Dairos Mission

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Der blonde Mann mit der stahlblauen Rüstung, dem sonnengelben Umhang und dem Ritterhelm unter dem Arm blieb vor dem großen Tor stehen und sah die zwei Gardisten kalt an. Er war sich seiner Autorität wohl bewusst.

»Ordensritter Dairos von Ordon?«, erscholl eine Stimme von der Seite. Eine kleine bucklige Gestalt mittleren Alters erschien zwischen den beiden Wachen und bat ihn, zu folgen.

Mit einer knappen Geste willigte Dairos ein. Sie betraten über die Wachstube der Soldaten einen großen, mit glänzenden Waffen und Schilden dekorierten Saal. Gemälde und Wandteppiche berichteten von unzähligen glorreichen Taten des Ordens.

Der junge Ritter erkannte nahezu alle Darstellungen. Auf der Akademie hatten seine Lehrmeister großen Wert darauf gelegt, die ruhmreiche Vergangenheit heraufzubeschwören. Bei einem der Wandbehänge blieb er irritiert stehen. Er zeigte einen Feuerball, der in einen Wald einschlug und einen Zug gelbgewandeter Gestalten, die sich anschickten dorthin zu wandern.

»Ein sehr alter Teppich aus den Anfangstagen des Ordens«, erklärte sein Begleiter.

Dairos wandte sich achselzuckend ab. Er Dairos von Ordon, würde der Geschichte neuen Glanz verleihen. Das war sein Schicksal. Er war die Faust des Ordens. Er hatte keinerlei Zweifel daran, dass eines Tags ein Teppich über ihn gewoben werden würde.

Am Ende des langgestreckten Ovals residierte ein Mann mit gleichsam dunkelblauer Gewandung auf einem breiten Stuhl an einer langen, reich gedeckten Tafel. Er war allein. Das Leben hatte bereits unzählige Furchen in das Gesicht des Abts gekerbt, sowie das schüttere Haar ergrauen lassen.

»Ich bin Ordensabt Tanat zum Weidentor von der Burg der göttlichen Hand.« Er stand auf und kam Dairos von Ordon entgegen.

»Ich bin das Licht ...«, begann der junge Ritter die rituelle Begrüßung»und das Feuer...«, fuhr der alte Mann fort.

Täuschte sich Dairos, oder klangen die Worte etwas gelangweilt?»Und die Säuberung«, vollendete der junge Ordensritter voller Inbrunst.

Sie griffen sich an die Unterarme. Der blonde Ankömmling verneigte sich dabei vor dem grauhaarigen Ordensabt. Einen Moment hielten beide inne, dann deutete der bejahrte Abt seinem Besucher an, sich zu setzen. Er selbst straffte sich kurz und nahm gegenüber Platz.

Dairos musterte seinen Gastgeber unverhohlen. Tanat zum Weidentor war eine Legende, galt für viele als die Ikone des Ordens und das, obgleich er hier nur in einer kleinen Burg weitab von der großen Reichsstadt residierte. Trotz seines Alters strahlte der grauhaarige Mann mit dem zerfurchten Gesicht, den langen ungepflegt wirkenden, strähnigen Haaren eine Energie aus, der man sich nur schwer entzog.

»Ich freue mich, dass der Großmeister meiner Bitte so schnell nachgekommen ist und euch geschickt hat. Glaubt mir, auch wenn dies hier ein kleiner Ordenssitz ist, so höre ich einiges. Euer Name ist in allerlei Munde, habt ihr die Akademie doch als Jahresbester abgeschlossen.«»Nicht nur als Jahrgangsbester, ehrwürdiger Tanat zum Weidentor. Meine Lehrer bezeugten, dass seit Dekaden niemand so erfolgreich wie ich die Prüfungen abgelegt hat«, bekundete er stolz.

»So, so. Man trug mir aber auch zu, lieber Dairos, dass ihr zu Beginn eurer Akademiezeit bei einer Übungsmission einen schwerwiegenden Verstoß begingt. Das hätte fast euren Ausschluss bedeutet. Steckt etwa ein Rebell in euch?«

Mit dieser Eröffnung hatte Dairos nicht gerechnet. Seine damalige Verfehlung war ein dunkler Fleck. Aber der Gesandte des Großmeisters hatte ihm bereits angedeutet, dass Tanat zum Weidentor sich stets gut informierte. Es war also nicht verwunderlich, dass er viel über ihn wusste. Dairos sagte nichts und nahm Haltung an. Er erwartete seine Order.

Der alte Mann hob spöttisch seine Augenbraue, kam aber sogleich auf sein eigentliches Anliegen. »Ich habe Nachricht aus Granitfurt erhalten.«

»Granitfurt? Das liegt im äußersten Norden des Königreichs, nicht weit entfernt von hier. Ich war dort ... vor langer Zeit.«

Der alte Ordensabt kicherte. »Gewiss, Dairos von Ordon. Ihr habt in dieser Stadt das Licht der Welt erblickt. Haltet mich nicht für einen Narren. Ich kenne eure Vita.«

Der blonde Ordensritter versteifte sich. Wer in den Orden eintrat, wurde im Glanz der Sonne neu geboren. Seine Vergangenheit wurde durch das reinigende Feuer des vierzigtägigen Bußzeremoniells ausgebrannt. Der Ordensabt durfte gar nicht wissen, woher er kam. Dass er auf einem schäbigen Bauernhof in der Nähe Granitfurts in einer erbarmungswürdigen Hütte geboren wurde, sollte, nein, musste aus der Geschichte getilgt werden.

Erschüttert und beschämt senkte Dairos von Ordon seinen Blick. So hatte er seinen Einstand nicht erwartet.

Tanat lachte kehlig auf und deutete auf den reich gedeckten Tisch. »Esst doch etwas von der Entenkeule. Mein Koch hat sie in edelsten Kräutern und Säften über Tage eingelegt. Der Geschmack ist köstlich.«

Dairos rührte nichts an. Enthaltsamkeit war die Zier des Ordens, Völlerei Ausdruck der Dekadenz. Er verstand nicht, weshalb der Ordensabt sich so aufführte. Es befremdete ihn zutiefst.

»Schade.« Tanat griff an ihm vorbei, nahm sich aus einer der silbernen Schalen eine Entenkeule und nach einem kurzen süffisanten Blick, biss er herzhaft hinein. Dairos' Kiefer mahlten. Geduld war eine weitere Tugend des Ordens. Wenn ihn der Abt auf die Probe stellte, dann würde er feststellen, dass sein Wille und seine Gesinnung so rein wie das Licht der gelben Scheibe Raden-Surs waren.

Der Ordensabt nagte eine Zeitlang genussvoll am Knochen der Entenkeule, legte diese dann aber, noch während er sich zur Seite wand, auf seinem Teller ab. Betont langsam und geziert griff er nach einem kristallenen Kelch mit roséfarbener Flüssigkeit und nahm einen langen Schluck.

Jetzt erst bemerkte Dairos die samtenen Kissen, auf denen Tanat ruhte. Er entschloss sich, zu schweigen. Kargheit war der Bruder der Enthaltsamkeit.

Bequemlichkeit ein Vorbote des Untergangs. Aber Schweigsamkeit eine Frage der Vernunft.»Warum seid ihr nur alle so stocksteif, wenn ihr die zwölf Zeremonien hinter euch gebracht habt?« Der alte Mann schnaubte verächtlich, griff dann aber nach einer Depesche, die auf dem Tisch, am Rande seines Tellers, lag. Dairos ärgerte sich, hatte er sie doch bislang gar nicht bemerkt. Er sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren.

»Hier. Das kam gestern über einen Boten aus Granitfurt. Der Bürgermeister, ein ehemaliger Kriegsveteran, bittet uns um Beistand. Zunächst maß ich dem Brief keine Bedeutung bei, war ich doch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Aber, dank meines lieben Wissenswahrers, wurde ich auf gewisse Zusammenhänge hingewiesen.«

Der Ordensabt wartete ab, gespannt, ob seine Worte Neugierde weckten. Dairos rezitierte innerlich die vier Richtlinien des Gleichmuts und behielt nach außen die Fassung. Die Welt der Akademie war eine Andere, wie hier, auf der Ordensburg. Er musste sich in Geduld üben.»Nun, junger Freund, es handelt sich um den Schattenwald. Ihr kennt ihn wohl.«

Dairos nickte. Natürlich kannte jeder aus Granitfurt den dunklen Forst. Allerdings lebten nur wenige Bauern tatsächlich in unmittelbarer Nähe dieses unheimlichen Gehölzes. Einige, mittlerweile überwucherte Wege führten durch den Wald, galten aber als zu gefährlich, um sie zu nutzen. Zuweilen wurden noch die alten Kupferstraßen bereist, die sich innerhalb des Schattenwalds, aber zumeist an dessen Rand entlangschlängelten. Sie verbanden das Reich Dryadengrün mit Fels Karabatos und der seit Jahrhunderten verlassenen Kraterschmiede. Die Menschen, rund um die am Wald liegenden Städte, Ulmenstein, Granitfurt oder Doriansstadt hatten sich mit dem dunklen Forst arrangiert. Am Tage betraten ihn nur ausgesprochen Kundige, Pilzesammler, Kräuterfrauen, manchmal Holzfäller.

»Sind Menschen dort verschwunden, die wir suchen sollen? Wenn ja, glaubt mir, das ist sinnlos«, entfuhr es Dairos nun doch. Am Grinsen des Ordensabts erkannte er aber sogleich, dass es nicht darum ging, ein paar verlorengegangene Bauern oder Händler wiederzufinden. Auch wenn der Orden sich dem Schutz seiner Schafe verpflichtet fühlte, so waren es zumeist nur die bedeutenden Ereignisse, die ihn zum Handeln brachten. Verständlicherweise. Im Glanze des Ordens verblasste das Schicksal einzelner Untertanen.

»Eure beneidenswerte Jugend lässt euch forsch werden, junger Ritter. Glaubt mir, dass es weitaus bedrohlicher ist.«

Tanat deutete mit seinem Finger auf eine Schale voller Trauben, doch Dairos blieb standhaft, schüttelte den Kopf. Er hatte noch einen gut gefüllten Proviantbeutel mit Trockenfleisch am Sattel seines Pferds hängen.

»Nun, der Bürgermeister vermutet, dass sich der Wald ausbreitet. Eine Kräuterkundige, die am Waldrand lebt, im Gehölz Heilpflanzen sammelt, hat ihm dies erzählt und geraten die Menschen der Umgebung mit gebotener Entschlossenheit zu evakuieren.«

Dairos schüttelte entschieden den Kopf. »Dieser Kriegsveteran und dieses Kräuterweib irren sich. Seit Jahrhunderten hat sich der Wald keine Elle weit irgendwohin ausgebreitet. Land, welches man versucht hat, ihm mit Feuer abzutrotzen hat er sich jedes Mal zurückgeholt. Alles andere ...«

Der Ordensabt hob entschlossen die Hand und winkte den kleinen buckligen Mann herbei, der Dairos in den Saal geführt hat. Seltsam, dachte dieser, er hatte ihn gar nicht mehr wahrgenommen.

»Erzählt ihm, was ihr mir berichtet habt, Ignatus«, forderte er den missgestalteten Mann auf.Der Bucklige verneigte sich ehrerbietig vor dem Ordensabt und holte ein Buch unter seinem Umhang hervor. Kurz erhaschte Dairos einen Blick darauf. Es handelte sich ohne Zweifel um ein uraltes Werk mit schwerem, aber sehr edlem Einband. Misstrauen erwachte in ihm. Solche Folianten waren mit Vorsicht zu genießen. Sie verfälschten die Wahrheit. Nur die Taten und Lehren des Ordens waren rein genug, um erhalten zu bleiben.

»Wie ihr vielleicht ahnt, Ordensritter Dairos, bin ich ein Wissenswahrer. Der Depesche des Bürgermeisters lagen interessante Details bei. Er hat von weißen, scheinbar lebenden Wurzeln gesprochen und hat auch ein Stück davon beigelegt. Ich habe in unserer Bibliothek einen ganzen Tag zugebracht, bis ich fündig wurde ...«

»Etwas schneller zum Punkt, Wissenswahrer, der gute Ordensritter hier wird sonst ungehalten«, gab der Ordensabt schmatzend zu bedenken. Er hatte sich mittlerweile eines Fleischspießes habhaft gemacht.

Dairos musste die vier Richtlinien des Gleichmuts erneut still rezitieren. Ihm Ungeduld vorzuwerfen war ein Affront. Doch längst hatte er durchschaut, dass der Ordensabt dies absichtlich tat, um ihn zu reizen. Aber das half nicht. Er wiederholte zur Sicherheit nochmals die ersten zwei Richtlinien.

»Nun, wie wir jetzt dank dieses Buchs wissen, ist der Schattenwald eine direkte Folge des legendären Kriegs.«

»Ihr meint den Hexenkrieg der Yenraven?«, stieß Dairos verärgert hervor. »Das ist mir nicht neu, Wissenswahrer. Ich kenne Granitfurt und die Legenden, von denen ihr sprecht sind dort noch Geschichten, die man den Kindern in dunklen Nächten erzählt. Hierzu hätte es keines, noch so alten Buchs bedurft.«

Der Ordensabt hob gönnerhaft seine Hand. »Diese ungestüme Jugend. Was täte ich, nochmal so unbeschwert wie ihr das Leben zu kosten. Wusstet ihr, dass ich einst bei den ruhmreichen Sonnenturnieren mehrfach im Finale stand. Nun denn, wenn ihr so belesen seid, erzählt uns von der Legende des Schattenwalds, vom Hexenkrieg.«

Dairos straffte sich, ordnete seine Gedanken, stieß eine kurze Bitte an das Licht der Sonne aus, bat um Klarheit in seinen Worten. Er atmete durch und begann.

»Einst scharte Yenraven, die Bluthexe, viele andere Hexen um sich und führte einen blutigen Feldzug an, brachte den Tod über das Land. Sie verbrannte Felder, Orte und alles, was lebt. Ihre Grausamkeit kannte keine Grenzen.«

Er hielt kurz inne, um seinen nächsten Worten das gebührende Gewicht einzuräumen. »Das war eine große Sternstunde unseres Ordens. Im Glanze seiner Herrlichkeit stießen die Ahnen die heilende Säuberung an. Der vierte Großmeister, der edle Gorald von den tiefen Auen, vernichtete das Heer der Yenraven und die Bluthexe brannte auf dem Scheiterhaufen.«

Tanat senkte etwas den Kopf und deutete mit der Hand wedelnd, auf einen gewaltigen Gobelin im Hintergrund des Saals. Dairos warf einen langen Blick darauf. Es zeigte einen mächtigen Kämpen in glänzender Rüstung, der sich mit einem Schwert in der Hand schützend vor ein weinendes Kind geworfen hatte, Gorald von den tiefen Auen.

Mit entschlossenem Blick reckte der legendäre Heroe einer mit feurigem Dreizack attackierenden Hexe warnend die geballte Faust entgegen. Seine gesamte linke Gesichtshälfte bestand aus einem einzigen Narbengewebe und verlieh ihm eine tragische Ausstrahlung. Der Legende nach war er in ein brennendes Haus gestürmt und hatte eine Schar Kinder dem Flammentod entrissen, dabei aber schwerste Verbrennungen erlitten.

»Ja, ja, der alte, sagenumwobene Recke von den tiefen Auen«, sinnierte Tanat und grinste unpassenderweise.

Dairos verstand nicht, warum der Abt so herablassend über eine der wichtigsten Gestalten aus der Ordenshistorie sprach. Ohne Heroen, wie Gorald, wäre die Welt längst der Düsternis anheimgefallen. Sie schuldeten ihm Respekt, mehr noch ... Ehrfurcht.

