Cyriana schrak schweißgebadet auf. Laute Rufe, Geschrei drang von außen durch das milchige Fenster des kleinen Raums. Einen Augenblick lang war sie orientierungslos, glaubte sich noch im Traum gefangen. Doch dann sprang sie auf und folgte Tywen zum Fenster. Sie konnten nichts sehen, weil sich die Strahlen der Morgensonne darin brachen. Entschlossen zerschlug der Ritter die Scheibe mit seinem Ellenbogen. Zusammen lugten sie durch die kleine Öffnung.
Auf dem Platz vor dem Archiv stand Dairos und dirigierte seine Ordensgardisten. Arkebusiere bildeten eine lange Reihe, pflanzten ihre Stützgabeln für die schweren Musketen in den Staub der Straße.
Am Rand des Gesichtsfelds sah sie den Bürgermeister und einige Bewohner Granitfurts, wie sie sich um eine leblose Gestalt am Boden scharten.
Sie versuchte zu erkennen, wie schlimm es um den Mann stand, doch die vielen herumeilenden Menschen versperrten ihr die Sicht.
Dairos gab lautstarke Anweisungen. Einer seiner Soldaten sprang auf ein Pferd und galoppierte in halsbrecherischem Tempo in die Innenstadt. Cyriana vermutete, dass es sich um einen Kurier handelte, der die restlichen Ordensgardisten vom Stadtrand alarmieren sollte.
Aus dem Archiv kam Ignatus auf die Straße gerannt. Dairos gab zwei Gardisten einen knappen Befehl und sie eskortierten den buckligen Wissenswahrer aus der Gefahrenzone.
Der junge Ordensritter schritt die Linie seiner Arkebusiere ab. Es waren zwölf Männer. Dahinter versammelten sich ebensoviele Ordensgardisten mit gezücktem Schwert und grimmiger Miene. Einige Dorfbewohner kamen mit Armbrüsten, Bögen und Steinschlosspistolen angerannt. Dairos lenkte sie weg von der Straße auf die Seite, auf der sich der Bürgermeister immer noch um die reglose Gestalt kümmerte.
Markerschütternde Schreie drangen heran. Es waren die Laute vieler Kreaturen, nicht nur einer einzelnen. Cyriana wurde blass.
»Sind das die Reptilien von eurem Hof?«
Cyriana nickte kurz. »Basilisken. Wir müssen hier raus.«
Tywen hielt die kräuterkundige Druidin fest, als die sich vom Fenster abwandte. »Zu diesen Kreaturen wollte ich euch ohnehin schon befragen. Ich dachte nichts könnte den Wald verlassen?«
Sie riss sich los. Die Berührung war ihr unangenehm. »Es sind keine Kreaturen des Walds. Es handelt sich um beschworene Wesen.«
Ein erster Schuss, begleitet von einem wilden Fluch Dairos', erscholl. Einer der Arkebusiere hatte nicht abgewartet, bis der Befehl zum Feuern erklang. Nun würde er Zeit für das Nachladen brauchen.
Tywen warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Die Reihe der Arkebusiere wankte. Er konnte nicht sehen, was die Ordensgardisten sahen, aber in ihren Gesichtern stand blanke Panik geschrieben.
Der Arkebusier, der gefeuert hatte, ließ seine Muskete fallen, drehte sich ab und wollte die Straße hinablaufen.
Dairos holte ihn ein und streckte ihn mit einem einzigen Faustschlag nieder.»Keiner verlässt seine Position«, ertönte ein klarer Befehl. Sogar die Bewohner Granitfurts blieben starr stehen.
»Tywen, bei allen Göttern, helft mir!«, schrie Cyriana mit überschlagender Stimme. Sie rüttelte an der verschlossenen Tür.
»Wohin wollt ihr denn? Ihr könnt dort draußen den Ordensgardisten ohnehin nicht helfen.«Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Der Angriff war sinnlos. Es sei denn, er galt der Ablenkung ... die Sonnenscheibe.
»Ich muss mich um die Verletzten kümmern. Bitte, Tywen«, flehte sie.
Entschlossen warf sich der Halbprinz herum und nahm Anlauf. Im letzten Moment machte die überrumpelte Cyriana Platz und sein ganzer, muskelbepackter Körper krachte gegen die Eichentür.
Staub rieselte und die Tür ächzte wie ein waidwundes Tier. Einen Augenblick lang schien sie standzuhalten, doch dann kippte sie mitsamt dem Rahmen, wie in Zeitlupe, in den dahinterliegenden Raum.
Mühsam rappelte sich der Ritter aus Dryadengrün auf. Seine ihm abgenommenen Waffen hatte Dairos hier zurückgelassen. Der Halbprinz torkelte noch etwas benommen zum Tisch, nahm Schwert und Armbrust eilig an sich und verstaute sie in Gürtel und Rückenscheide. Zuletzt griff er sich einige seiner Bolzen.
Cyriana berührte kurz seine linke Hand und zwang ihn, in ihre Augen zu blicken.»Geht zu eurem Bruder. Ihr müsst mit ihm sofort Granitfurt verlassen. Die Basilisken sind nicht ohne Grund hier. Sie wurden vielleicht sogar euretwegen geschickt. Kendar wird euch nicht folgen wollen, doch sagt ihm, die Scheibe wäre in Gefahr und ich hätte euch geschickt.«
Tywen war verwirrt. »Ich dachte, er sei in Schlaf versetzt? Und warum sollte er auf euch hören?« Er starrte sie an. Ein feindseliges, misstrauisches Glitzern schlug der Druidin entgegen.
»Tut was ich sage.«»Er wird mich angreifen, wenn ich ihn losbinde.«»Nein, das wird er nicht. Er hat alles vorgespielt, um den Orden zu täuschen. Sie wollten ihm alle Waffen und Gegenstände abnehmen. Dann wäre die Scheibe in die Hände Ignatus' gefallen. Daher simulierte er den Wahnsinnigen, denn verliert er die Verbindung zum Artefakt, stirbt er.«
Der Armbrustschütze aus Dryadengrün knirschte mit den Zähnen und wollte sich schon von ihr abwenden, als sein Blick auf ihre Handgelenke fiel. Die langärmelige Bluse war nach oben gerutscht und entblößte zwei silberne Armbänder mit seltsamen Runen.
»Das sind Bindungsbänder der Artefaktmeister«, entfuhr es ihm. Irritiert schüttelte er seinen Kopf. »Ich habe schon welche in Dryadengrün gesehen. Die Armbänder sind ein Utensil aus den Kerkern. Sie ...«
»Brecht auf, Tywen. Es eilt!« Sie zögerte kurz. Wie sollte sie ihn wiederfinden? Sie hatte keine Wahl, durfte die Scheibe nicht verlieren. »Geht zur Kraterschmiede. Vielleicht findet ihr dort Hilfe.«
»Begleitet mich.«
Von der Straße erklang ein lautes, stakkatoartiges Krachen. Die Arkebusiere hatten ihre erste Salve abgefeuert und der aufsteigende Lärm erstickte jedes weitere Wort.Sie schüttelte den Kopf. Solange der Feind die Scheibe in Granitfurt vermutete waren die Menschen in Gefahr.
»Eilt jetzt zu Kendar und betet zu den Göttern, dass es nicht zu spät ist.«
Lautes Geschrei erscholl. Eine zweite Salve wurde abgefeuert. Schwerter klirrten.
Der Ritter wandte sich wortlos ab, rannte zur Treppe des Archivs und die Stufen hinab ins Erdgeschoss. Er verließ das Gebäude durch eine rückwärtige Tür, die er sich eingeprägt hatte, als er von den Männern Ignatus' am gestrigen Tag hier abgeliefert worden war.
Cyriana öffnete die Eingangstür der Bibliothek und warf verstohlen einen Blick hinaus. Die Ordensgardisten wurden von mehreren Basilisken attackiert. Dicht neben ihr krachte der Körper eines Gardisten auf die hölzerne Veranda des Archivs. Der blutüberströmte Mann blieb reglos liegen. Gebrochene Augen musterten Cyriana vorwurfsvoll. Sie sah Dairos, wie er sich geschickt eines Basilisken erwehrte. Der junge, blonde Ordensritter tauchte unter einem zuschlagenden Schwanz ab und hieb mit einem mächtigen, gelblich schimmernden Langschwert eine blutige Furche in den Unterleib der Kreatur. Die geweihten Schwerter aus der Kraterschmiede wirkten.
Zwei Gardisten erwehrten sich andernorts eines weiteren Basilisken, schützten dahinterstehende Arkebusiere, die hektisch ihre Musketen nachluden.
Auf der anderen Seite versuchte sich Torcaan in Sicherheit zu bringen. Er hatte sich den bewusstlosen Verletzten über die Schulter geworfen und rannte in ein flaches Steinhaus. Eines der Untiere sah dies, hastete ihm nach und krachte durch die Steinwand des Hauses ins Innere.
Ein weiterer, gigantischer Basilisk kam die Straße heraufgestürzt, stieg achtlos über die Körper zweier regungslos im Staub liegender Kreaturen hinweg und stieß ein markerschütterndes Sirren aus.
Einige Gardisten blieben verdutzt stehen und waren kurzzeitig nicht in der Lage sich zu rühren. Eines der schlangenartigen Reptilien warf sich auf zwei Ordensgardisten und begrub sie unter seinem massigen Körper. Für diese beiden kam jede Hilfe zu spät.
Cyriana lief los. Dicht neben ihr peitschte der Schwanz eines Basilisken durch die Luft, verfehlte die junge Druidin jedoch deutlich. Einen Gardisten, der durch den Schrei des Basilisken noch immer jeglicher Bewegung unfähig war, riss sie zur Seite. Die Kiefer des zuschnappenden Basilisken gingen ins Leere.
Sie ohrfeigte den Gardisten, bis sich dessen Blick klärte und er sich mühsam aus dem Bann befreien konnte. Gerade rechtzeitig, denn der Schädel des Untiers ruckte erneut nach vorne. Dairos schlug der Kreatur mit einem mächtigen Hieb das Haupt vom Rumpf ab. Cyriana verweilte nicht, rannte weiter und erreichte das Haus, in das der Bürgermeister geflüchtet war. Mit einem Satz warf sie sich ins Innere.
Zwei rotleuchtende Augen fixierten sie. Im Hintergrund machte sich Torcaan an einer Tür zu schaffen, durch die er in einen Hinterhof flüchten wollte. Den Bewusstlosen hatte er abgelegt. Die Druidin zischte eine Beschwörung. Nebel wallte auf, nicht dicht genug, um sie vor den Blicken des Reptils zu verstecken, aber ausreichend, um den Basilisken abzulenken.
Sie tauchte unter ihm durch und erreichte Torcaan im gleichen Moment, als es diesem gelang die verschlossene Tür zu entriegeln. Er packte den linken Arm des Bewusstlosen, Cyriana den Rechten. Gemeinsam glitten sie durch die Tür. Kaum im Freien trat der frühere Söldner mit seinem Stiefel die Tür zu.
Würde der Basilisk folgen?
Auf der Straße, die nun durch das Haus verdeckt war, erklang Hufgetrappel. Dairos' Verstärkung war angekommen. Sie glaubte auch, den Ordensritter einige Kommandos geben zu hören. Die Wand hinter ihr brach ein und der Kopf des Reptils schälte sich aus dem Hausinneren heraus.Ehe sich die Kreatur orientierte, erreichten sie und Torcaan eine schmale Gasse, in die sie eintauchten. Der Basilisk stieß ein wütendes Kreischen aus, als er seine Beute entschwinden sah. Das Reptil war viel zu breit, um ihnen nachzufolgen.
Der frühere Söldner taumelte und Cyriana krachte unversehens unter der Last des Bewusstlosen zusammen. Er half ihr auf.
»Ihr?« Erst jetzt erkannte Torcaan, wer ihm geholfen hatte.»Ja, was ist geschehen?«
Sie drehten den Verletzten auf den Rücken. Es stand nicht gut um ihn. Krallen hatten seinen Wams zerfetzt, und aus einer klaffenden Wunde am Bauch quoll dick das Blut. Cyriana riss aus ihrem Rock einige längere Stofffetzen und versuchte, die Blutung zu stoppen.
»Dieses weiße Wurzelwerk, von dem ihr gesprochen habt, Cyriana, hat sich in Richtung Granitfurt ausgedehnt. Ich habe es heute Morgen mit eigenen Augen gesehen.«
Die Stirn des Mannes war glühend heiß. Cyriana hatte ihre Kräutertasche nicht dabei, konnte ihn nicht verarzten. Und so sehr der Verletzte auch Hilfe brauchte, es stand viel zu viel auf dem Spiel. Ihr fehlte einfach die Zeit für Heilzauberei.
»Das Wurzelwerk hat die Ernten der Bauern vergiftet. Ich gab die Anweisung, einen Graben quer zum Schattenwald auszuheben, um das Hexenmyzel abzutöten. Ich hatte gehofft, dass die weiter vorgedrungenen Wurzelstränge dadurch absterben würden.«
Cyriana verstand. »Eine gute Idee, aber ...«
Torcaan ließ sie nicht ausreden. Atemlos fuhr er fort. »Als der Graben errichtet wurde sind die Basilisken aus dem Wald hervorgekommen und haben die Arbeiter angegriffen.«
Eindringlich sah sie dem Bürgermeister in die Augen, nahm seine Hand und legte sie auf die klaffende Wunde. Der kampferprobte Söldner drückte sogleich darauf, um den Blutfluss zu unterbinden. Es fiel ihr schwer, den Verletzten zurückzulassen, aber sie musste die Scheibe schützen.
»Torcaan, glaubt mir, ich würde gerne verweilen, ich kann es aber nicht. Alle müssen Granitfurt heute noch verlassen. Der Wald wird kommen, um hier etwas zu suchen. Er wird vor nichts und niemandem haltmachen.«
»Aber was sucht ...«
Sie ließ den verdutzten Bürgermeister zurück und lief den engen Weg weiter hinab. Leider kannte sie sich in dem Labyrinth der Gassen nur leidlich gut aus. Sie musste zur Graumühle, der Herberge, in der Kendar lag.
Zurück zur Hauptstraße zog es sie nicht, denn dort tobte weiterhin ein wildes Gefecht. Die Gassen hier waren weitgehend leer. Die Menschen versteckten sich in ihren Häusern, warteten ab.
An einer Kreuzung verhielt sie unschlüssig. Sie wusste nicht, in welcher Richtung die Herberge lag, entschied sich dann aber, linker Hand weiterzulaufen.
»Falscher Weg«, zischte es aus dem Halbdunkel. Eine katzengroße, schlangenähnliche Kreatur schälte sich aus dem Schatten der Gasse.
»Zurolon!«, empfing sie die Drachenschlange erfreut. Er sprang auf ihre Schulter und rieb seinen Kopf an ihrer Wange.
»Du willst vermutlich zur Graumühle. Dort habe ich deinen Kräuterbeutel erschnüffelt.«
Sie nickte kurz und schickte sich an, den Weg zu nehmen, den ihr Zurolon wies.
