Jünger der Sonne

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Logard blickte die steilen, etwa sechzig Fuß in die Höhe reichenden Kraterwände hinauf.

 »Erstaunlich. Das Ungeziefer ist zurückgekehrt.« Er deutete auf die am oberen Rand patrouillierende Wache.

Deutlich waren die gelbe Toga und die weißen Gewänder auszumachen, in die die Gestalt gehüllt war.

Yenraven kniff ihre Augen zusammen und musterte den Mann am Hügelkamm. »Zurückgekehrt? Das sind doch keine Dryadengrüns.«

»Nun, ich vergaß wohl zu erwähnen, dass ursprünglich die Jünger Raden-Surs hier lebten, ehe sie von Soldaten unseres westlichen Nachbarreichs vertrieben wurden.«

»Weiteres, was ihr vergessen habt, zu erwähnen?«»Im Übrigen stammt die Sonnenscheibe von diesem Ort.«Die Bluthexe wandte sich ab. »Macht es euch Spaß so schweigsam zu sein?«

Der Hüne mit dem Flügelhelm antwortete nicht. Stoisch machte er sich auf den Weg, den Krater zu umrunden. Der Wald bot vor den Blicken der Wachen auf der Kraterkante gute Deckung, dennoch achteten sie darauf, nicht erspäht zu werden.

»Der Wald, der Hexenstein, hat die Anwesenheit der Jünger nicht gespürt. Das ist ausgesprochen seltsam«, sinnierte Logard, während er bei seinem Rundgang die Wachen auf dem Kraterrand zählte. Yenraven schien er dabei vergessen zu haben.

Diese stampfte verdrießlich hinter dem Hünen her.

»Gehen wir doch rein und reinigen die Kraterschmiede. Das kann nicht so schwer sein. Ich kann auch meinen Feuerelementar rufen.«

Die Bäume des dunklen Forsts reichten bis zu der Stelle, an der der Boden in einen zunächst sanften, dann steileren Hang überging. Auf den Abhängen wucherte ein gelblicher Blumenteppich. Logard bückte sich und roch an einer der Blüten. »Das sind keine Pflanzen des Walds.« Er grub mit seiner gepanzerten Hand ein kleines Loch. »Das hatte ich vermutet. Die Blumen verhindern, dass das Hexenmyzel sich unter die Kraterschmiede schieben kann.«»Habt ihr das schon einmal gesehen?«

»Nein, Yenraven, das habe ich nicht. Die Jünger sind nicht unvorbereitet zurückgekommen. Wir sollten auf der Hut sein.«

Die junge, rothaarige Frau mit den feinen Gesichtszügen pflückte eine Blume und schnupperte daran. Sie verströmte einen lavendelartigen Geruch. »Warum ist den Anhängern Raden-Surs diese Kraterschmiede so wichtig?«

»Interessieren euch Legenden?«Sie zuckte mit den Schultern. »Lasst es mich herausfinden.«

»Nun gut. Vor tausenden von Jahren stürzte ein feuriger Fels aus der Sonnenscheibe Raden-Surs auf die Welt. Nachdem der brennende Krater erloschen war, entdeckten Menschen in der Tiefe des in die Erde geschlagenen Trichters, ein seltsames, gelbliches Metall ... und sie schufen die Sonnenscheibe. Das war die Geburtsstunde der Jünger Raden-Surs.«

Logard nahm seine Wanderung am Fuße der Abhänge wieder auf. »Mithilfe der Sonnenscheibe schufen sie aus dem Erz des Kraters arkane Schwerter und einige andere, mittlerweile zumeist verschollene Artefakte. Als sie von den Dryadengrüns vertrieben wurden, entstand aus ihnen eine stetig wachsende Splittergruppe, der Orden ... und die arkanen Klingen wurden zu deren Ordensschwertern.«

»Warum ist die Sonnenscheibe für das Ritual wichtig, Logard?«

Der Krieger blieb überrascht stehen. »Seit vielen Jahren bereitet der Hexenstein euch auf den Blutritus vor. Ihr habt nie wissen wollen, warum hierfür die Scheibe so wichtig ist. Warum jetzt?«

Schulterzuckend lehnte sich Yenraven an einen faulig stinkenden Baumstamm. Sie ignorierte die schroffe Rinde, die in ihren Rücken stach. »Bislang interessierte ich mich nicht für die Zutaten des Rituals. Aber die Scheibe scheint etwas besonderes zu sein.«

»Laut Legende schmiedeten die Jünger sie aus dem Kern des Meteoriten. Und dieser Kern ist die Essenz eines Gottes. Deshalb benötigen wir sie für den Ritus.«

Verstohlen näherte sich ihnen eine niedere Kreatur des Walds. Der gerüstete Ritter warf einen Stein nach dem iltisgroßen Wesen mit den blutunterlaufenen Augen und dem stachelbewehrten Rückenkamm. Es verschwand fiepend im Unterholz.

»Lasst das, Logard. Sie sind alle Kinder des Walds.«»Wollt ihr, dass ich weitererzähle?«»Ja, fahrt fort.«»Mit der Niederlage der damaligen Yenraven, dehnte sich der Wald aus, wurde zum Schattenwald. Dieser umschloss die Kraterschmiede, die somit verlassen und vergessen blieb. Nicht einmal die Dryadengrüns kamen wieder. Warum auch, die Sonnenscheibe Raden-Surs war verschollen. Es gab keinen Grund zurückzukehren.«

Sie hatten die Wälle der Kraterschmiede nun schon fast vollständig umrundet, als Logard innehielt und lauschte. In Yenraven tobten Enttäuschung, Neid und Wut. Sie wusste nur zu genau, warum Logard zur Salzsäule erstarrt war.

Er tauschte sich gedanklich mit dem Hexenstein aus. Sie verstand nicht, wieso der Krieger ihr vorgezogen wurde. Sie war die Bluthexe, die Erwählte. Der Hüne wiederholte flüsternd die letzten Anweisungen. Er wandte ihr den Blick zu. »Ihr müsst zurück, Yenraven. Bewaffnete von Fels Karabatos rücken auf der Kaiserstraße vor. Sie dürfen den Hexenstein nicht erreichen.«

Trotzig schüttelte die Bluthexe den Kopf. »Ist die Scheibe nicht wichtiger? Sollen die Kreaturen des Walds sich doch um das Problem kümmern.«

»Die meisten Nachtschrecken stehen uns nicht mehr zur Verfügung und die Waldaffen werden sich gegen gut gerüstete Kämpfer des Ordens nicht behaupten können.«

»Mein Platz ist hier, Logard. Dem Hexenstein droht doch keine echte Gefahr.« »Das entscheidet nicht ihr.«

Die junge rothaarige Frau wandte sich wütend ab und starrte den Hang hinauf zur Kraterschmiede. Ihr war anzusehen, dass sie am liebsten sofort losgestürmt wäre.»Habt Geduld. Die Diebe sind vermutlich noch nicht hier. Es bleibt also noch Zeit. Erledigt eure Aufgabe und kehrt zurück.«

»Und wenn sie noch in Granitfurt sind oder ein ganz anderes Ziel haben?«»Wir werden sie aufspüren.«

Wütend warf Yenraven ihre Portalsteine mit einer trotzigen Geste in die Höhe. Die Magie konnte sie an jeden Ort innerhalb des Walds bringen, den sie jemals aufgesucht hatte. Die Steine schwebten in der Luft und bildeten kreisend ein Portal.

»Wenn sich euch die Gelegenheit bietet, Logard, holt mir die Sonnenscheibe.«

Mit diesen Worten betrat die Bluthexe das Portal und verschwand. Der Hüne mit der mattschwarzen Rüstung und dem Flügelhelm blieb einfach stehen. Jeder Ort war so gut wie der andere. Er musste jetzt nur warten, bis die beiden Prinzen aus Dryadengrün eintrafen und verhindern, dass sie in die Kraterschmiede gelangten.

Und sie würden kommen, denn die Krähen des Walds hatten sie bereits erspäht.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt