Versiegelte Kammer

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Der Ordensabt winkte unwirsch ab, als einer der Gardisten ihm die Hand reichte, um ihm über das Geröll zu helfen. Er war doch kein tattriger Greis. Geschickt überwand er das Hindernis und warf dem Mann einen strafenden Blick zu. Das Stechen im Knie ignorierte er. Er war eine Legende des Ordens, jemand, dessen Name hinter vorgehaltener Hand gleichsam furchtsam, wie bewundernd geflüstert wurde. Männer wie er zeigten keine Schwäche. Der Gardist senkte eingeschüchtert seinen Kopf. So musste es sein.

In ihrem Eifer ihm zur Hand zu gehen, übersahen die Ordensleute stets, wie rüstig er, trotz seiner ausschweifenden Gelage, immer noch war. Ihre mitleidsvollen Blicke, wenn er im Hof der Ordensburg entlangschritt und sie glaubten, er würde sie nicht bemerken, stachen in sein Herz.

Zwar spürte er, wie die Kräfte über die Jahre hinweg zunehmend schwanden, doch sein Geist blieb standhaft und sein unbeugsamer Wille verscheuchte die Gicht aus den alten Knochen. Dabei wussten alle, ohne es auszusprechen, wie unersetzlich er war. Wie sollte der Orden ohne ihn, Tanat zum Weidentor die heraufziehenden Gefahren denn meistern? Doch der Sand in der großen Uhr seines Lebens rieselte unerbittlich in die Tiefe.

Bereits wenige Stunden nachdem Dairos von Ordon abgerückt war, hatte er seine Männer zusammengetrommelt und war, ohne Zeit zu verlieren, in einem Gewaltmarsch Richtung Fels Karabatos aufgebrochen. Seine Leute sollten seine ungebrochene Tatkraft sehen. Er war entschlossen, die Rätsel zu lösen, um den Orden in seinen Glanz zu führen und zu beweisen, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehörte.

Grimmig blickte er sich um. Mittlerweile befanden sie sich ganz tief unter der Erde der verlassenen Bergarbeitersiedlung und suchten Hinweise in dem weit verzweigten Stollensystem.

Ein lautes Ächzen riss ihn aus seinen Gedanken. Unbeholfen stolperte ihm ein alter, grauhaariger Mann in weiter Kutte nach und verhielt schwer schnaufend, kaum dass er das Geröllfeld überwunden hatte. Worigor, der Zauberer der Krone, versuchte, seine Würde zu wahren, wirkte aber an diesem Ort so deplatziert wie ein Krabbelkind bei einem Junggesellenabschied. Dicker Schweiß troff ihm von der Stirn.

Diese Weichlinge vom Hof des Königs waren körperlichen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Dabei war Worigor etwa in seinem Alter, aber dennoch physisch ein Wrack. Wie sehr er sie doch verachtete. Ja, er war kein Kostverächter, gleichwohl bewahrte er sich neben seinem wachen Geist einen zähen Körper. Die Vasallen des Königs dagegen frönten dem Nichtstun und sonnten sich in ihrer gottlosen Dekadenz.

Der Glanz des Ordens stellte die Krone in nahezu allen Belangen in den Schatten. An irgendeinem, hoffentlich nicht mehr allzu fernen Tag würden Männer in stahlblauen Rüstungen den verweichlichten Adel hinwegfegen und die Macht würde in fähigere Hände wechseln. Er seufzte verbittert. Diesen ruhmvollen Tag würde er nicht mehr erleben.

Eine Delegation aus der Reichsstadt hatte sich ihm und seinen Gardisten am Fels Karabatos angeschlossen. Jetzt war er gezwungen, die Untersuchung mit der Krone gemeinsam durchzuführen. Kaum vorstellbar, dass dies im Sinne des Ordens war, zählte doch das Teilen von Wissen nicht zu seinen hervorstechendsten Charaktereigenschaften ... und das Teilen des Ruhms schon gar nicht.

Der Ordensabt spähte ins spärlich ausgeleuchtete Dunkel des langen Gangs. Seine Augen waren nicht mehr die besten und dennoch saugte er jede Kleinigkeit, jedes Detail wie ein Schwamm auf. Nicht umsonst galt er als einer jener Männer, denen kleinste Feinheiten nicht entgingen und die daraus messerscharfe Schlüsse zogen. Anders hätte er sich auch nie an der Spitze des Ordens gehalten. Selbst der Großmeister in seiner Ordensmission in Perlhafen respektierte ihn, holte immerfort seinen Rat ein. Er wäre auch schlecht beraten, darauf zu verzichten.

Auf den ersten Blick wirkten die felsigen Wände wie von groben Werkzeugen bearbeitet. Doch das Moos in den Fugen sah verkümmert aus, schwärzlich, verbrannt ... und an einigen Stellen hatte sich Gestein sogar verformt.

Worigor blieb an einem Felsbrocken hängen, stolperte gegen ihn. Der Zauberkundige fing sich ab, indem er sich an seiner Ordensrobe festkrallte. Tanat hatte Mühe, neben seinem Gleichgewicht auch die Fassung zu wahren. Wie er die Zauberei und alle Magier doch hasste. Gesalbte Worte, nichtssagende Floskeln. Sie beugten die Naturgesetze. Manch einer von ihnen lebte weit über seine natürliche Zeitspanne hinaus. Er verspürte Ekel. Das war widerlich.

Aber das magische Gesindel konnte nützlich sein, ihm zu helfen, die eigenen Ziele zu erreichen. Sie waren Werkzeuge wie ... Ignatus.

Den Wissenswahrer hatte er wohlweislich mit Dairos nach Granitfurt geschickt. Der Bucklige war viel zu ehrgeizig, hätte versucht, ihn hier in Fels Karabatos zu übertrumpfen. Zweifellos war der Gelehrte bestrebt, ihn einst als Ordensabt abzulösen. Dazu brauchte er natürlich seine Fürsprache oder entsprechende Verdienste. Tanat kicherte still in sich hinein. Er verschenkte kein Wohlwollen.

Mit dem fanatischen Ordensritter hatte der berechnende Wissenswahrer erst einmal eine harte Nuss zu knacken. Allerdings war Ignatus vom goldenen Turm ein Neffe des Königs. Er hatte dem jungen Dairos von Ordon mit dem Selbstverständnis einer adeligen Geburt das Kommando gewiss längst entrissen. Blaues Blut war ein eherner Hammer, dessen Schläge jeglichen Widerstand gnadenlos aus dem Wege räumten.

Dairos, geprägt von Obrigkeitsdenken und Loyalität, würde kaum gegen ein Familienmitglied vom goldenen Turm aufbegehren. Zumindest nicht, solange Ignatus die Werte des Ordens vorlebte. Werte, die Ignatus zwar nutzte aber nicht verinnerlichte. Die beiden würden also krachend aufeinanderprallen. Tanat freute sich schon darauf, den Ordensritter und den Wissenswahrer wiederzusehen.

Der Erzmagier machte sich nun tatsächlich nützlich, als er einen Zauber sprach und aus seiner Hand eine kleine Kugel in die Höhe schwebte, die den Korridor hell ausleuchtete.»Keine Gefahr, Mylady«, hörte Tanat den Magier Worigor salbungsvoll sagen.

Nun lag der ausgeleuchtete Gang verlassen vor ihnen. Von einer Bedrohung war, wie für jeden, dessen Augen nicht längst erloschen waren, nichts zu sehen.

Eine grazile, leichtfüßige Gestalt glitt geschmeidig über das Geröllfeld, welches noch vor kurzem diesen Zugang fast zur Gänze verdeckt hatte.

Aratica vom goldenen Turm, Nichte des Königs und, wie man sich hinter vorgehaltener Hand ängstlich zuflüsterte, ausgebildete Assassine. Sie wirkte unschuldig wie ein Engel. Ein fast knabenhafter Körper, zwei kluge neugierige Augen, eine niedliche Stupsnase. Sie hatte ihre dunkelschwarzen Haare in unzähligen Rastalocken geflochten, die ihr zusammengebunden bis zur Mitte des Rückens hinabhingen.

Tanat schnaubte verächtlich. Er wusste, dass viele dieser kleinen Geschichten voller Mord und anderer Bluttaten wahr waren. Aratica gehörte jedenfalls nicht dem dekadenten Ast der Herrscherfamilie an. Sie war eine giftige Kobra, deren Namen niemand leichtfertig in den Mund nahm. Legte man sich ungestraft mit dem König an und erweckte dessen Missgunst, so endete man bisweilen als Auftrag bei der Assassine.

Einige Ordensgardisten näherten sich ihnen. Sie kamen den steil abfallenden Weg herauf auf sie zu, trugen Fackeln und wirkten abgekämpft.

»Der Eingang liegt jetzt frei. Es ist aber sonderbar, wir können die Kammer weiterhin nicht betreten, irgendetwas hindert uns daran.«

Zwar war Tanat erst am gestrigen Abend mit seinen Männern hier vor Ort eingetroffen, doch natürlich hatten Ordensleute nähergelegener Abteien bereits alles abgesucht und gesichert. Nun galt es die mysteriöse Kammer zu untersuchen, die man erst vor wenigen Tagen entdeckt hatte.Er folgte den Gardisten weiter in die Tiefe. Der Erzmagier und Lady Aratica schlossen sich ihm in sicherem Abstand an, wobei der Zauberer sein magisches Licht weiterhin aufrecht hielt.

Auf verbrannte Leichen, wie sie sie in anderen Tunneln gefunden hatten, stießen sie hier nicht. Dennoch tobte unlängst sengende Hitze durch diese Korridore. Seine Hände glitten über den Fels. Er fühlte sich handwarm an, hätte aber deutlich kühler sein müssen. Noch nach Wochen wirkte also die Glut nach. Er erschauerte, spürte die widerwärtige Magie, die diesen Ort besudelt hatte.

Lady Aratica, die bislang nur geschwiegen hatte, warf dem Ordensabt einen fragenden Blick zu. »Üblicherweise seid ihr Ordensleute doch in diesen dunklen Mysterien bewandert und meisterhaft darin, Geschichten zu erzählen. Was ist hier also geschehen?«

»Der Orden wird es euch unverzüglich wissen lassen, sollte er das Mysterium gedeutet haben«, brummte Tanat verstimmt. Die junge Frau irritierte ihn zutiefst. Ihr fehlte es an Respekt und eingedenk der Berichte, die er über sie gelesen hatte, verhielt sie sich verstörend unberechenbar.

Die Assassine zog einen Schmollmund. Tanat zum Weidentor ließ sich nicht täuschen. Der König hatte seine Nichte nicht grundlos hierher geschickt. Diese Zusammenarbeit war ungewöhnlich. Zwar herrschte die Krone über das Reich, doch der Orden war ein bedeutender Machtfaktor. Hier im Norden ging man sich aus dem Weg. Man zollte sich vordergründig Respekt, verachtete sich insgeheim, intrigierte.

Einst stand Tanat vor der Wahl zum Großmeister des Ordens aufzusteigen. Er hatte abgelehnt, denn als solcher hätte er die Ordensmission in der Reichsstadt beziehen müssen. Die Nähe zum königlichen Machtzentrum bedeutete zwischen den Bedürfnissen von Orden und Thron zu lavieren, ohne sich zur Zielscheibe zu machen. Dies war nicht seine Bestimmung.»Sorgt der Glanz des Ordens nicht für den rechten Durchblick?«, riss ihn die Stimme der Assassine aus seinen Gedanken.

»Ihr müsst Geduld haben, Lady Aratica. Wir werden Licht ins Dunkel bringen. Das ist unausweichlich.«

Die junge Frau warf einen kurzen Blick auf die flammende Kugel in den Händen des alten Zauberers. »Nun, der Einzige, der hier momentan für Licht sorgt, ist mein Magierlein.«Worigor, der Erzmagier, musste sich zurückfallen lassen, da es im Gang gerade eben so möglich war, zu zweit nebeneinander zu gehen. Die Nichte des Königs rückte an Tanats Seite und zeigte ein absolut unpassendes, glückseliges Lächeln. Ihre Augen blickten neugierig, fast schon belustigt.

»Gab es Zeugen der Vorgänge?«, fragte sie. Tanat schüttelte den Kopf. »Wir haben in Torflohe einen alten Bergarbeiter und dessen Sohn angetroffen. Sie müssen kurz vor den Ereignissen Berg Karabatos verlassen haben.«»Haben sie etwas Interessantes berichtet?«»Der Sohn des Bergmanns glaubt, noch zwei Reiter auf der alten Kupferstraße gesehen zu haben, die sich Fels Karabatos genähert haben.«

Der Gang schlängelte sich immer tiefer in den Berg hinab. Mehrfach bogen die vorangehenden Ordensgardisten in dunkle, kaum erkennbare Spalten ab. Mittlerweile hatten sie eigene Karten über die unzähligen Stollen angelegt, doch gab es täglich Neues zu entdecken.