»Wir müssen schnell sein. Hier sind überall Basilisken und in der Herberge liegt ein Prinz aus Dryadengrün der die Sonnenscheibe Raden-Surs bei sich trägt.«
Überrascht stellte sie fest, dass ihr kleiner Freund keineswegs über diese Neuigkeiten erstaunt war. Das reptilienartige Wesen zischte einen wüsten Fluch. »Ich habe noch etwas Besseres, Cyriana. Ich traf auf Yenraven.«
Ihr blieb jegliches Wort im Hals stecken. Ein Kloß bildete sich und als die Beine nachgaben, wankte sie gegen eine Mauer. »Zurolon. Das ist unmöglich und das weißt du.«
»Sie war auf Garstons Hof mit einem mysteriösen, schwarzen Ritter. Er hat sie Yenraven genannt.«
Eine eisige Faust umpackte Cyrianas Herz. »Auf Garstons Hof? Was ist mit Ogbert und Ogwina?«Zurolon schmiegte sich an ihre Beine. »Ihre Mutter hat den Angriff auf das Gehöft überlebt. Sie war zur Zeit des Überfalls auf einem anderen Hof. Die Zwillinge sind in Sicherheit.«
Sie fasste sich ein Herz. »Erzähle mir alles.« Sie eilten weiter, während Zurolon ihr die Ereignisse schilderte.
Der Lärm in der Ferne verebbte. Die Arkebusen schwiegen. Sie kreuzten die Hauptstraße, konnten aber nichts von den Basilisken oder den Ordensgardisten sehen, da die Straße einen Bogen machte. Als sie die Graumühle erreichten, haderte sie mit ihrer Entscheidung, nicht sofort mit Tywen aufgebrochen zu sein. Aber als sie Torcaan und den schwerverletzten Mann gesehen hatte, ergriff sie die Gelegenheit zu helfen, und dem Bürgermeister nochmal dringend nahezulegen zu fliehen.
Die Reitpferde der beiden Prinzen fehlten.
Cyriana und Zurolon betraten die Herberge. Der Schankraum war verlassen. Gäste hatten längst das Weite gesucht und selbst der Platz hinter dem Tresen war leer. Vor Kendars Tür lagen zwei von Dairos zurückgelassene Wachen bewusstlos am Boden. Tywen musste sie ausgeschaltet haben.
Die Kammer mit dem Prinzen war verwaist. Cyriana wollte sich schon abwenden, um den Raum zu verlassen, als Zurolon ihr eine Warnung zuwarf. Sie machte sofort einen Schritt zur Seite, doch der Angriff galt nicht ihr.
Die Tür knallte zu. Aus dem Halbschatten löste sich eine vermummte Gestalt. Sie war groß, schlaksig. Das Gesicht, durch eine beige Kapuze teilweise verhüllt, blieb im Dunkeln. Ein weiter Kapuzenmantel umschloss die Kreatur.
»Wo ist die Sonnenscheibe?«, erklang eine emotionslose Stimme, in der nichts Lebendiges mitschwang.
»Vorsicht Cyriana, ein Nachtschrecken«, zischelte ihr reptiloider Begleiter.
Die Druidin nahm das unheilige Wesen in Augenschein. Die Kreatur trug keinerlei Waffen, verließ sich auf ihre finsteren Kräfte. Sie war ein Geschöpf des Walds und hätte hier gar nicht auftauchen dürfen. Hatte sich das Myzel bereits bis unter Granitfurt vorgegraben? Aber Torcaan hatte den Graben errichtet und die Ausbreitung gestoppt. Ein eisiger Schreck durchzuckte sie. War die aufgetauchte Yenraven so mächtig, ihn mit einem Schutzzauber hierher zu schicken?
Gelang es ihr, die Aufmerksamkeit weg von Granitfurt zu richten? Sie durfte die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Tief in ihr erwachte eine böse Stimme, die ihr riet, zu sagen, sie hätte die Scheibe in der Stadt vergraben. Damit gewann sie Zeit ... und brachte den Menschen den Tod. Sie zögerte.
»Kehre zu deiner Herrin zurück, Nachtschrecken. Das Artefakt war in Granitfurt, ist jedoch nicht mehr hier. Ihr werdet es nie aufspüren.«
Der Nachtschrecken schien unschlüssig. Er schwebte auf Cyriana zu und hob eine Hand. Unter der Kutte hob sich ein langer, dünner Arm. Knöcherne Krallen streckten sich nach ihr.
Überrascht wich sie zurück und griff automatisch nach ihren Halskettchen. Sie kannte diese Kreaturen nur zu gut. Sie saugten den Menschen ihre Lebenskraft aus, hinterließen leblose Hüllen. In den tiefsten Regionen des Schattenwalds, vor allem entlang der alten Kaiserstraße lauerten sie auf ihre Opfer.
»Sprich und ich lasse dich leben.« Mit der zweiten Hand packte der Nachtschrecken einen Stuhl und schleuderte ihn nach ihr.
Sie zuckte zusammen, als dieser krachend in ihrem Rücken zerbarst. Die Kreatur hatte sie absichtlich verfehlt, wollte sie einschüchtern.
»Raden-Surs Sonnenscheibe ist nicht mehr hier. Sucht andernorts«, beharrte sie.Der Nachtschrecken blieb stehen. »Warum sollte ich euch glauben?«
»Weil ich die Bedeutung des Artefakts kenne und es nicht zulasse, dass eure Herrin sie jemals in ihre Hände bekommt.«»Was wisst ihr schon über meine Herrin?«»Ich meine nicht Yenraven.«Die Kreatur zuckte zurück. »Ihr seid die Druidin.«
Cyriana setzte nach. »Geht! Ihr könnt mir nicht die Lebenskraft nehmen.«
Das Wesen war unschlüssig. Es hatte seinen Auftrag und wollte nicht mit leeren Händen zurückkehren. Aber als einzelner Nachtschrecken stand es auf verlorenem Posten.
»Ihr habt meine Herrin hintergangen. Sie wird mich belohnen, wenn ich euch töte.«»Das wird ihr nicht möglich sein, denn ich werde euch von eurer widernatürlichen Existenz erlösen ... oder ihr geht und überbringt die Nachricht, dass die Scheibe nicht mehr in Granitfurt weilt.«
Dem Nachtschrecken schien die Lust auf Konversation auszugehen. Er näherte sich der kräuterkundigen Heilerin zunächst bedrohlich, blieb dann aber abrupt stehen.
»Ich werde gehen und eure Nachricht überbringen.«
Hinter Cyriana versuchte jemand in den Raum einzudringen. Doch die Tür war verschlossen. Es blieb beim Rütteln der Klinke, ohne dass sich die Eichentür bewegt hätte. Sie drehte sich um.Der Nachtschrecken nutzte den Augenblick und ergriff ihren Arm. Sie spürte, wie die Kreatur ihr die Lebenskraft aussaugen wollte, doch ihre druidischen Kräfte geboten Einhalt.
Im nächsten Moment, begleitet von einem wüsten Fluch brach jemand die Tür auf. Ordensleute drangen in die Kammer ein. Zurolon flüchtete geistesgegenwärtig unter das Bett. Zischend wich der Nachtschrecken zurück.
Eine große Gestalt erschien im Türrahmen und sprang nach vorne. Ein gelblich, leuchtendes Schwert blitzte auf ...
»Bei den Göttern, Dairos, nein«, schrie Cyriana.
... und zerteilte den Nachtschrecken. Die Kreatur stieß ein letztes Kreischen aus und zerfloss vor ihren Augen.
Starke Arme packten sie, verdrehten ihre Hände auf den Rücken. Seelenruhig betrat Ignatus vom goldenen Turm den Raum und stellte sich neben Dairos. Er sah sich triumphierend um.
»Ertappt, Hexe.« Sein selbstzufriedener Blick legte sich auf Cyriana.
Gebrochen starrte sie auf die zerfließenden Überreste der Kreatur aus dem Wald. »Ihr habt ja keine Ahnung, was ihr gerade angerichtet habt.«
In ihr überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte versagt. Nicht nur, dass die Scheibe fort war, Granitfurt war mehr denn je in Gefahr.
»Cyriana, ihr seid mir ein einziges Rätsel. Welche dunkle Kreatur war hier?«
Sie schwieg eisern. Keines ihrer Worte würde irgendetwas bewirken. Ignatus grinste und kratzte sich nachdenklich im Nacken. »Erzählt mir alles, Kräuterweib, über jene Scheibe, die Yenraven in ihre Gewalt bringen will.«
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...