Opfer. Das wisst ihr.«»Ich habe den Dämon nicht ohne Grund in die Scheibe gebannt.«»Er wird sterben, wenn wir ihn nicht bald von dem Dämon befreien.«
Als ob sie das nicht wüsste. Aber es ging hier nicht mehr nur um Tywen. Halikarnosa durfte um keinen Preis die Sonnenscheibe in ihre Hände bekommen. Die Folgen wären zu schrecklich. Sie griff nach ihren Halsketten. Fast augenblicklich kehrten die Erinnerungen zurück. An ihren Schwur, niemals wieder zuzulassen, dass der Blutritus wieder gewoben wird.Auch wenn dies bedeutete, weitere Schuld auf sich zu laden.
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr wart dabei und wisst, was auf dem Spiel steht. Sobald die Gefahr gebannt ist, retten wir ihn.«
»Dann ist es zu spät ... Ist das euer Weg?«
Sie war es ihrer Schwester schuldig, diesen Wahnsinn zu verhindern. Eine direkte Konfrontation überstanden sie nicht. Es blieb nur, die Sonnenscheibe vor Halikarnosa zu verbergen. Viel zu viele waren damals gestorben. Leben war zu kostbar ...
Tywens Leben war kostbar ...
Verzweifelt fasste sie sich an die Stirn. Es verbot sich, jeden noch so kleinen Vorteil aus der Hand zu geben. Mochte der Dämon auch unberechenbar sein, so war er dennoch verpflichtet, die Scheibe zu schützen ... und dadurch ein Verbündeter mit gewissen Fähigkeiten.
Barut-al-Zavid schüttelte seinen kahlen Schädel. »Geht in euch. Die Göttin weiß längst, wo die Sonnenscheibe ist. Wir entkommen ihren Blicken nicht. Der Dämon erfüllt keinen Zweck mehr.«So sehr sie sich auch innerlich sträubte, sie wusste, dass der hohe Meister Recht hatte. Aber jahrhundertelang hatte sie einzig den Plan verfolgt, Halikarnosa den Zugriff auf die Scheibe zu verwehren, und die Menschen davor zu warnen, sollte die Göttin wieder zurückkehren.
Und nun? Sie fühlte sich hilfloser denn je. Wenn sie die Sonnenscheibe verlören, was blieb ihnen dann noch? Konnte ein Heer Ordensritter noch rechtzeitig bis zum Hexenstein durchbrechen? War der Magierzirkel des Königs in der Lage den Blutritus zu unterbinden? Sie zweifelte daran, denn der Schattenwald entzog sich dem Zugriff arkaner Mächte.
Hatten sie überhaupt noch Zeit, irgendetwas davon in die Tat umzusetzen?
Barut-al-Zavid wartete geduldig ab. Er sah ihren inneren Kampf. Sie schluckte.
»Der Blütenteppich Raden-Surs wird sie nicht sehr lange aufhalten ... und dann stürmen sie die Hänge.«»Das mag sein, Cyriana.«»Die Waldkreaturen werden uns überrennen ... und wir werden Leben und Sonnenscheibe verlieren.«»Wäre denkbar, aber auch ich habe Möglichkeiten in den Wald zu blicken. Halikarnosa fürchtet wohl am ehesten ein Heer Ordensritter, das sich zu ihr durchkämpft. Sie zieht ihre Kräfte um den Hexenstein zusammen. Auch die Kaiserstraße ist dabei, vollständig zu überwuchern. Sie igelt sich ein.«
Vor ihren Augen sah sie, wie sich die Dornenbüsche über die Straße schlängelten und allerlei giftiges Getier sich auf Lauer legte. Halikarnosa hatte bereits einmal so reagiert. Damals, als auf der Lichtung Gorald mit seinem Heer auf die Hexenschar traf ... und der Großmeister mit seinem Schwert ihrer Schwester den Kopf abschlug.
Noch während die Waffen Schneisen des Todes schlugen und das Blut den Boden benetzte, zog Halikarnosa Pflanzenring und Dornenwall um die Lichtung, die es jedem unmöglich machte, durchzubrechen.
»Yenraven und ihr Feuerelementar reichen aus. Sie werden sich Raden-Surs Scheibe holen.«Barut-al-Zavid bückte sich weit nach vorne. »Ich kenne euch besser, als ihr denkt. Wir sind damals tagelang durch den Wald geirrt, bis wir einen Weg ins Freie fanden.« Er legte seine Hand fast schon vertraulich auf ihre linke Schulter.
Sie schluckte, ließ es aber zu.
»Tywen ist keine Waffe. Ihr würdet daran zerbrechen, wenn der Dämon ihn tötet.«
Barut-al-Zavids Worte weckten ihre Erinnerungen. Mehr tot als lebend waren sie aus dem Wald hinausgestolpert. Halikarnosa hatte ihnen keine Ruhe gegönnt. Sie hatte sie gnadenlos gejagt. Doch als sie die ersten Weiler und Gehöfte erreichten, hatte sie nur qualmende Gebäude gesehen, vergiftete Brunnen. Menschen kauerten über den Gräbern ihrer Liebsten, weinende Kinder saßen allein in Hauseingängen ... und dann war da diese Frau, die selbst fast nichts hatte ... und dieses wenige mit ihnen teilte.
Sie war innerlich verroht, als zu Beginn des Hexenkriegs aufgebrachte Menschen ihre Eltern verbrannten, war verkrüppelt, als ihr damals Barut-al-Zavid die Augen über Halikarnosa öffnete ... und zerbrochen, als ihre Schwester am Hexenstein starb.
Aber als sie das Elend der Menschen sah, es zum ersten Mal wahrhaftig wahrnahm, hatte sie dies innerlich in Stücke zerfetzt.
»Retten wir ihn«, murmelte sie leise.
Der kahlköpfige Mann nickte zufrieden. Er hatte keine andere Antwort erwartet.
»Warum ist der damalige Barut-al-Zavid mit der Kugel aus der Sonnenscheibe hierher zurückgekehrt?«, erkundigte sie sich heiser. »Wir hatten darüber gesprochen, dass er mit ihr möglichst weit in die Ferne reisen sollte.«
Der hohe Meister nahm die Kugel in die Hand und betrachtete sie nachdenklich.
»Das hat er, Cyriana. Erst Jahrhunderte später hat ein anderer hoher Meister sich dazu durchgerungen, hierher zurückzukehren. Er wollte die Kraterschmiede, die vom Schattenwald überwuchert war, wieder in Besitz nehmen. Er konnte das nur mit der Macht der Kugel bewerkstelligen.«
»Er hat einen Teil der Sonnenscheibe mitten in den Einflussbereich Halikarnosas gebracht«, warf sie ihm leise vor. »Das war nicht klug.«
»Ihr habt die Sonnenscheibe nach Fels Karabatos gebracht. War das klüger?«
»Ich wollte in der Nähe der Scheibe bleiben. Gewiss gab es diese Idee, sie in ferne Lande zu bringen oder in der Smaragdsee zu versenken. Aber das Artefakt wäre außer Sicht gewesen. Ich konnte das Risiko nicht eingehen, dass andere Mächte sich der Sonnenscheibe bemächtigen und ich es nicht einmal erfahre. Darum wählte ich die tiefen Stollen Fels Karabatos' als Versteck und bannte den Dämon an die Scheibe.«
»Und ich dachte, ihr wärt über eure damalige Zeit hinaus.«
»Den Dämon habe ich erst zweihundert Jahre nach den Vorkommnissen des Schattenwalds beschworen. Damals verfügte ich noch über meine Hexenkräfte. Ich habe den Kräften danach abgeschworen. Ein Artefaktschmied legte mir die Bindungsbänder auf eigenen Wunsch an. Niemals wieder wollte ich mit meiner Hexenmagie Schaden anrichten.«
Cyriana hob ihre Unterarme. Ein wissender Blick des Hohen Meisters fiel auf ihre beiden silbernen Armschienen.
»Ein anderes Problem, Druidin. Aber seid froh darum. Raden-Surs Blütenteppich lässt keine Hexe passieren. Euch hat er dank der Schienen gar nicht als solche erkannt.«
Barut-al-Zavid erhob sich, umrundete den Tisch und öffnete einen kleinen Schrank an einer Wand des Saals. Er holte einige Kräuter hervor, die er in ein kleines, ofenähnliches Gefäß mit einer zierlichen, silbernen Kette stopfte.
Tywen, der ihnen aufmerksam zugeschaut hatte, wurde unruhig. Sein Blick fiel auf die Heilpflanzen. Er schien sie von irgendwoher zu kennen.
»Was habt ihr vor?«, wollte Cyriana wissen.
Der kahlköpfige Mann entzündete die Kräuter im Ofen und hing sich das Gefäß um den Hals. »Es ist ein Traumdämon. In den Traumwelten ist er zu Hause. Und nur dort ist er angreifbar.«»Über die Träume gelingt es ihm, Besitz von den Menschen zu ergreifen. Was ihr wagt, ist gefährlich.«
»Der Dämon wird mich nicht übernehmen, Cyriana. Mein Wille ist zu stark. Ich bin kein Opfer.«Sie war sich nicht sicher, ob sich Barut-al-Zavid nicht täuschte. Die finsteren Kreaturen zu unterschätzen war ein Fehler, den man nur einmal beging.
Der kahlköpfige Mann ergriff mit seiner rechten Hand die Sonnenscheibe, die um Tywens Hals hing. Augenblicklich begann sich der Ritter wild zu gebärden, doch der Hohe Meister legte ihm die Handfläche seiner Linken auf den Kopf.
»Ich gehe jetzt in die Traumwelt und werde euch von dieser Last befreien.«Cyriana sah zu, wie Barut-al-Zavid die Augen schloss, währenddessen er sich anspannte, um den unweigerlichen Angriff des Dämons abzuwehren. Der Hohe Meister hielt die Sonnenscheibe weiterhin fest im Griff.
Einer inneren dunklen Vorahnung folgend, schritt sie an seine Seite, hielt ihre Hand über seine Schulter, und legte sie schließlich darauf.
Ich werde euch auf eurer Reise nicht aus den Augen lassen ....
Die Magie der Druiden war die des Lebens. Ein Druide war zwar nicht in der Lage, wie Hexen physische Gewalt zu wirken, entfaltete aber starke mentale Kräfte. Sie konnte so über Tiere und Pflanzen gebieten, heilende Kräfte in Körpern erwachen lassen und sogar die Natur beeinflussen. Sich in einen Traum einzuklinken stellte für sie keine Herausforderung dar.
Es dauerte einige Zeit, bis sie die gekapselte, gemeinsame Traumwelt Barut-al-Zavids, Tywens und des Dämons erreichte. Zunächst war sie aber nur in der Lage zuzusehen. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Nicht nur der Dämon erhob sich drohend vor dem Hohen Meister, auch eine zweite, hünenhafte Gestalt näherte sich bedrohlich vom Rand ihrer Wahrnehmung auf die beiden zu. Wie sie und Barut-al-Zavid gehörte dieses Wesen nicht hierher.
Cyriana hatte keine Ahnung, wie Barut-al-Zavid über den Dämon triumphieren wollte. Sie wusste aber, dass ein Kampf mit der finsteren Kreatur und ein Sieg über ihn nur dazu führte, dass der Bezwinger selbst zum Besessenen wurde.
Der kahlköpfige Mann sprach eindringlich auf den Dämon ein. Nun nahm sie einige Fetzen der Unterhaltung wahr. In der Tat machte er dem Geschöpf der Dunkelheit den Vorschlag, als Teil der Essenz in den weißen Stein der Hohen Meister zu wechseln. Dort würde er ewig existieren.
Das klang zwar gefährlich, würde es doch den Stein korrumpieren. Andererseits war die gesammelte Essenz der Hohen Meister sicherlich in der Lage den Dämon in Schranken zu halten. Ob der Kreatur dieser Vorschlag gefiel, konnte sie nicht abschätzen, hätte aber nicht darauf gesetzt. Dämonen waren auch so zeitlos. Das Angebot des Hohen Meisters war ohne Wert. Was hatte er nur vor?
Mehr Sorgen machte sich Cyriana jedoch über die Gestalt, die sich immer weiter den beiden näherte. Die Druidin spürte förmlich, dass hier für den Hohen Meister eine Bedrohung entstand, der er nicht gewachsen war. Sie musste tiefer in die Traumwelt eintauchen, nicht nur beobachten, sondern dort manifestieren.
Sie stand am Rande eines sanften Hügels. Windböen fegten über die Graslandschaft und ließen ihr schwarzes, schulterlanges Haar wild durch die Luft wirbeln. Cyriana sah sich um. Nirgends konnte sie den Hohen Meister ausmachen.
Einen Moment lang stieg Panik in ihr auf. Was, wenn sie den Weg zu ihm nicht fand? Was wenn der Weg zurück aus der Traumwelt für sie für immer verschlossen blieb? Sie atmete tief durch. Das waren nicht ihre Gedanken. Die Traumwelt des Dämons versuchte, sie abzustoßen, ihr Angst einzuflößen. Es würde nicht gelingen.
Der Wind wurde immer stärker. Er stand für die Unruhe im Geiste Tywens. Um sich zu beruhigen konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung. Der Hohe Meister hatte mit dem Dämon gesprochen. Sehr wahrscheinlich war diese Unterhaltung lautstark genug, um vom Wind bis zu ihr getragen zu werden.
Sie erstieg den sanften Hügel und sah sich um. Um sie herum war nur ein wogendes Meer dunkelgrüner Grashalme. Es wandte sich von ihr ab. Sie war hier nicht erwünscht. Die Traumwelt spiegelte ihr eine leere Landschaft vor.
Ob hier ihre Magie wirkte?
Sie schloss die Augen, lauschte dem Wind, flüsterte ihm Worte zu. Auch wenn jeder Lufthauch dem Aufruhr in Tywens Geiste entsprach, so war er doch, hier in dieser Traumwelt, Wirklichkeit. Er zerrte an ihr, versuchte sie zu vertreiben.
Die Windrichtung wechselte. Cyriana ließ sich von den Lüften führen, schritt zielsicher über die sanften Hügel. Die Wiese zu ihren Füßen vergilbte, die saftigen Halme verdorrten, wurden rötlicher.
Aus der Luft schälten sich drei Gestalten.
Barut-al-Zavid befand sich im Griff eines wahren Hünen mit mattschwarzer Rüstung und einem goldenen Flügelhelm. Er wandte Cyriana den Rücken zu. Die Kreatur versuchte unterdessen den hohen Meister mit Worten einzuwickeln. Barut-al-Zavid war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Vermutlich war der Dämon drauf und dran, sich des hohen Meisters zu bemächtigen.Sollte ihm das gelingen, wären die Auswirkungen drastisch. Als Hoher Meister gebot er über alle Jünger Raden-Surs. Es war nicht absehbar, welche Konsequenzen dies für sie und ihre Begleiter hatte.
Die Bewegungen der großgewachsenen Gestalt erweckten in ihr längst verdrängte Erinnerungen. Wie konnte das sein? Sie fokussierte den Helm. Er kam ihr vertraut vor. Sie schrak zusammen. Das war unmöglich.
»Denkt an den Handel, mir die Scheibe«, hörte sie die tiefe, verhasste Stimme des Hünen. Er war es. Es gab keinen Zweifel. Ihr wurde heiß und kalt zugleich.
Cyriana trat in den Rücken des Gerüsteten und obgleich es nur eine verzweifelte Geste aus Wut und Ohnmacht heraus war, stieß sie ihn mit ihren Händen, so fest sie konnte.
Der Hüne wankte überrascht, fing sich aber sogleich wieder. Natürlich hatte der Stoß ihm nicht im Geringsten geschadet. Immerhin lockerte er den Griff um den hohen Meister soweit, so dass sich dieser herauswand.
Ächzend glitt Barut-al-Zavid an ihre Seite.
Der Dämon kicherte. »Ups, das ist meine Herrin, Logard. Sie ist also auch zugegen.«Logard? War das etwa jetzt sein Name?
Der Hüne richtete seine blitzenden Augen, die rotglühend unter dem Visier herausstachen, auf sie. Sie schwiegen beide. Cyriana schluckte schwer. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit ihm.
»Ihr nennt euch also jetzt Logard?«, brach die Druidin mit belegter Stimme schließlich das Schweigen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, wollte ihre Wut und ihren Zorn lauthals hinausschreien.
»Und ihr nennt euch Cyriana, wie ich hörte. Wir reisen wohl beide mit erschlichenen Namen.«Der Dämon kauerte sich ins Gras. Er wirkte entspannt und genoss sichtlich die Konfrontation der beiden. Selbst war er nicht in der Lage gegen Cyriana vorzugehen, das überließ er seinem Verbündeten.
Der Hohe Meister indes setzte sich etwas zur Seite ab. Auch er hatte nun den Hünen erkannt. Er rieb sich nachdenklich das Kinn. Cyriana sah Barut-al-Zavid die Unentschlossenheit ob dieser neuen Lage an.
»Etwas ideenlos, einfach nur die Buchstaben des Namens anders anzuordnen, Gorald«, fauchte sie den Hünen an. Ihre Augen hatten sich zu zwei bösartig funkelnden Schlitzen verengt. So hatte Barut sie einst kennengelernt, voller Zorn und Hass auf die Menschen. Diesmal richtete sie ihren Hass aber nur auf einen Einzigen, auf den Mörder ihrer Schwester.
»Ich habe eine schöne Legende hinterlassen, Cyriana. Die zerstört man nicht so einfach. Meinen jetzigen Namen kennen nur wenige. Niemand bringt ihn mit dem legendärsten Heroen in der Geschichte des Ordens und des goldenen Reichs in Verbindung.«
»Held? Nichts stünde euch ferner. Ihr ward schon immer ein Monster, Gorald von den tiefen Auen, gelenkt seit jeher von Halikarnosa.«
»Ich?« Gorald brach in ein böses Lachen aus. Die wogenden Gräser hielten inne. »Ich habe mich heldenhaft vor Kinder und Mütter geworfen, um sie vor eurer Schwester und euch zu retten.«
»Ihr habt nichts dergleichen getan. Ihr habt Hexen gnadenlos gejagt, sie mitsamt ihren Familien hingerichtet.«»Es durfte eben keine Erben geben.«»Ihr seid ein Schlächter.«»Ihr und eure Schwester wart ebenfalls keine Lämmer, Cyriana.«
Sie schluckte, sah erneut die brennenden Gehöfte, die ihre Hexenschar angezündet hatte und die unzähligen Menschen, die sie eigenhändig niedergestreckt hatte. Unbarmherzig, ohne darauf zu achten, ob diese Menschen schuldig waren oder nicht.
»Ihr habt Recht. Das waren wir nicht. Wir haben auch Blut vergossen. Auch ich bin ein Monster dieser Zeit.«
»Wusstet ihr eigentlich, Cyriana, dass Halikarnosa mich beauftragt hatte, die Hexenaufstände überhaupt erst zu schüren? Sie hatte euch und eure Schwester in diesem kleinen unbedeutenden Weiler aufgespürt. Zwei Jugendliche, die das Potential für den Blutritus hatten, lebten ahnungslos in friedlicher Eintracht am Waldrand.«
Cyriana schwieg. Natürlich wusste sie, was geschehen war. Halikarnosa steckte hinter den Aufständen. Ihr Plan war es gewesen, durch den Hexenaufstand die eine Hexe zu finden, die für den Blutritus geeignet war. Sie hatte derer zwei gefunden, sie und ihre Schwester. Ein aufgehetzter Mob verbrannte ihre Eltern auf dem Scheiterhaufen und auf der Flucht vor den Mördern, trieb Gorald sie und ihre Schwester zum Hexenstein. Dort nahm Halikarnosa sie in Empfang. Sie hatte ihren Hass, ihre Wut geschürt und sie zu Bluthexen gewandelt. Als Halikarnosa fertig war, sie zu ihren Werkzeugen zu formen, hatte man sie auf die Menschen losgelassen. Sie hatten in den Hexenkrieg eingegriffen ... und Blut und Verderben gesät.
Sie erinnerte sich daran, wie sie alles dank Barut-al-Zavid durchschaute und wie in der Folge Gorald mit seinen Ordensrittern anrückte.
»Und als wir uns weigerten, den Blutritus zu sprechen, führtet ihr eure Männer in den Wald zum Hexenstein.«
»Halikarnosa brauchte Hilfe. Die gab ich ihr.«
»Meine Schwester starb durch eure Hand, Gorald.«
»Ihr hättet ihr folgen sollen.«
»Ihr müsstet tot sein, Gorald.«
»Ihr auch.«
Sie starrten sich unversöhnlich an.
»Und jetzt?«, wollte Cyriana wissen.
»Und jetzt werde ich dem Dämon helfen, den Hohen Meister zu übernehmen. Stellt euch vor, welche Möglichkeiten sich hier eröffnen. Er wird uns Tywen mit der Scheibe ausliefern. Halikarnosa wird die Bindung des Dämons auflösen.«
Die Kreatur erhob sich in freudiger Erwartung. Cyriana gebot ihr mit entgegengestreckter Handfläche Einhalt, woraufhin sie wippend verharrte. Der Dämon sah hilfesuchend zu Gorald. Der Hüne ließ sich nicht zweimal bitten.
Er unterstand im Gegensatz zu ihm nicht ihrem Willen. Gorald trat vor, packte den überraschten Hohen Meister am Arm und schleuderte ihn wie eine Puppe in die Arme des Dämons, der ihn mit einem wohligen Schmatzen sogleich umarmte.
Als die Kreatur begann ihn unter seinen Einfluss zu zwingen, wurden Baruts Augen glasig.
»Aufhören!«, brüllte Cyriana verzweifelt.
»Weitermachen!«, donnerte Logard. Mit ungläubigem Entsetzen musste Cyriana erkennen, dass der Dämon tatsächlich auf den ehemaligen Großmeister des Ordens hörte. Der Hohe Meister schloss seine Hände um den Hals des Dämons.
»Höre nur auf meine Stimme, Dämon. Ich bin dein Meister.«
Cyriana verstand nicht, warum Gorald diese Macht ausübte. Sie hatte den Dämon gerufen, ihn gebunden, war somit seine Herrin geworden. Welche Magie war stark genug, ihren Bindungszauber zu umgehen?
Sie wusste es nicht. Ihr Blick irrte zu Gorald, der sie stoisch ignorierte und nur auf den Dämon und sein Opfer starrte. Es war etwas anderes ... er unterdrückte ihren magischen Einfluss auf die finstere Kreatur und ermöglichte dadurch dessen Widerstand.
Sie wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn der Dämon den Hohen Meister unter seine Kontrolle bekam. Glücklicherweise dauerte die eigentliche Übernahme Tage, weshalb Barut-al-Zavid durchaus Zeit hatte, gegenzusteuern.
»Was seid ihr, Gorald? Wieso habt ihr Einfluss auf meinen Fluch?«
Der Hüne mit dem Flügelhelm wandte ihr seinen Kopf zu. Dabei entging ihm die Veränderung bei Barut-al-Zavid. Nicht jedoch Cyriana. Sie musste den Großmeister ablenken.
»Ihr seid doch nur ein kleines Hündchen Halikarnosas. Sobald sie hat, was sie will, seid ihr überflüssig.«
In Goralds Rücken stieß der Dämon einen überraschten Laut aus. Dann begann er sich selbst die Hände um seinen Hals zu legen. Der Blick Barut-al-Zavids klärte sich.
Die Blicke des einstigen Großmeisters fixierten sie. Er schnaubte erbost. »Ihr habt keine Ahnung, kleine Druidin. Halikarnosa ist eine Göttin. Sie wird mir das Leben schenken und ich werde fortan ihr loyaler General sein.«
»Der Blutritus wird euch töten.«
»Ich kann nicht getötet werden, denn ich lebe gar nicht.«
Der Dämon würgte und ging in die Knie. Barut-al-Zavid beugte sich über die Kreatur und legte seine Hand auf den Schädel des Geschöpfs. Gorald schien die Laute nicht zu hören oder er ordnete das Würgen dem Hohen Meister zu, denn er trat drohend auf sie zu.
»Ihr hattet die Gelegenheit, Cyriana, Halikarnosa zu dienen und habt dieses Geschenk achtlos weggeworfen. Ihr verdient den Tod. Ich werde noch weiterhin an ihrer Seite stehen, wenn ihr längst verweht seid.«
Sie hatte keine Ahnung, wie es Gorald gelungen war, aus dem Totenreich zurückzukehren. Halikarnosa hatte nie Derartiges vollbracht und selbst eine Bluthexe verfügte nicht über diese Machtmittel. Aber er stand, wenngleich in einer Traumwelt vor ihr und wirkte kein bisschen tot.
»Ich werde euch dahin zurückschicken, Gorald, woher ihr auch immer gekrochen seid.«
»Ich werde euch töten, Cyriana.«
»Ihr habt bereits meine Schwester ermordet. Ich werde es euch nicht so leicht machen.«
»Wir werden sehen.«
Ein grauenvoller Schrei ließ Gorald herumwirbeln. Der Dämon lag zuckend am Boden, seine Krallen hatten sich tief in seine eigene Kehle gebohrt. Der Hohe Meister betrachtete mit ausdrucksloser Miene den Todeskampf des Wesens.
»Unmöglich!«, dröhnte der Großmeister überrascht.
»Ihr habt mich schon immer unterschätzt, Gorald von den tiefen Auen. Ich habe meine Magie verfeinert. Der Dämon hatte nie eine Chance. Ihr wart aber ein lästiger Störfaktor, doch dank Cyriana hatte ich Zeit genug. Während der Dämon dachte, mich einzuwickeln, wechselte ich in seinen Geist.«
Gorald wollte auf Barut-al-Zavid zustürzen, doch kam er nicht mehr dazu. Die Umgebung verschwand. Der Traum löste sich auf, da der Dämon verging.»Es ist noch nicht vorbei«, schrie ihnen der Hüne mit dem goldenen Flügelhelm zu.
Cyriana schlug die Augen auf und starrte in die zufrieden leuchtenden Augen des Hohen Meisters. Sie selbst fühlte sich leer und betrogen. Gorald existierte immer noch und trieb weiterhin sein Unwesen. Er, der ihre Schwester ermordet hatte. Sie ergriff die Halskette mit dem roten Stein. Er wird dafür bezahlen.
Zumindest waren sie den Dämon los.
»Was ist passiert?« Tywen blickte irritiert in die Runde »Wo bin ich?«
Der Hohe Meister brachte den Ritter aus Dryadengrün auf den aktuellen Stand, ließ dabei nichts aus und verschwieg auch die Rolle Cyrianas nicht, wenngleich die Erinnerungen über ihre Rolle ohnehin präsent waren.
»Ihr seid einen dunklen Weg gegangen, Cyriana. Ich kann mich erinnern, dass ich euch töten wollte und das sogar, noch ehe mich der Dämon beeinflusste.«
»Letztlich hat sie sich entschieden, euch zu retten, vergesst das nicht«, mahnte der Hohe Meister ruhig.
Tywen streckte dem Hohen Meister seine gefesselten Hände entgegen. Während Barut-al-Zavid den Ritter aus Dryadengrün befreite, besah sich Cyriana die Sonnenscheibe, die um dessen Hals hing.
Wie nur mit ihr weiter verfahren?
»Wir sollten sie wieder aufteilen und versuchen, getrennt aus dieser Mausefalle hier zu entkommen.«
Tywen schlug sich mit der Hand auf die Brust und umklammerte das Artefakt. »Dies hier gehört den Dryadengrüns. Wagt es nicht, sie anzufassen.«
Barut-al-Zavid schüttelte nur den Kopf. »Sie ist nicht euer Eigentum, Prinz. Ihr seid nur ihr derzeitiger Träger.«
Mit gefurchter Stirn wich Tywen vor Barut-al-Zavid zurück.
»Ich wiederhole mich nur ungern, Jünger Raden-Surs. Die Scheibe bleibt Eigentum der Dryadengrüns. Sie wird weder auseinandergenommen noch sonst irgendwohin verwahrt. Ich bringe sie zu meinem Vater.«
»Wisst ihr auch, warum die Scheibe eurem Regenten so wichtig ist, Tywen?«, wollte Cyriana wissen.
»Das spielt für mich keine Rolle.«
Der Hohe Meister stieß einen langgezogenen, resignierenden Laut aus. »Warum ist die Welt so voller Kleingeister?«
Kopfschüttelnd stand er auf und setzte die gelbe Kugel in die Sonnenscheibe ein. Fassungslos betrachtete Tywen die nun vollständige Scheibe.
»Warum?«
Barut-al-Zavid richtete einen schulmeisterlich tadelnden Blick auf den Armbrustschützen. »Ich führe zusammen, was zusammengehört, Ritter Tywen aus Dryadengrün. Letztlich gehört sie niemandem.«
Er ließ eine kurze Pause folgen. »Sie IST Raden-Sur.«

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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...