Im Nachhinein konnte Tywen nicht sagen, was es gewesen war. Ein Rascheln, ein leises Flüstern, das Verstummen des morgendlichen Vogelgezwitschers oder etwas anderes.
Als der Gardist neben seiner Lagerstätte angelangt war, war Tywen jedenfalls bereits aufgesprungen und hielt dem Unglückseligen ein Messer an die Kehle.
Drei weitere Ordensgardisten, die mit gezogenem Schwert rund um die niedergebrannte Feuerstelle standen, verharrten augenblicklich. Feiner Bodennebel umspielte die Füße.»Lasst das Schwert fallen«, befahl einer der Männer dem Halbprinz aus Dryadengrün.
Hinter den Dreien sprang Kendar mit wackeligen Beinen auf und zog nun ebenfalls sein Schwert aus der Scheide. Er schien deutlich angeschlagen. Sein Gesicht war fahl wie der Tod.
»Senkt ihr erst einmal die Euren«, krächzte Kendar und obgleich die Stimme seinen geschwächten Zustand widerspiegelte, konnte keinem, der genau zuhörte, die grimmige Entschlossenheit des Prinzen entgehen.
Kendar war bereit zu kämpfen und zu töten.
Die Verunsicherung war den Gardisten deutlich anzumerken. Ihr Auftrag hatte wohl darin bestanden, die beiden Prinzen wieder zurück nach Granitfurt zu bringen. Mit bewaffnetem Widerstand hatten sie nicht gerechnet. Dem Orden widersetzte man sich nicht.
»Stellt euch nicht gegen das Licht des Ordens. Kehrt mit uns zurück. Ignatus vom goldenen Turm will euch noch befragen. Ihr dürft euch dem Willen unseres Herren nicht widersetzen.«Tywen schnaubte unwillig. Seine Stirn zeigte einige steile Falten, die seinem grimmigen Gesicht eine wahrhaft dämonische Kälte verliehen.
»Wir sind Prinzen aus Dryadengrün und keine Vasallen des Reichs und erst recht keine Anhänger eures Ordens. Was euer Wissenswahrer gerne hätte, ist uns einerlei. Lasst eure Schwerter fallen und verschwindet.«
Der Mann, den er eisern festhielt und an dessen Kehle Tywen die Klinge hielt, schluckte. »Wir können nicht so einfach zurück. Auf Versagen stehen hohe Strafen. Ich bitte euch, kehrt mit uns nach Granitfurt zurück.«
Tywen verstärkte seinen Griff und drückte die Klinge etwas fester gegen die Kehle des Gardisten. Ein feines, blutiges Rinnsal floss dem Mann den Hals hinab. »Hier erwartet euch nur der Tod. Also nehmt eure Strafe an.«
Einer der Angreifer bückte sich und legte sein Schwert am Lagerfeuer ab. »Ich habe keine Lust, jetzt schon zu sterben.«
Die anderen beiden am Feuer sahen ihren Begleiter etwas befremdlich an. Dieser zuckte nur kurz die Schultern. »Der Wissenswahrer hat uns zu viert hinterhergeschickt, um die Dryadengrüns aufzufordern, zurückzukehren. Sie haben abgelehnt. Hätte Ignatus vom goldenen Turm gewollt, dass wir sie mit Gewalt zurückbringen, dann hätte er mehr Leute schicken müssen.«
»Kluge Entscheidung.« Kendar grinste und Tywen fiel ein Stein vom Herzen. Sein Halbbruder schien zwar geschwächt, aber wieder Herr seiner Sinne zu sein. Hatte er den Dämon also tatsächlich in der Traumwelt verjagt, ihn vielleicht sogar ausgelöscht?
»Ohne Klinge kehre ich nicht zurück. Wir verlieren unsere Ehre.«
Der Ordensgardist steckte sein Schwert in die Scheide am Gürtel und verließ rückwärts gehend die Lagerstätte.
Der Soldat, der seine Waffe bereits auf den Boden gelegt hatte, beugte sich erneut hinab, nahm sein Schwert wieder auf und folgte seinem Kumpan. Dabei wandte er Tywen und Kendar demonstrativ den Rücken zu.
Nun waren nur noch zwei Gardisten übrig, wovon sich einer in Tywens fester Umklammerung befand, während der Blick des anderen unablässig zwischen den Brüdern pendelte.
»Ach, was soll's«, murmelte er schließlich und folgte seinen beiden Kameraden.
Die Prinzen warfen sich einen kurzen Blick zu. Kendar eilte daraufhin den drei Männern nach, um sicherzustellen, dass diese auch tatsächlich aufgegeben hatten. Nach einigen Minuten kehrte er zurück und hob die Hand zu einer beschwichtigenden Geste. Sie zitterte noch etwas.
Tywen ließ den Ordensgardisten los und stieß ihn mit einem kurzen Tritt von sich weg. »Lauf deinen Kumpeln nach«, forderte er ihn auf.
Sie warteten noch, bis sie in der Entfernung hörten, wie mehrere Männer miteinander stritten. Kurz darauf ertönte Hufgetrappel. Die Ordensleute zogen von dannen. Tywen wunderte sich nicht. Vier Gardisten gegen zwei glänzend ausgebildete Ritter aus Dryadengrün. Das konnte für den Orden nur vernichtend enden. Einen Augenblick lang schwiegen beide Prinzen, ehe sie sich lachend in die Arme fielen.
»Der Dämon ist weg?«, wollte Tywen wissen. Kendar bestätigte mit einem schiefen Grinsen. »Ich spüre ihn nicht mehr.« Seine Hand ruhte auf seiner Brust, umfasste etwas, dessen Umriss vage unter der Lederweste des Prinzen zu erkennen war.
»Das solltest du mir geben.« In Tywens Stimme schwang ein ungewohnt befehlender Ton mit.»Aber sehr gerne, Bruder. Dieses verfluchte Ding kann nicht weit genug weg sein.« Kendar griff unter seine Weste, wobei er eine handtellergroße, goldgelbe Scheibe, die an einer silbernen Kette baumelte, hervorholte. In ihrer Mitte klaffte ein etwa drei Finger breites, rundes Loch. Tywen nahm die Sonnenscheibe Raden-Surs in Empfang und hängte sie sich sogleich um.»Erzähl mir von dem Dämon, Bruder. Was weißt du noch?«
Kendar setzte sich auf seinen Sattel, der unweit des Lagerfeuers am Boden lag, dachte einen Augenblick lang nach.
»Es war seltsam. Ich konnte alles um mich herum wie durch Watte wahrnehmen, aber meine Hände und Füße gehorchten mir nicht mehr. In meinem Kopf rumorte es, der Dämon sprach öfters mit mir. Ich fühlte mich ... schwindend.«
»Das war alles Cyrianas Werk. Dafür wird die Hexe büßen«, versprach Tywen seinem Bruder grimmig. Dieser dachte einen Moment lang nach, schüttelte dann den Kopf nachdenklich.»Ich habe alles um Cyriana herum mitbekommen, Bruder. Der Dämon hatte Angst vor ihr. Er musste ihr gehorchen, wollte es aber nicht.«
»Der Dämon hat dir dein Leben ausgesaugt. Hätte ich dich nicht dank der Kräuter dieses alten Weibs im Traumland von ihm befreit, so wärst du gestorben.«
Kendars Kopf ruckte nach oben. »Traumland?« In seiner Stimme klang ein misstrauischer Ton mit, der Tywen aber offensichtlich entging. Der Halbprinz fuhr unbeirrt fort.
»Sie hat den Dämon an die Scheibe gebunden. An Raden-Surs goldene Sonnenscheibe, unserem uns zustehenden Erbe. Allein dafür wird sie bezahlen.«
Kendar legte seinem Bruder beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
»Der Dämon sprach von ihr. Cyriana hatte ihm befohlen die Scheibe zu bewachen, zu verhindern, dass sie bösen Mächten in die Hand fällt.« Kendar zögerte. »Er sollte darauf achten, dass sie immer getragen wird, da es so schwieriger sein würde, sie aufzuspüren.«
Tywen stutzte einen Augenblick, brach dann in ein höhnisches Gelächter aus.»Unsinn. Glaube nicht das, was Dämonen oder Hexen dir einflüstern. Wir haben nun die Sonnenscheibe. Lass uns unser Erbe antreten. Wir reiten zur Kraterschmiede und suchen das fehlende Teil.«
Ehe sie aufbrachen, stärkte sich Kendar. Er hatte einen Bärenhunger und fühlte sich unendlich ausgelaugt. Es hatte wohl nicht mehr viel gefehlt und er wäre von dieser Welt entschwunden. Der Dämon hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet, da er auf ihn angewiesen war. Tywen drängte darauf weiterzureiten.
Kendar schwieg, bis sie wieder auf den Pferden saßen und weiter in Richtung der Kraterschmiede ritten. Er dachte nach. Doch so sehr er es auch drehte und wendete, kam er immer wieder zum selben Punkt. Er wusste, wie Tywen den Dämon bezwungen hatte.
Lange Zeit wich er einer Unterhaltung aus, weil er die schreckliche Wahrheit nicht zur Gewissheit werden lassen wollte. Als sie aber den Rand des Schattenwalds erreichten, den sie durchqueren mussten, um zur Kraterschmiede zu gelangen, brach er sein Schweigen.
»Bruder, erzähl mir, wie du mich gerettet hast.«
Tywen berichtete ihm von der Begegnung mit der alten Frau, die ihm die Kräuter gegeben hatte, mit denen er im Traum in der Lage war, den Bann des Dämons abzuschütteln und diesen dann zu erwürgen.
Lachend schloss er damit, dass er nun Cyrianas zweifelhaften Rat, Heilung wäre nur in der Kraterschmiede möglich, getrost vergessen konnte. Die Hexe hätte ihn ohnehin nur täuschen wollen.
Kendar schwieg. Ihn überraschte die Geschichte Tywens nicht. In der ersten Nacht, nachdem er sich die Sonnenscheibe umgehängt hatte, war der Dämon auch ihm im Traum erschienen. Auch er war zunächst im Bann des Dämons gefangen gewesen, hatte sich daraus aber befreien können.
Er hatte den Dämon im Traum erwürgt, genauso wie Tywen.
Erst danach hatte der Dämon nach und nach die Kontrolle über ihn bekommen.Dabei war ihm dies lange Zeit gar nicht bewusst geworden, ehe es zu spät war.Er schielte verstohlen zu seinem Bruder und schloss bestürzt die Augen. In den Augenwinkeln Tywens stand ein rötliches Glitzern.
Der Dämon war nicht besiegt. Er hatte nur den Körper gewechselt und danach auch sofort wieder dafür gesorgt, dass er im Besitz der Sonnenscheibe blieb.
Die linke Hand Tywens glitt über die offen getragene Kette mit dem Artefakt. Gedankenverloren verstaute er sie selig lächelnd unter der Weste.
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...