Sie erreichten schließlich das Ende des Gangs. Eine schmucklose, einen Spalt breit aufstehende Holztür, verwehrte ihnen das Fortkommen.

»Hier haben wir tatsächlich noch einmal einige verbrannte Leichen gefunden. Es muss ein Kampf stattgefunden haben. Als die Gardisten vor einigen Tagen die Tür entdeckten, stand sie bereits offen. Aber jeder der die Kammer betrat, drehte sich, kaum dass er über die Schwelle schritt, wieder um und kam zurück«, erklärte Tanat.

Der Erzmagier drängte sich an ihm vorbei. Die Magier waren alle gleich. Sobald arkane Mächte im Spiel waren, fühlten sie sich berufen, die Führung zu übernehmen, als ob sie die Einzigen wären, die helfen könnten.

Tanat beobachtete aus zusammengekniffenen Augen Worigor, als dieser mit kindlicher Freude die Tür abtastete. Der Erzmagier entsprach der klassischen Vorstellung seiner Zunft. Wildes, ungekämmtes, strähniges und graues Haar umrahmte ein zerfurchtes, faltiges Gesicht. Ein schlohweißer Bart hing dem Mann bis zum Halsansatz hinab. Der Zauberer des Hofs trug einen weiten, mausgrauen Kapuzenmantel.

Schließlich brummelte der Erzmagier einige unverständliche Worte in seinen Bart. Tanat hörte nicht hin. Vermutlich hatte ihnen der alte Mann offenbart, dass die Kammer magisch gesichert war.

Durch den offenen Spalt lugte die Nichte des Königs ins Innere. Dabei achtete sie tunlichst darauf, nicht die Türschwelle mit dem Kopf zu überschreiten.

»Ich sehe eine hübsche kleine, wohl verschlossene Truhe mitten im Raum. Moment ...«, Aratica zog ihre Stirn in Falten »... Nein, nicht edel genug für mich.«

Kurz darauf wandte sie sich den Wänden zu. »Dort sind seltsame, ich finde irgendwie hässliche Symbole eingraviert.«

»Das wird der Schutzzauber sein«, offenbarte ihnen der Erzmagier huldvoll.

Tanat revidierte seine Meinung über Magier. Sie waren selten nützlich, nervten aber unverhältnismäßig oft.

Aratica glitt zurück und packte einen Ordensgardisten, der ihnen von der Kammer berichtet hatte, beim Arm und schob ihn zur Tür.

»Alles ist gut, bring mir das Kistlein«, beruhigte sie den Gardisten, während sie ihn unnachgiebig in den Raum bugsierte. Kaum hatte er das Innere betreten, als auch schon die Symbole an den Wänden aufglühten. Der Mann keuchte, drehte sich um und wollte gerade wieder herausstürmen, als Aratica ihm einen festen Schubs verpasste, welcher ihn tiefer hineintrieb.

Der Ordensgardist torkelte überrascht einige Schritte zurück. Die Symbole flammten grell auf. Der unglückselige Ordensmann griff sich an die Ohren, schrie vor Schmerz und lief zum Ausgang. Dort wurde er von Aratica bereits erwartet, die aus irgendeinem Schlitz ihrer Gewandung einen Dolch hervorgezaubert hatte und ihm entgegenstreckte.

»Stillgestanden im Glanze des Ordens«, intonierte sie streng.

Der Ordensgardist nahm von der Klinge keine Notiz, lief einfach weiter. Er wäre von Aratica wohl aufgespießt worden, wenn der Ordensabt nicht geistesgegenwärtig hervorgetreten und ihren Arm gesenkt hätte.

»Genug«, fauchte er. Der Mann aus Tanats Gefolge taumelte an der jungen Frau mit dem Rastazopf vorbei in den Gang und brach wimmernd vor Schmerz an der Wand zusammen.Die kalten Augen der Assassine fixierten den Ordensabt, wie es wohl Raubvögel mit ihrer Beute taten. »Fasst mich nie wieder an, Äbtlein.«

Doch dann lächelte sie verschmitzt, schob das Messer zurück in eine versteckte Scheide am Unterarm ihrer seidenen Bluse. »Amüsant.«

Tanat hörte das Wimmern des zusammengesunkenen Ordensgardisten und war sich sehr sicher, dass der Spaß einseitig gewesen war. Er war selbst kein Kind von Traurigkeit, schreckte auch vor Folter nicht zurück und würde nicht zögern, Menschen absichtlich in den Tod zu schicken. Aber es musste stets einen Zweck erfüllen. Aratica verband ihre Taten mit dem Wunsch, ihrer abgestumpften Seele ein Gefühl abzuringen. Tanat wandte sich ab. Sie war armselig. Der Geist des Ordens würde sie nie erfüllen.

»Ein wirklich mächtiger Schutzzauber«, unterbrach der Erzmagier theatralisch seine Gedanken. Mit großen geweiteten Augen starrte der Zauberer neugierig in die Kammer.

»Upps, was für eine Erkenntnis«, spöttelte Aratica und hauchte Worigor einen Kuss zu. »Hat das Zauberlein Weiteres zu berichten?«

Den Erzmagier schien die Respektlosigkeit der Assassine nicht zu stören. Im Gegenteil, Tanat vermeinte, in den Augen des alten Mannes ein warmes Aufblitzen wahrzunehmen. »In der Tat, Mylady. Es handelt sich eindeutig um einen Fluchzauber, keinen arkanen Spruch. Unzweifelhaft Hexenmagie. Intensität und Komplexität deuten überdies auf eine ungemein machtvolle Hexe hin.«

»Ist das was Besonderes?«, wollte Aratica wissen. Sie streichelte derweil dem armen Mann, der an der Wand zusammengebrochen war, tröstend über den Kopf. Wenn sich Tanat nicht gewaltig täuschte, stand der Mann kurz vor einer Panikattacke.

Jedenfalls fand er bei diesem Anblick wieder Gefallen an der Berechenbarkeit frisch entschlüpfter Ordensritter. Der offensichtliche Wahnsinn Araticas war weitaus verstörender, als er zunächst gedacht hätte, und beunruhigte ihn. Wie sollte er in der Lage sein, gegen sie zu intrigieren, wenn sie sich vollkommen unberechenbar verhielt? Ein lange vergessenes Gefühl der Unsicherheit, gepaart mit ersten Anzeichen aufkommender Angst, ließ ihn frösteln.

Verfolgte die junge Frau mit dem lausbubenhaften Gesicht und dem Rastazopf etwa einen eigenen Plan? Warum schickte der König ausgerechnet eine Assassine an diesen Ort? Hatte er nicht geeignetere Leute dafür? Tanat verspürte kein Interesse, länger in ihrer Gesellschaft zu verweilen als notwendig. Er verfolgte argwöhnisch, wie Aratica sich aufmerksam umsah. Hatten sich König und Großmeister gegen ihn verschworen? Er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Sein Sohn hatte ihm einst den Rat gegeben, nicht hinter jedem und allem einen Feind zu wittern.

»Das Gerücht, wonach die Bluthexe zurückgekehrt ist, könnte wahr sein. Eine Hexe mit ungeahnten Kräften hat jedenfalls die Kammer versiegelt«, fuhr der Erzmagier fort.

Aratica wandte sich an Tanat. Ihre grüne Augen funkelten warnend. »Vor achthundert Jahren hat der Orden schon einmal versagt, Ordensäbtlein. Diesmal nimmt sich die Krone des Problems an.«

Damit war die Frage, die sich Tanat die ganze Zeit gestellt hatte beantwortet. Der König witterte die Chance, die Menschen im Norden des Reichs wieder unter seinem Banner zu versammeln und sie dem Einfluss des Ordens zu entreißen.

Aber nur wenn sie erfolgreich sind ...

Er straffte sich. Vielleicht hätte er Dairos von Ordon begleiten und Ignatus seiner Cousine überlassen sollen. Aus einem Zweifrontenkrieg gegen Hexe und Krone konnte er nicht als Gewinner hervorgehen.

Allerdings galt es nun Flagge zu zeigen und sich zu behaupten. »Nun denn, Mylady. Immerhin hat der Orden vor achthundert Jahren obsiegt. Die königliche Dynastie muss sich erst beweisen.«Aratica grinste über das ganze Gesicht. »Dies bewegt euch? Wir lösen das Hexenproblem gemeinsam und der Orden übernimmt den Ruhm?«

... und wenn es nicht gelingt, gibt es auch einen Sündenbock, führte Tanat den Satz der eiskalten Assassine in Gedanken fort. So hatte er sich seine letzten Jahre im Amt nicht vorgestellt.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt