Die alte Frau

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Tywen wagte nicht, auf die alte Kupferstraße im dunklen Forst zurückzukehren. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen nahe dem Schattenwald hatten die Dryadengrüns früh gelernt, sich auf den gefährlichen Pfaden fortzubewegen, ohne die Wesen des Walds herauszufordern.

Aber den Basilisken, die Granitfurt angegriffen hatten, wollte er nicht begegnen.

Er wählte die alte Perlenstraße in den Norden, die bis Doriansstadt führte und gab seinem Pferd, dem Fuchs die Sporen. Kendar folgte auf seinem edlen Rappen dichtauf.

Cyriana war ihm ein Rätsel. Sie ließ sich nicht täuschen, wusste immer mehr, als andere, und hatte eindeutig eigene Pläne. Ihre Armbänder zeugten davon, dass sie noch einige dunkle Geheimnisse zu offenbaren hatte. Möglicherweise war es auch gar kein Zufall gewesen, dass der Basilisk ihr Heim angegriffen hatte.

Hoffentlich hatte sie ihre Tollkühnheit beim Angriff der reptilienhaften Kreaturen auf die Stadt nicht mit dem Leben bezahlt.

Kendar hatte den ganzen Ritt über geschwiegen. Sein Bruder war ihm erst gefolgt, als er ihm gesagt hatte, Cyriana hätte ihn gebeten, ihn zu holen. Zuvor hatte er sich schlafend gestellt und auf all seine Bitten und Drohungen nicht reagiert. Welche Macht übte die Kräuterkundige auf ihn aus und wie viel von seinem Bruder war noch da? Die Druidin hatte davon gesprochen, er wäre von einem Dämon besessen.

Glücklicherweise waren die Müdigkeit und das Fieber, welches Kendar geplagt hatte, verschwunden. Bitter, war dies doch möglicherweise ein Zeichen dafür, dass der Dämon die Oberhand über den Körper seines Bruder übernommen hatte.

Er blickte hinüber zum Schattenwald, an dessen Rand die Perlenstraße entlangführte. War da eine Bewegung? Oder spielte ihm der Wind einen Streich? Einige krähenartige Vögel mit hakenartigen Schnäbeln und tiefroten Augen begleiteten ihn seit einigen Stunden. Sie flatterten am Waldrand von einem abgestorbenen Baum zum nächsten. Es sah fast so aus, als würden sie seinen Ritt verfolgen.

Tywen kniff die Augen zusammen und fixierte eine Stelle im Wald, an der er glaubte, etwas auszumachen. Er war auf der Hut, achtete darauf, ob nicht ein Basilisk aus dem Wald hervorbrach und sie brüllend ansprang. Doch er sah nur Gespenster. Zum wiederholten Male drehte er sich im Sattel um, blickte in die Ferne, dorthin, wo Granitfurt lag.

Niemand verfolgte sie. Tywen hoffte, dass dies so blieb und Ignatus von weiteren Verhören Abstand nahm. Aber der Orden vergaß nicht. Sobald der Wissenswahrer feststellte, dass sie entflohen waren, würde er ihnen nachsetzen. Es wunderte ihn, dass dies noch nicht geschehen war.

Dabei konnte von Flucht keine Rede sein. Offiziell waren er und Kendar nie festgesetzt worden. Das Königshaus derer vom goldenen Turm würde es nicht wagen, zwei Prinzen aus dem Reich Dryadengrüns gefangen zu nehmen. Allerdings hatte Ignatus nicht den Eindruck gemacht, als ob ihn dies aufhalten könnte. Der Orden war eben nicht die Krone.

Er erinnerte sich an die beschwörenden Worte der Heilerin. Sie hatte durchaus eine überzeugende Eindringlichkeit an den Tag gelegt, als sie behauptete, die Basilisken wären wegen Kendar nach Granitfurt gekommen.

Vermutlich ging es aber gar nicht um seinen Bruder, sondern um die Scheibe, über die die Kräuterkundige offensichtlich so viel mehr wusste als er.

Sie erreichten nach zwei Stunden einen kleinen Weiler, in dem Tywen sich mit gepökeltem Fleisch, einigen harten Fladenbroten und zwei prall gefüllten Wasserschläuchen eindeckte. Gerade als sie die eng zusammenstehenden Gehöfte verließen, kreuzte eine alte, grauhaarige Frau ihren Weg.

Normalerweise wäre Tywen achtlos an ihr vorbeigeritten, doch diesmal, als die Magd abrupt stehenblieb und Kendar mit zusammengekniffenen Augen musterte, hielt auch er seinen Rotfuchs an.

»Was liegt an, Frau?«, herrschte er die Alte an. Sie trug ein Bündel Reisig über der Schulter. Ihre Augen beäugten Kendar aufmerksam und das faltige Gesicht glänzte. Das graue, ausgedünnte Haar hing ungekämmt und fettig zu beiden Seiten des Kopfs herab.

»Es ist nichts, edle Herren«, gab sie an, doch ihr Blick strafte ihren Worten Lügen.Unschlüssig wusste Tywen nicht, was er tun sollte. Kendar dagegen ließ sich von der Szenerie nicht beeindrucken, hielt sich wie immer steif und emotionslos im Sattel. Irgendetwas musste der Alten aufgefallen sein. Möglicherweise hatte sie den Prinzen erkannt. Aber wieso sollte eine Gemeine den Sohn des Regenten Dryadengrüns erkennen? Das war absurd.

Vielleicht spürte sie den Dämon in Kendar oder die Scheibe auf seiner Brust. Beides deutete aber darauf hin, dass die Alte magiebegabt war.

»Ihr hattet früher, in jüngeren Jahren, sicherlich schönes rotes Haar.«

Ein zahnloses Lächeln glitt über ihre Züge und schuf noch mehr Falten, als sie ohnehin schon hatte. Ohne etwas zu sagen wandte sie sich ab und ging mit dem Reisigbündel über den Schultern auf die Scheune des kleinen Weilers zu.

»Streckt sie nieder, Bruder. Sie ist mit dem Feind im Bunde und wird uns verraten, um die Scheibe in ihren Besitz zu bekommen.« Kendar kicherte höhnisch. Es ging Tywen durch Mark und Bein.

»Wir reiten weiter. Was auch immer sie gesehen hat, es spielt keine Rolle.«»Sie hat das zweite Gesicht, Tywen. Sie hat mich und die Scheibe wahrgenommen. Sie wird uns verraten«, beharrte der Prinz.

Tywen wusste nicht, wie ihm geschah. Er sprang vom Pferd und eilte der Alten hinterher. Noch ehe er sie erreicht hatte, wandte sie sich um und ließ überrascht das Reisigbündel auf den Boden fallen. Vollkommen wehrlos stand sie vor dem Ritter, dessen Hand nach dem Langschwert in der Rückenscheide griff.

»Tut, was edle Herren immer schon gemacht haben. Tötet uns, ohne Anklage ... grundlos.«Wie vom Blitz getroffen, hielt Tywen inne. Warum war er davon überzeugt gewesen die Alte niederstrecken zu müssen? Langsam wandte er sich ab und starrte mit vor Entsetzen geweiteten Augen zurück zu Kendar, der feixend im Sattel saß. Dehnte der Dämon seinen unheiligen Einfluss nun auch auf ihn aus?

»Verzeiht, Alte. Ich war nicht bei Sinnen.« Tywen steckte das halb gezogene Langschwert zurück in die Scheide. Gedemütigt und erschrocken über seine Absichten wollte der Ritter aus Dryadengrün zurück zu seinem Pferd schreiten.

Eine junge Magd, welche in einem Feld arbeitete, sah bestürzt auf. Sie packte ihre Sense und eilte zu der greisen Frau.

Er erreichte seinen Rotfuchs, der ihn anklagend anschnaubte. Es war so, als ob sein Pferd verstanden hätte, welch mörderische Absichten er fast in die Tat umgesetzt hätte.

»Wartet Ritter. Bitte!« Die Alte beruhigte die junge Magd, schickte sie zu einer kleinen Hütte, die etwas abseits des Hofs lag. Davor saß ein angeleinter Wolfshund und starrte sie gelangweilt an. Tywen wartete, mit sich hadernd, bis die junge Magd zurückkam und der Alten ein Säckchen in die Hand drückte.

»Ich werde euch und diese Kreatur dort nicht an Yenraven verraten. Ihr Kampf ist nicht der meinige. Sie schart auch nicht wie damals Hexen um sich, da sie einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat. Aber eurem Begleiter dürft ihr keinesfalls trauen.«

»Er ist mein Bruder.« Tywen zuckte hilflos mit den Achseln. »Was kann ich tun?«»Vielleicht ist es noch euer Bruder, tief da drinnen. Vielleicht hat die Kreatur ihn auch schon zur Gänze ins Dunkel gestoßen, ich kann es nicht sagen. Ich kann euch auch nicht helfen, ihn von dieser Kreatur zu befreien. Das übersteigt meine Möglichkeiten. Vielleicht könnt ihr es selbst tun.«

Tywen nickte grimmig. Die Alte deutete auf das Säckchen, welches federleicht in seiner Hand ruhte.

»Im Beutel sind Kräuter. Wenn ihr heute Abend lagert, zerstoßt sie, löst sie im Wasser auf und nehmt die Hälfte davon ein. Die Ingredienzien dämpfen den Einfluss dieser Kreatur. Die Nähe zum Dämon ist gefährlich und wird euch verderben, seid ihr ihr zu lange ausgesetzt.«

Der Ritter aus Dryadengrün zögerte. Er hatte eben noch versucht die alte Hexe zu töten und nun gab sie ihm einen Kräuterbeutel, der ihn beschützen sollte? Sein Misstrauen erwachte.

»Ihr könnt mir Glauben schenken oder nicht, Ritter. Aber ihr werdet eine Entscheidung fällen müssen. Verlasst euren Bruder, tötet ihn oder versucht jemanden zu finden, der ihn von der Kreatur befreien kann. Wenn nicht wird der Dämon euch mit ins Verderben stürzen.«

Tywen nickte ihr kurz zu, nahm seinen Fuchs an der Leine und kehrte zu Kendar zurück. Der Rappen seines Halbbruders tänzelte unruhig. Bislang war es ihm gar nicht aufgefallen, doch gewahrte er das ängstliche Beben der Flanken. Auch Kendars Pferd spürte die Veränderung ihres Reiters. Er gab ihm einen beruhigenden Klaps, ehe er sich in den Sattel seines Fuchses schwang.

Die alte Frau hatte Yenraven erwähnt. Das verwunderte Tywen nicht. Schon seitdem sie das Königreich betreten hatten, hörten sie unentwegt Bauern mit vorgehaltener Hand über eine neue Bluthexe sprechen. Die abergläubische Bevölkerung zog es tatsächlich in Erwägung, dass die Yenraven von damals zurückgekehrt war. Das war unmöglich, doch die Gerüchte sorgten für Aufruhr. Auch Dryadengrün würde nicht verschont bleiben. Ein Teil des Walds lag auf dessen Gebiet. Vor Jahrhunderten äscherte die Bluthexe gnadenlos Dörfer und Gehöfte in seiner Heimat ein. Die schrecklichen Taten hatten sich tief in das Bewusstsein der Bauern gebrannt.

In Gedanken an die Begegnung mit der greisen Hexe übersah der Ritter die Staubwolke, die sich aus Granitfurt in seine Richtung bewegte.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt