»Was gibt es denn für Hexen? Die sind doch nicht alle gleich?«, erkundigte sich Aratica.
Tanat schloss die Augen. In Gedanken sah er Ignatus, den Wissenswahrer, der sich wie kaum ein anderer mit der Hexerei beschäftigt hatte. Was hätte er wohl geantwortet? In den Annalen des Ordens waren unzählige Begegnungen vermerkt. Die Heimtücke und Grausamkeit stand außer Frage, wenngleich die finsteren Kräfte unterschiedlicher nicht sein konnten.
Seufzend klärte er die Nichte des Königs auf. »Ehe Yenraven im Hexenkrieg eingriff, waren die Hexen in der direkten Konfrontation unterlegen. Sie vermochten mit ihren Flüchen Mensch und Vieh zu schaden oder drangen in der Nacht in die Träume Ahnungsloser ein, säten Zwietracht und Missgunst.«
»Und Yenraven?« »Nun, sie war die Bluthexe. Wie ein Magier schleuderte sie Feuerbälle und hüllte sich in Schutzfelder. In ihrem Gefolge tauchten weitere Hexen mit gefährlichen Kräften auf, die zuvor nur höchst selten beobachtet wurden.«
»Ich kann euch noch viel mehr erzählen, Mylady«, hub Worigor an.
Der Erzmagier dozierte in der Folge geradezu ekstatisch über unterschiedlichste Hexentypen, referierte, gesegnet mit dem Sendungsbewusstsein eines gelehrten Meisters, über Eishexen, Naturhexen, Nachthexen und Traumhexen.
Tanat beobachtete, dass Aratica den Ausführungen Worigors zunächst Einhalt gebieten wollte. Die Nichte des Königs schien überaus gelangweilt. Aber als sie in seinen Augen seine Verärgerung über die unendliche Litanei wahrnahm, stachelte sie den Erzmagier immer weiter an, mehr zu erzählen.
Der Ordensabt rettete sich, indem er sich gegen eine Felswand lehnte, die Augen schloss und über diverse Jugenderlebnisse reflektierte. Wie er als junger Ordensritter einst seine spätere Frau kennenlernte und wie sie bei der Geburt starb. Er sah seinen Sohn, der zum Orden ging und den Kontakt während der Bußzeremonien abbrechen musste. Der Schmerz brachte Tanat zurück in die Gegenwart.
Worigor schwadronierte unverdrossen weiter. Schließlich kam die Rede auf Bluthexen. Diese Gelegenheit nutzte Tanat, um sich einzubringen.
»Erzählt mir mehr von den Fähigkeiten einer Bluthexe, Erzmagier.«
Zwar war er sich sicher, so ziemlich alles über Hexen zu wissen. Aber ebenso wie der Orden seine Geheimnisse für sich behielt, waren es auch die Magier des Reichs, die nicht gewillt waren, ihren Wissensschatz zu teilen. Die Gelegenheit war ideal, Neues zu erfahren. So war es weiterhin unbekannt, welches Ereignis die schlummernden Kräfte der Bluthexe erwachen ließen.
Leider stockte der Erzmagier sofort in seinen Ausführungen, als er ein Terrain betrat, über das er keine Auskunft geben wollte.
Die Nichte des Königs umrundete den alten Mann mit dem schlohweißen Bart und kniff ihm in die Wange. Dabei machte sie ein übertrieben enttäuschtes Gesicht.
»Erst Wasserfall, jetzt Zirpen im Wald?«
Der Erzmagier atmete tief durch. Sein Eid dem König und der Königsfamilie gegenüber zwang ihn, fortzufahren.
»Die Bluthexen sind mit Abstand die mächtigste Hexenform. Sie können spontane und spektakuläre Zauber wirken. In den Annalen unserer Aufzeichnungen wird von zwei Auseinandersetzungen zwischen ihnen und Erzmagiern berichtet. Beide Male endete es für den Magier tödlich.«
»Ist das alles?«, stocherte Tanat nach. Ihm taten die Beine vom langen Stehen bereits weh und er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Felswand, rieb sich den schmerzenden Oberschenkel.Nach einem motivierenden Klaps Araticas, welcher Worigor sichtbar an den Rand seiner Selbstbeherrschung trieb, sowie einer kurzen Pause, um die Demütigung zu verarbeiten, fuhr der alte Mann fort.
»Die Kräfte einer Hexe erwachen durch bestimmte Ereignisse. Es kann sein, dass sie niemals ausbrechen. Leider ist nicht bekannt, welcher Anlass zu einer Bluthexe führt. Hier in Fels Karabatos muss jedenfalls eine Bluthexe gewirkt haben.«
»Oh«, Tanat war enttäuscht. Worigor hatte nichts Neues offenbart. Er blickte wieder auf die Wände des Stollens, auf das verbrannte Moos, erinnerte sich an die verkohlten Leichen. Er schüttelte den Kopf. Er hatte eine andere Theorie.
»Es könnte auch eine Elementarhexe gewesen sein.«
Der Kopf des Erzmagiers ruckte herum, seine greisen Augen fixierten Tanat ungläubig. Eine steile Falte stahl sich auf seine Stirn, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf. Man sah ihm an, dass er diese Idee närrisch fand.
»Elementarhexen sind eine Mär. Es gibt keine gesicherten Aufzeichnungen darüber. Es wäre auch verrückt zu glauben, dass eine derartige Macht, die sich Naturgewalten untertan machen kann, existieren könnte.«
Aratica blieb stehen und kratzte an dem verbrannten Moos im Höhlengang.
»Erzählt mir von dieser Mär, Erzmagierlein. Wir wollen doch keine noch so unwahrscheinliche Möglichkeit außer Acht lassen. Zumal wir hier ja auch einen wahren Ordensabt aus der Burg der göttlichen Hand unter uns haben.«
»Mylady Aratica, früher hat man jeden Waldbrand, jeden Vulkanausbruch, jede Überflutung auf das Werk einer Elementarhexe zurückgeführt. Das sind Märchen und es bringt uns hier nicht weiter.«
Die Assassine stieß ein enttäuschtes Schnauben aus. Ihr Blick ruhte nun nachdenklich auf Tanat. »Wenn ihr also keine Ahnung habt, werter Erzmagier, dann lassen wir doch mal den alten Greis hier berichten.«
Der Ordensabt schwieg eine Weile. Er überdachte seine Möglichkeiten. Die Nichte des Königs provozierte ihn unentwegt, wollte ihn vermutlich zu einer unbedachten Reaktion verleiten. Oder sie war einfach irre. Niemand hätte es je gewagt, ihn, Tanat zum Weidentor, einen der mächtigsten Ordensäbte, vor seinen eigenen Leuten als alten Greis zu verspotten. Aber die junge Frau mit dem unschuldigen Blick und dem Antlitz eines Lausebengels repräsentierte die Macht des Königs.
Alles, was Aratica tat, war von einem unberechenbaren Irrsinn begleitet. Er konnte sie nicht einschätzen. Stellte er sie zur Rede, so war es durchaus möglich, dass er ihren Dolch zwischen den Rippen kostete. Wäre sie dazu in der Lage? Auf jeden Fall.
Und niemand würde Aratica deshalb anklagen. Sicherlich, der Großmeister würde beim Königshof vorstellig werden, intervenieren. Wahrscheinlich würde der König auch ein paar Goldmünzen zur allgemeinen Beruhigung der Lage opfern. Aber letztendlich war er früher in das jenseitige Reich eingegangen, als er es eigentlich vorhatte. Keine schönen Aussichten. Die Jahre, die ihm noch blieben, hatte er sich jedenfalls anders vorgestellt. Tanat furchte die Stirn und versuchte, tief in die Augen der Assassine einzudringen. Sie lächelte ihn weiterhin unschuldig an. War sie verrückt? Oder war das einfach nur ihr Spiel? Er seufzte schwermütig. Es war müßig, darüber nachzudenken.
»Der Orden hat natürlich ebenso wenig gesicherte Aufzeichnungen über Elementarhexen, wie der Magierzirkel. Aber es gibt sehr wohl einige uralte Geschichten, wonach Elementarhexen Wesen aus anderen Sphären beschwören können. Besonders Mächtige sollen sogar in der Lage sein, einen Elementar zu bändigen.« Ehe Worigor aufbegehren konnte, deutete Tanat auf die Wände.
»Seht ihr denn nicht, welche Glut hier durch die Korridore fegte? An einigen Stellen hat sich Stein förmlich verflüssigt. Auch die verkohlten Leichen sprechen eine deutliche Sprache.«»Sie hat Feuerbälle geworfen ...«, versuchte sich Worigor an einer Erklärung.»Unsinn.« Tanat klatschte mit seiner Handfläche auf das geschmolzene Gestein neben sich. »Das war nicht nur ein Feuer ...«
Worigor nickte. »Gut, werter Ordensabt, ich weiß, worauf ihr hinauswollt. Ihr wollt mir tatsächlich einen Feuerelementar unterschieben. Das ist, verzeiht mir die deutlichen Worte, geradezu lächerlich.«
Er griff in seine große Umhängetasche und beförderte eine metallene Kugel, einige Holzfüße, sowie mehrere bläulich schimmernde Metallbänder hervor. Vor Tanats Augen entstand ein Astrolabium. »Kümmern wir uns zunächst um die Kammer und klären später die offenen Fragen.«
Augenscheinlich machte er sich daran, den Schutzzauber zu brechen.
Magie durchtränkte wie feiner Nebel den Raum, ließ den Ordensabt würgen. »Wir sollten uns zurückziehen, Lady Aratica.«
Tanat stellte einen Ordensgardisten ab, der sie informieren sollte, sobald Worigor den Bannzauber gebrochen hatte.
Der Erzmagier war so in sich versunken, dass er nicht bemerkte, wie sie ihn verließen.
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasyBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...