Vor seinem inneren Auge sah er Gorald von den tiefen Auen, wie er sich in stahlblauer Rüstung unerschrocken den Hexen entgegengestemmt haben musste. Furchtlos und jederzeit bereit für die Werte des Ordens zu sterben. Diesem Ideal wollte Dairos folgen.

Die nächsten Worte Tanats holten den blonden Ritter zurück in die Gegenwart. »Wisst ihr, wie der Schattenwald entstanden ist?«

Der blonde Ordensritter fühlte sich in seinem Element. Er holte tief Luft und begann auszuführen. »Den Aufzeichnungen nach gab es einen Pakt der Hexen. Viele hundert Seelen, darunter Frauen und Kinder, wurden am Hexenstein, einem unheiligen Ort zusammengetrieben und dort geopfert. Gorald kam zu spät, um es zu verhindern. In der nachfolgenden Schlacht benetzte das Blut der Hexen und der Ordensleute den Boden. Um den Opferstein herum verdorrte der Wald und es entstand der heutige Schattenwald.«

Erschauernd stellte sich Dairos das damalige Gemetzel vor, wie eine geifernde Schar blutrünstiger Hexen die Gefangenen am Altar ihrer Grausamkeit ausbluten ließ. Der Sage nach gewann Yenraven dadurch enorme Kräfte. Bewundernswert, mit welcher Todesverachtung Gorald von den tiefen Auen sich diesen bösartigen Mächten entgegenstellte. Er wünschte sich dieselbe Stärke.

Tanat schnippte mit dem Finger. »Wohlan, junger Dairos, ihr habt auf der Akademie gut zugehört ...« Ein feines Grinsen glitt über sein Gesicht »Es hat sich aber anders zugetragen ...«Anders zugetragen? Dairos wurde blass. Das konnte nicht sein, denn diese Geschichten waren Teil der Glorie des Ordens. Wie konnte etwas falsch sein, wenn es im Glanze Raden-Surs aufgeschrieben worden war?

»Hört einfach zu.« Tanat gab dem buckligen Wissenswahrer ein Zeichen, damit dieser fortfuhr. Das ließ sich Ignatus nicht zweimal sagen. Er öffnete das Buch und entnahm einige lose Blätter, besah sich eines nach dem anderen.

»Nun denn.« Mit einer geübten Bewegung setzte er sich einen Kneifer auf und las vor.

Krotan, Ordensritter , im Jahre 2681 n.d.F. Gorald, aufgebrochen um Yenraven und ihre Hexenbrut zu stellen, ist noch nicht ins Lager zurückgekehrt. Die Stimmung ist schlecht. Ich folge ihm mit zwei Ordensrittern. Die Pfade verengen sich, je näher wir dem Hexenstein kommen. Dornenbüsche hindern uns am Vorrücken. Wie konnte Gorald mit seinem Heer nur passieren? Wir lassen die Pferde zurück. Es ist mühsam. Eine Ranke hat einem Ritter den Unterarm aufgerissen. Er starb wenige Minuten später qualvoll. Als wir ihn begruben, fanden wir tief im Boden seltsam weiße, widernatürliche Wurzeln. Sie verdorren, wenn sie das Tageslicht erblicken. Heute Morgen stießen wir auf mumifizierte Leichen. Mein verbliebener Begleiter ist in Panik desertiert. Ich kann es ihm nicht verübeln. Hier wütete noch kürzlich ein furchtbares Gemetzel. Die Stille ist bedrückend. Es ist wie ausgestorben. Irgendetwas geschieht mit dem Wald. Ich glaube, ich bin nahe dem Hexenstein, doch das Dickicht, durch das ich mich schlage, wird dichter und dorniger. Schneisen wachsen zu. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Auf meinem Rückweg begleitet mich ein unheimliches Lachen. Es ängstigt mich zutiefst.Möge Raden-Sur mich geleiten.

Der Ordensabt gebot dem Wissenswahrer mit einer knappen Geste Einhalt. Er beugte sich über den Tisch und schnappte sich einige Trauben.

»Aus dem Bericht Krotans, der halb tot am Waldrand gefunden wurde, ließ sich Bemerkenswertes schließen. Wir wissen, dass Gorald, der vierte Großmeister, Yenraven und ihre Brut im Wald stellte. Bei der Schlacht gab es wohl keine Überlebenden. Weder Hexen, noch die verschleppten Menschen, noch Ordensmänner.«

»Und die Saat des Walds entstand bei diesem Gefecht«, ergänzte Dairos und schob in Gedanken nach, dass entgegen den Aufzeichnungen, Gorald nicht zurückgekehrt war. Der legendäre Heroe war also am Hexenstein gefallen. Warum hatte der Orden nur gelogen? Er fühlte sich befleckt. In Lug und Trug steckte kein Glanz.

Mit einem kurzen, herrischen Wink wies Tanat den Buckligen an, fortzufahren. Dieser suchte aus seiner Blattsammlung ein einzelnes Papier heraus, prüfte es und las vor.

Bericht der Kongregation der Ordensapostel 2681 n.d.F. In den Dörfern ist wieder Ruhe eingekehrt. Der Krieg ist beendet. Um ein erneutes Aufflammen zu vermeiden, empfehlen wir Geschichtenerzähler dahingehend zu instruieren, dass Gorald überlebt und heroisch die Hexen im Wald bezwungen hat. Darüber hinaus hat er Yenraven gefangen genommen und in die Reichsstadt überführt. Dort wurde sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ungeklärt bleibt, welchem Zweck der Blutritus gedient hätte und wie eine Hexe zu einer Bluthexe wird. Das Hexenmyzel hat sich im gesamten Schattenwald ausgebreitet und bildet für allerlei finstere Kreaturen eine neue Heimstatt. Der Hexenstein ist nicht mehr zu erreichen, da Wald und Straßen unpassierbar sind. Drei ausgesandte Kohorten sind nicht mehr zurückgekehrt.

Tanat reckte sich und setzte seinen Weinkelch ab. »Ich fasse zusammen, Dairos von Ordon. Die Hexen starben zwar allesamt, bildeten mit dem Blut der Ordensleute und ihrer Opfer aber eine unheilige Saat. Die Magie sickerte in den Boden ein und unterhalb des Forsts entstand ein weißes Wurzelwerk. Unsere Ordensapostel benannten es Hexenmyzel. Die Bäume und die Kreaturen des Walds können sich nur an den Stellen aufhalten, an denen sich im Untergrund eben diese weißliche Verflechtung vorfindet. Das ist der Grund, weshalb der Forst über Jahrhunderte hinaus nicht wuchs. Seine Ausdehnung ist durch das Blut der Toten vorgegeben.«

Dairos' Blick wandte sich Tanat zu. »Aber jetzt ist dies anders und ihr fürchtet eine Fortsetzung der damaligen Ereignisse? Euch treibt die Sorge, dass am Hexenstein geopfert wird?« Es war weniger eine Frage denn eine Feststellung.

Zum ersten Mal stahl sich ein zustimmendes Funkeln in die Augen des alten Ordensabts. »In der Tat, Dairos. In der Tat.« Er hielt kurz inne. Sein Blick wanderte in weite Ferne und der junge Absolvent der Akademie spürte, dass der alte Mann trauerte.

»Wir haben uns zu lange im Glanze des Ordens ausgeruht, haben dem Wald zu wenig Beachtung geschenkt. Im Grunde ein unverzeihlicher Fehler. Seit einiger Zeit mehren sich Berichte über seltsame Vorgänge am Rand des Schattenwalds. Ja, ungewohnt viele Erzählungen von verschwundenen Menschen machten die Runde. Wir maßen diesen Gerüchten keine Bedeutung bei, aber es kam zu weitaus besorgniserregenderen Ereignissen.«

Er brauchte nicht weiterzusprechen. Dem alten Ordensabt war anzusehen, wie beunruhigt er war. Wuchs der dunkle Forst tatsächlich, weil am Hexenstein blutige Rituale stattfanden? Fürchtete er die Rückkehr der Hexen?

»Ich dachte, es gäbe kaum noch Hexen, zumindest keine, um die man sich Sorgen machen müsste.«

»Ihr irrt. Es gibt erstaunlich viele von ihnen, wenngleich sie im Verborgenen vegetieren. Die letzten achthundert Jahre haben uns gelehrt, dass wir sie nicht ausrotten können. Es werden immer wieder Mädchen, seltener Knaben mit dieser Macht geboren. Solange sie sich ihres Wesens nicht bewusst sind, ist das in Ordnung. Erwachen aber ihre Kräfte, so keimen gleichsam Blutdurst und Grausamkeit. Dann müssen sie gestoppt werden. Bedrohlich wird es, wenn eine wirklich mächtige Hexe zurückkehrt, eine Bluthexe.«

»Ihr glaubt also hinter dem Tod, dem Verschwinden dieser Menschen, sowie der Ausdehnung des Walds steckt eine Bluthexe?«

Tanat richtete sich von seinem Stuhl auf, wobei er den Tisch umrundete und sich immer wieder herumliegende Trauben in den Mund schob.

»Ich glaube, junger Ordensritter, die Hexen sind auf dem Weg wiederzuerstarken. Die Ausbreitung des Walds ist ein dunkles Omen. Euer Auftrag ist es, in Granitfurt nach einer von ihnen zu suchen. Ihr kennt die Leute dort, sie werden mit euch sprechen. Fangt bei der Kräuterkundigen an. Es mutet seltsam an, dass diese Frau den Wald regelmäßig betritt, ohne Schaden zu nehmen.«

»Ihr glaubt, sie könnte eine Hexe sein? Das scheint mir weit hergeholt. Sie war es doch, die uns über den Bürgermeister eine Warnung zukommen ließ. Wäre sie eine jener Kreaturen, hätte sie dies sicherlich nicht getan.«

Missmutig verfolgte der Ordensritter, wie Tanat seine Runde um den Tisch beendete und es sich wieder auf seinem Stuhl gemütlich machte. Der alte Mann straffte sich.

»Ihr seid naiv, junger Dairos. Die Ereignisse rund um den Wald lassen sich nicht länger verheimlichen. Da ist es doch klug, die Entdeckung für sich zu beanspruchen. Allein, um jeden Verdacht auszuräumen. Unterschätzt nie die Heimtücke und Schläue der Hexen. Hinzu kommt, dass diese Kräuterkundige die Beeren kannte, welche in anderen Teilen am Schattenwald schon Menschenleben forderten. Das ist außergewöhnlich, da nicht einmal unsere Gelehrten bislang in der Lage waren, die giftigen Früchte zu identifizieren.«

»Sollte ich nicht mit einem Trupp ins Zentrum des Walds vorstoßen, den Hexenstein ausfindig machen und ihn zerstören? Ich werde nicht scheitern. Anstatt dessen soll ich in Granitfurt nach einer Hexe suchen, die möglicherweise die Ausbreitung des Walds vorbereitet, indem sie Menschen verschwinden lässt und opfert.«

Der Ordensabt winkte ab. »In der Tat, in der Tat. Das Übel an der Wurzel packen und ausreißen, mag ein vielversprechender Plan, geschuldet eurer beneidenswerten Jugend sein.« Er stockte kurz. Ein abfälliges Lächeln glitt über seine Züge. »Doch kümmert euch zunächst um die Kräuterkundige.«

Dairos knirschte unzufrieden mit den Zähnen. Er war ein Mann des Schwerts, auserwählt um den Glanz des Ordens zu mehren, nicht um ein armseliges Kräuterweib zu verhören. In den Jahren an der Akademie hatte er jedoch gelernt, seine eigenen Wünsche denen der Obrigkeit unterzuordnen. So ein Zwischenfall wie jener, der ihn fast die Ritterschaft gekostet hätte, würde sich nie wieder ereignen. Er schlug sich zum Zeichen der Ehrerbietung mit der Faust auf die stahlblaue Rüstung. Der dumpfe Klang ermahnte ihn daran, die Worte seines Abts nicht in Abrede zu stellen.

Ein zufriedener Blick Tanats streifte ihn.

»Seid gewiss, Dairos von Ordon, dass wir an weiteren Orten bereits aktiv sind. Nicht nur aus Granitfurt erreichten uns derartige Nachrichten, es kam auch außerordentlich üble Kunde aus anderen Städten am Schattenwald. Nach Ulmenstein habe ich schon Vertraute geschickt, Fels Karabatos werde ich selbst aufsuchen. In eurer Geburtsstadt brauche ich euch. Ihr kennt die Leute dort.«

Es gab noch andere, schrecklichere Brandherde? Dairos seufzte. »Wie lautet mein Auftrag?«

Der Ordensabt ließ sich Zeit. Es schien so, als ginge er nochmal alles im Geiste durch. Schließlich kam er zu einem Ergebnis. »Ihr reist als offizieller Vertreter des Ordens nach Granitfurt. Dort nehmt ihr die Untersuchungen auf, weshalb der Wald sich ausdehnt. Verweist darauf, dass dies mit Hexen zu tun hat. Greift euch diese Kräuterkundige und befragt sie. Ich kann nicht sagen, warum, aber irgendetwas nagt an mir. Ich kann es nicht fassen, der Gedanke entgleitet mir, je intensiver ich darüber nachdenke. Diese Frau weiß mehr. Vielleicht ist sie eine Hexe. Vielleicht aber auch nicht. Wenn ja, bringt ans Licht der Sonne, was zum Teufel da im Wald vor sich geht. Dairos, wir steuern auf einen erneuten Hexenkrieg zu. Jegliche Information ist wichtig.«

»Und sollte ich nicht fündig werden?«

Tanat zum Weidentors Blick glitt suchend über den Tisch. Er fand die gläserne Karaffe mit dem Rotwein und füllte seinen Kelch nach. Gedankenverloren nippte er daran.

»Es ist unabänderlich. Der Orden versagt niemals, Dairos. Wenn ihr keine Hexe aufspürt und zur Strecke bringt, würde dies den Glauben der Leute an uns, ihre Beschützer, untergraben. Ihr werdet also Erfolg haben.«

Verwirrt runzelte der blonde Ritter seine Stirn. Verlangte der Ordensabt etwa, er solle ... Tanat unterbrach seinen Gedankengang unwirsch.

»Wir dienen alle einer höheren Sache, Dairos. Gewisse Opfer im Glanze des Ordens sind daher unumgänglich. Foltert diese Kräuterkundige so lange, bis sie zugibt eine Hexe zu sein, verbrennt sie und kehrt dann zurück in die Ordensburg. Mein Wissenswahrer wird euch begleiten. Seine Einblicke in die Geschichte und speziell seine profunden Kenntnisse über Hexen werden hilfreich sein.«

Der Ordensabt brach ab, hing eine Zeitlang seinen letzten Worten nach und fuhr dann fort. »Er wird mir Bericht erstatten, nicht ihr. Seine Dienste bei diesen Untersuchungen sind außerordentlich nützlich. Lasst ihn gewähren. Er weiß, wie und welche Fragen gestellt werden müssen ... und nun geht.«

Tanat zum Weidentor schien ihn schon vergessen zu haben, wedelte nur herablassend mit seiner Hand und griff zum Weinkelch. Dairos von Ordon verbeugte sich kurz.

»Ich bin das Licht ...«, begann er die rituelle Zeremonie des Abschieds»und das Feuer und die Säuberung ...« vollendete der Ordensabt mürrisch.

In sich gekehrt verließ der junge Ordensritter den Saal. Der bucklige Wissenswahrer folgte ihm auf dem Fuße. Natürlich ein Aufpasser, wie Dairos sich nicht hatte blenden lassen.

Auch wenn diese Mission wenig Ruhm versprach, so war er fest entschlossen seinen Wert für den Orden zu beweisen. Der Teppich mit seinen Heldentaten würde schon noch geknüpft werden.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt