Ordensburg im Aufbruch

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Es war schon später Nachmittag. Tanat hatte die Waffenkammer geöffnet und noch einige Schwerter gefunden, welche bei zukünftigen Zeremonien an angehende Ordensritter überreicht werden hätten sollen.

Es war jetzt aber nicht die Zeit der Weihe. Es war die Zeit des Handelns.

Er hatte sich persönlich den Bericht des zurückgekehrten Ordensgardisten angehört und sich ein eigenes Bild gemacht.

Die beiden Dryadengrüns hielten sich mit der Sonnenscheibe in der Kraterschmiede auf. Ignatus hatte vermutet, und er teilte diesen Verdacht, dass auch Cyriana mittlerweile dort angekommen war. Was diese drei mit dem Artefakt Raden-Surs vorhatten und ob sie am selben Strang zogen, war ihm aber unklar.

Als die Waffen mit den gelben Klingen an fähige Gardisten verteilt wurden, ergriff sich Tanat ein Kurzschwert. Sein Langschwert hatte er in seinem Gemach zurückgelassen. Er wusste, dass er nicht mehr in der Lage war, es jemals zu führen.

Nun ja, vielleicht doch bald wieder.

Neidvoll beobachtete er die muskelbepackten Hünen, wie sie sich mit einer unglaublichen Lässigkeit Ordensschwerter herauspickten, die Tanat nicht einmal mehr mit zwei Händen hätte heben können. Er pickte vier besonders fähige Gardisten heraus und bestimmte sie zu seiner persönlichen Elitegarde. Sie durften ihm nicht mehr von der Seite weichen.

»Wir müssen Yenraven und vielleicht auch Cyriana aufhalten«, wiederholte Ignatus vom goldenen Turm fortwährend und blickte dabei immer wieder mahnend zu ihm. Tanat zum Weidentor nickte automatisch. Er hatte festgestellt, dass er damit den Wissenswahrer am ehesten beschwichtigen konnte. Im Grunde waren ihm die beiden Bluthexen einerlei. Es zählte einzig, wer die Sonnenscheibe besaß.

Natürlich durchschaute Ignatus ihn. Schlechtgelaunt ergriff der Bucklige ein gelbes Kurzschwert, besah es sich, als wäre es verfaulter Käse und verließ die Kammer.

Kaum war der Wissenswahrer gegangen, verfiel Tanat ins Brüten. Er kannte nicht die Beweggründe des Kräuterweibs und der beiden Ritter, die Schmiede aufzusuchen, aber er war sich ziemlich sicher, dass es mit der Sonnenscheibe zusammenhing. Von einem seiner Ordensritter hatte er erfahren, dass das Gerücht umging, die Kraterschmiede wäre wieder bewohnt. Ein erneutes, beunruhigendes Rätsel, hieß es doch, dass mit weiteren Spielern zu rechnen war.

Auf dem Gang vor der Waffenkammer sah er Dairos, wie er mit Ignatus einige wütende Worte austauschte. Der Wissenswahrer war nicht allzu weit gekommen. Ein feines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und eine diebische Freude machte sich in ihm breit. Hatte er die beiden nicht aus genau diesem Grund zusammengebracht, damit sie sich aneinander rieben? Sollte Dairos den misstrauischen Buckligen also beschäftigen?

Er ging an den beiden Streithähnen vorbei. Sie stritten über Cyriana. In der Tat, ihre Rolle blieb undurchschaubar. Als Schwester Yenravens trug sie Schuld am Hexenkrieg und am Leid und Tod vieler. Auch wenn er an Dairos' Schilderungen, dass es nur Cyriana zu verdanken war, dass Granitfurt nicht das Schicksal Ulmensteins teilte, keinen Zweifel hegte, blieben ihre Beweggründe im Dunkeln. Ein Gedanke peinigte ihn ständig. Wollte auch sie in den Besitz der Scheibe gelangen? Wenn ja, dann musste er sie ausschalten.

Das Buch hatte ihm die lebensverlängernde, vielleicht sogar verjüngende Wirkung der Sonnenscheibe offenbart. Die Druidin hatte das Artefakt aber jahrhundertelang vor ihrer aller Augen versteckt und war dennoch nicht gealtert. Sie brauchte es nicht dazu. Was waren ihre Motive? Wollte sie die Unschuldigen schützen? Sie, eine Hexe, die einst selbst Tod und Verderben über die Menschen am Rand des Schattenwalds gebracht hatte?

Er wusste, dass Dairos davon überzeugt war, dass Cyriana über die Jahrhunderte hinweg versucht hatte, durch ihr Wirken als Heilerin, ihre Schuld abzutragen. Das war närrisch und naiv. Aber Dairos glaubte auch an die Reinheit und den Glanz des Ordens.

Andächtig schritt er durch einen Übungsraum und passierte einen Spiegel, blieb abrupt stehen und musterte sich. Von seiner früheren Kraft und Geschmeidigkeit war nicht mehr viel übrig. Aber dennoch überstrahlte er mit seiner Persönlichkeit, seinem Mut und seiner Weisheit alle anderen. Es gab keinen würdigeren Träger für die Sonnenscheibe Raden-Surs.

Aber in einem hatte Ignatus nicht ganz unrecht. Er durfte den Orden nicht gegen sich aufbringen. Um seinen Anspruch also zu untermauern, war es wichtig, die Gefahr durch die Bluthexe zu bannen. Und da durfte er auch keinem anderen das Feld überlassen.

Ein Gardist trat an seine Seite. »Sollen wir heute noch aufbrechen, oder in den frühen Morgenstunden?«

Das Verteilen der Waffen war fast abgeschlossen. Viele Ordensgardisten waren nun ausgerüstet. Im Hof hörte Tanat den grauhaarigen Favulkos einige Kommandos rufen. Der alte Ordensritter hatte auf seinen Befehl hin aus der umliegenden Gegend Pferde requiriert und Proviant besorgt. Nun waren die meisten seiner Männer reichlich ausgerüstet. Tanat würde den Großteil aller Ordenssoldaten mitnehmen und die Burg nur mit einer kleinen Rumpfmannschaft zurücklassen. Um das Ziel zu erreichen, musste er alles in die Waagschale werfen.

Jede Faser in ihm schrie, sofort aufzubrechen. Aber sie mussten damit rechnen, auch auf Yenraven und ihren Feuerelementar zu stoßen. Mühsam unterdrückte Tanat die aufkeimende Furcht. Der Gedanke daran, noch einmal schutzlos dem Feuerelementar gegenüberzutreten, verängstigte ihn zutiefst.

Ignatus hatte dieselben Bedenken gehabt und ihm einen interessanten Vorschlag unterbreitet. Sein Blick schweifte hinüber zur Esse der Burg. Rauch kräuselte durch den Schornstein. Der Waffenmeister war bereits dabei, Ignatus' Idee umzusetzen. Er würde noch die Nacht benötigen.

»Wir brechen in der Morgendämmerung auf«, entschied er.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt