Unerwartete Wendung

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Cyriana blickte überrascht auf den blutigen Schädel des leblosen Basilisken. Ein Metallbolzen, ellenlang, hatte das Auge durchschlagen und ragte auf der anderen Kopfseite heraus.

Ein Meisterschuss. Der Schütze näherte sich ihr. Die Armbrust lässig über die rechte Schulter gelegt, schlenderte die Gestalt ihr entgegen. An einer Leine zog sie zwei Pferde hinter sich her.

Er war groß, fast so groß wie Torcaan, der Bürgermeister. Gekleidet war er wie ein Jäger, mit lederner Jacke, Hose und kniehohen Stiefeln. Am unteren Ende eines Kreuzgurts hing in einem speziellen Schaft eine Steinschlosspistole. Hinter der linken Schulter lugte der Griff eines mächtigen Langschwerts hervor. Ihr fiel auf, dass das dunkelbraune Leder an mehreren Stellen verstärkt und genietet war. Eindeutig eine hochwertige Lederrüstung. Robust, aber auch geschmeidig genug, den Träger nicht zu sehr einzuschränken.

Die Haut des Ankömmlings war etwas dunkler als die der Bewohner Granitfurts. Er stammte vermutlich aus dem Süden des westlich gelegenen Dryadengrün. Ein dichter, schwarzer Vollbart zierte das Gesicht, machte es damit schwer, das Alter des Mannes zu erraten.

Der Armbrustschütze blieb vor ihr stehen, beäugte sie ungeniert von oben bis unten. Ihr wurde bewusst, dass sie gerade aus dem Wasser gekommen war und klatschnass vor ihm stand.

Möglicherweise war somit also mehr zu sehen, als es ziemlich war. Sie reckte dem Ankömmling trotzig ihr Kinn entgegen.

»Genug gesehen?« Sie richtete ihre Bluse und zog die lederne Schürze, die sie bei der Arbeit im Kräutergarten stets trug, nach oben.

»In der Tat! Ihr seid Cyriana? Die Heilerin?«

Sie bestätigte mit einem knappen Kopfnicken.

»Erstaunlich, wie lange ihr unter Wasser bleiben konntet. Ich sah eure bemerkenswerte Flucht von dem Augenblick an, an dem ihr, wegen der zweiten Kreatur, einen Haken schlagen musstet. Verzeiht, dass ich nicht früher eingriff.«

Er schritt zum leblosen Reptil, bückte sich vor und riss mit seiner behandschuhten Hand den Metallbolzen aus dem Schädel. Nachdem er das Geschoss im Wasser des Weihers gereinigt hatte, schob er es in einen Halfter am Oberschenkel. Cyriana entdeckte dort noch ein paar andere Bolzen.

»Ich danke euch für die Rettung. Wie ist euer Name?« Cyriana ging mit keinem Wort darauf ein, dass sie fast eine halbe Stunde lang unter Wasser geblieben war. Dass der Armbrustschütze diese Zeit abgewartet hatte war ungewöhnlich. Die Gründe dafür kannte sie nicht, aber ohne ihn wäre sie nun nicht mehr am Leben.

»Tywen, Ritter Tywen aus Dryadengrün.«

Obwohl sie die Herkunft nicht überraschte, war Cyriana angespannt. Es war schon viele Jahre her, seitdem sie einem aus dem westlich gelegenen Reich begegnet war. Äußerlich blieb sie ruhig, schaffte es sogar, dem Ritter freundlich zuzunicken und verdrängte, was sie einst den Dryadengrüns angetan hatte.

»Ich benötige eure Hilfe, Heilerin. In Granitfurt sagte man mir, ihr wärt wie kaum eine Zweite in der Heilkunde bewandert. Mein Bruder ist schwer erkrankt, nicht wiederzuerkennen. Ich fürchte, er wird sterben, wenn ihr nicht das, was ihn von innen heraus zerfrisst, aufhaltet.«

Darum war er also geblieben. Sie war sich sicher, dass er nur darauf gewartet hatte, dass der Basilisk abzog, um in ihrer Hütte nach Arzneien zu suchen. Mit seinen Worten hatte er nun unbeabsichtigt tiefste Ängste erweckt. Sie musste sich Gewissheit verschaffen.

»Ihr seid ein Edelmann, Ritter Tywen. Ein ungewohnter Anblick hier in der Provinz. Seid ihr nicht allzu fern eurer Heimat? Was führt euch ins goldene Reich?«

»Oh, seid versichert, dass unsere Anliegen ehrbar sind. Wir sind auf der Durchreise zu einem Ort weit östlich von hier. Es gilt, verlorene Familienstücke zu finden und zusammenzufügen.«

Cyriana war erschüttert. Diese kryptischen Worte sagten ihr mehr, als der Mann aus dem westlichen Reich ahnte. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben und fast wäre sie zu Boden gesunken, hätte Tywen sie nicht reaktionsschnell gepackt.

»Nicht ohnmächtig werden, junge Frau. Ich brauche eure Hilfe.«

Sie stieß seine helfenden Hände zur Seite. »Ich muss zu meiner Hütte, mich umziehen. Fürderhin benötige ich meinen Kräuterbeutel. Geleitet mich und beschreibt mir genau, woran euer Bruder leidet.«

Beiläufig griff sie sich an den Hals und stutzte. »Oh nein. Sie sind weg ...«. Voller Panik blickte sie sich um. Bitte nicht im Teich ...

Sie lief den Weg ab, den sie auf der Flucht vor den Basilisken genommen hatte. In ihrem Rücken gewahrte sie den Armbrustschützen, der ihr nachfolgte und sich dabei umsah, ohne wohl zu wissen, nach was er suchen sollte.

Vor ihr im Gras blitzte etwas. Cyriana stürzte darauf zu und barg die beiden silbernen Kettchen, schloss sie in ihre Faust und drückte sie aufatmend gegen ihre Brust.

Tywen erreichte sie. »Ihr seid sonderbar, Cyriana. Ihr hattet weniger Angst vor dem Untier als davor euren Schmuck zu verlieren. Ich werde die Frauen nie verstehen.«

Sie würdigte ihn keines Blicks, hing sich hastig die beiden silbernen Anhänger um. Ihr rasender Pulsschlag beruhigte sich langsam. »Wir können alsdann aufbrechen, lasst mich noch trockene Kleidung und meine Kräutertasche holen.«

Auch wenn ich sie nicht brauchen werde, durchzuckte sie die Vorahnung.

Einige Minuten später hatte sich Cyriana einen beigefarbenen Leinenrock angezogen, sowie eine dunkelfarbene Bluse übergestreift. Zur Sicherheit packte sie neben dem Kräuterbeutel auch noch die Steinschlosspistole ein.

Tywen hatte ihr die Symptome beschrieben. Verwirrtheit, Wahn und ein vollkommen ungewohntes Verhalten waren für sich schon alarmierende Vorzeichen. Aber vor allem die rot leuchtenden Augen beunruhigten sie. Cyriana ahnte, nein, sie fürchtete, zu wissen, was hierfür der Grund war. Es passte. Wenn ihr Verdacht zutraf, dann waren die Ritter nicht nur tatsächlich auf der Suche, sondern unglücklicherweise auch erfolgreich gewesen.

Mein Kartenhaus fällt zusammen.

Als sie die Pferde erreichten, scheuten beide vor ihr zurück. Etwas irritiert trat Tywen vor und sprach beruhigend auf sein Reitpferd ein, einem Rappen, dem man das edle Geblüt ansah. Das Zweite, ein ins rötlich gehender Fuchs, trippelte ängstlich einige Schritte zurück.

»Das ist ungewöhnlich. Möglicherweise spüren sie diese Monsterreptilien ... oder ...« Er warf einen überraschten Blick auf die Kräuterkundige »... sie scheinen euch nicht zu mögen.«»Das bin ich gewohnt. Sie meiden meine Nähe. Ich bin ihnen wohl zu hässlich.« Sie hätte ihrem Retter noch einiges dazu erzählen können, behielt dies aber wohlweislich für sich. Pferde waren eben klüger als Menschen.

»Hässlich?«, sein Blick streifte sie. Ein Funkeln trat in seine Augen. Sie wandte sich abrupt ab. Das war genau das, was sie auf keinen Fall gebrauchen konnte. Beziehungen fußten auf Vertrauen, doch alles, was sie zu geben vermochte, war Schmerz und Einsamkeit.

Tywen hatte den Rappen inzwischen besänftigt und kümmerte sich nun um den Fuchs. Beruhigend sprach er auf ihn ein, führte ihn dabei behutsam näher an Cyriana heran. Dem Pferd gefiel das nicht, aber es vertraute dem Ritter aus Dryadengrün. Schließlich standen sich die Druidin und das Reittier Auge in Auge gegenüber, wobei sie nach oben blickte, da die Widerristhöhe über fünf Fuß betrug.

»Berührt ihn«, forderte Tywen sie auf. Cyriana legte zögerlich ihre Hand auf das Fell des Vollbluts. Bislang hatte es nur wenige Fälle gegeben, in denen ein Pferd sie akzeptiert hatte. Eine enge Freundschaft war daraus nie geworden. Bestenfalls wurde sie geduldet. Sie spürte, dass Tywen eine besondere Beziehung zu den beiden Pferden geknüpft hatte. Sie vertrauten ihm und billigten daher ihre Nähe. Der Fuchs erschauerte unter ihrer Berührung und wollte zurückweichen, doch Tywen sprach weiterhin besänftigend auf das Reittier ein. Es wurde etwas bedachter, blieb aber angespannt.

»Wir haben keine andere Wahl. Wenn wir schnell in die Stadt wollen, müssen wir reiten. Wie kommt ihr denn sonst in die Stadt?«

»Ich suche sie nur selten auf. Entweder nehme ich den Marsch auf mich, oder ich werde von einer Kutsche mitgenommen.«

»Nun denn, ich hoffe ihr könnt euch zumindest so lange am Sattel festhalten, bis wir angekommen sind.«

»Ist das da ein Sattel?«

Einen Moment lang war Tywen irritiert, grinste dann aber, als er in Cyrianas Augen den Schalk entdeckte. »Kaum einem Monster entronnen und schon zu Scherzen aufgelegt? Die meisten Frauen würden immer noch bibbernd vor Angst am Boden liegen.«

»Ihr kennt also nur Männer?«»Ihr seid sonderbar.«»Ich nehme das mal als ein Kompliment.«

Tywen richtete ihr den Steigbügel. Als der Fuchs bemerkte, dass Cyriana aufstieg, scheute er zurück. Es dauerte noch drei weitere Versuche, sowie einen Abwurf, ehe der Gaul widerstrebend seine neue Reiterin akzeptierte.

»Eigenartig«, hörte sie ihn leise murmeln. Sie schloss die Augen. Früher war sie sehr wohl geritten. Ihre Eltern hatten zwei Kaltblüter besessen, die ihr Vater zum Pflügen des Ackers genutzt hatte. Aber das war lange her. Seit dem Vorfall, der ihr Leben so sehr verändert hatte, mieden die Pferde sie. Dabei war sie Druidin. Niemand sonst verstand Tiere und Pflanzen besser als sie.

Das Reiten fiel ihr schwer. Die Abscheu und die Angst des Fuchses trafen ihr Innerstes, schmerzten. Die erste Wegstrecke verlief noch etwas unbeholfen. Doch es wurde zusehends besser, als sich der Vierbeiner mit dem unerwünschten Reiter mehr und mehr abfand. Tywen behielt sie die ganze Zeit über im Auge. Da sie aber ihre liebe Mühe hatte, nicht aus dem Sattel zu rutschen, verzichtete er auf ein Gespräch.

Sie erreichten einige Stunden später Granitfurt. Cyriana dachte an Zurolon und hoffte, dass Ogbert und Ogwina sicher in ihrem Zuhause angekommen waren. Der Ritter aus Dryadengrün hatte die drei wohl knapp verpasst. Jedenfalls hatte sie kein Interesse daran, ihn auf ihre Drachenschlange und die Kinder hinzuweisen. Es hätte nur zu weiteren Fragen geführt.

Der Begleiter Tywens war in einem kleineren, aber sehr gut gepflegten Gasthaus Granitfurts, der Graumühle, untergebracht. Nachdem Cyrianas Pferd erneut nervös zu tänzeln begann, hob der Ritter die Kräuterkundige einfach aus dem Sattel und stellte sie auf die Erde. Druidin und Fuchs atmeten gleichermaßen auf. Das Reittier wieherte befreit und wandte sich um, um ihr sein Hinterteil zu zeigen.

Im nur spärlich ausgeleuchteten Schankraum erwartete sie bereits ein großgewachsener, blonder Mann in bläulich schimmerndem Harnisch. Sie erhaschte einen Blick in erschreckend fanatische Augen. Als sie wie angewurzelt im Eingang stehen blieb, schob sie Tywen unnachgiebig in den Gastraum hinein.

Die Augen des Ordensritters lagen wie eine dunkle Drohung auf ihr. Sie schüttelte sich, erinnerte sich an alte Zeiten zurück, die sie längst verarbeitet zu haben glaubte. Nein, bei Raden-Sur, sie war kein Freund des Ordens ... und dieser hitzige Blick verhieß nichts Gutes. Sie schluckte und wich unwillkürlich einen Schritt zur Seite, damit Tywen an ihr vorbeikam.

»Wer seid denn ihr?«, stieß ihr Begleiter gepresst hervor und stellte sich schützend vor sie. In seiner Stimme lag so viel Verachtung und unterdrückte Wut, dass Cyriana den aufkeimenden Gedanken, die Dryadengrüns und der Orden hätten sich hier gemeinsam gegen sie verschworen, sofort verwarf.

Der junge Ordensritter stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte und nickte jemandem in ihrem Rücken zu. Die Tür, durch die sie die Schenke betreten hatten, schlug zu und knarzend rastete ein Riegel ein.

Auf der anderen Seite des Innenraums, im Halbschatten, gewahrte Cyriana noch weitere Gestalten in bläulichen Rüstungen. Die Ordensbrut trat niemals allein auf.

Da die Fenster durch schwere Vorhänge abgedunkelt waren, erleuchteten nur zwei schwach flackernde Petroleumlampen den Schankraum. Außer den Ordensleuten und einem sichtlich eingeschüchterten Wirt hinter einer mächtigen Theke, waren keine weiteren Gäste zugegen. Die fünf im Raum verteilten, kreisrunden Holztische waren allesamt unbesetzt.

»Schweigt, wenn der Orden spricht. Ihr seid wohl der Reisende aus Fels Karabatos ... und ihr ...«, die blauen Augen des Ordensritters richteten sich kalt und berechnend auf die Druidin, »seid die Kräuterkundige vom Waldrand. Ihr seid Cyriana.«

Der Druidin lief es kalt den Rücken hinab. Mit dem Orden wollte sie wirklich nichts zu tun haben, auch wenn sie, seit den Ereignissen um die Zwillinge, damit gerechnet hatte, dass er hier in Granitfurt auftauchen würde.

Tywen ignorierte die Männer im Schankraum und nickte dem Wirt freundlich zu, der sich hinter eine breite Eichentheke zurückgezogen hatte und die Szene mit ängstlichen Augen beobachtete. Wortlos schritt der Armbrustschütze hocherhobenen Haupts an dem jungen Ordensritter vorbei und setzte seinen Fuß auf den untersten Tritt der Treppe, die zu den oben gelegenen Zimmern führte.

»Wir haben den Wahnsinnigen, der euch begleitet, ruhiggestellt.«

Tywen blieb schlagartig auf der ersten Stufe stehen. »Ihr habt ihn ruhiggestellt? Wenn ihr ihm auch nur ein Haar gekrümmt habt, Ordensmann, dann habt ihr einen schweren Disput mit Dryadengrün.«

»Ich bin ein Ordensritter auf heiliger Mission. Mein Name ist Dairos von Ordon. Der Wissenswahrer Ignatus vom goldenen Turm wünscht euch, aber vor allem auch die Kräuterkundige zu sprechen ... und seid gewiss, ihr seid es, die keinen Streit haben wollt.« Cyrianas Blick wechselte zwischen Tywen und Dairos hin und her. Natürlich formulierte der Orden niemals Wünsche, zumindest keine, die einem eine Wahl ließen. Das lag nicht in seinem Selbstverständnis.

»Schön, Ritter Dairos. Er wird wohl enttäuscht sein.« Cyriana gesellte sich auf Tywens Wink hin auf dessen Seite. Der junge Ordensritter beobachtete das Geschehen scheinbar gelassen. Seine Augen sprachen aber eine andere Sprache.

»Ihr missversteht. Die Unterredung duldet keinen Aufschub, Dryadengrün. Euer Begleiter liegt, bewacht von zweien meiner Leute, gefesselt in seinem Bett. Leider ist er nicht ansprechbar. Aber ihr seid es wohl und werdet unserem Wissenswahrer Rede und Antwort stehen.«

»Werde ich?«

Tywen legte demonstrativ eine Hand auf die Steinschlosspistole am Gurt seiner Lederrüstung. Die Haltung des Ritters aus Dryadengrün drückte eine grimmige, fast schon körperlich spürbare Entschlossenheit aus. Der Schankwirt tauchte langsam hinter seiner Theke ab. Dairos kam unerschrocken auf den Edelmann zu. Mit einer Handbewegung scheuchte er seine Garde, die ihm folgen wollte, wieder zurück in das Halbdunkel des Schankraums.

»Wisst ihr überhaupt, wen ihr vor euch habt, Dairos von Ordon? Ich bin Tywen aus Dryadengrün. In der Kammer habt ihr keinen Geringeren als Prinz Kendar, dritten Sohn des Regenten gefesselt. Wenn der Orden nicht einen Krieg mit seinem westlichen Nachbarn riskieren will, dann lasst uns jetzt in Ruhe.«

Die Nachricht kam sichtlich überraschend für Dairos. Bis dahin hatte er geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben. Eine fahle Blässe zog über das Gesicht des jungen Ordensritters.Nachdem er sich seiner Optionen jedoch bewusst wurde, kehrte der fanatische Glanz in seine Augen zurück. Diese fünf Optionen standen gewappnet und gerüstet bereit, jederzeit auf seinen Wink hin zuzuschlagen.

Cyrianas Gedanken rasten. Es drohte die Eskalation. Dass der Begleiter Tywens von adeligem Geblüt war, war ihr von Anfang an bewusst gewesen. Sie tippte ihren Zeigefinger kurz auf Tywens linken Unterarm.

»Edler Ordensritter,« richtete sie sich zeitgleich an Dairos, »hat sich der Orden nicht dem Wohl der Menschen verschrieben, deren Schutz? Lasst uns daher zunächst nach dem Kranken sehen. Deshalb bin ich gekommen. Ich werde den Prinzen untersuchen und wir werden euch, sobald ich weiß, wie ich helfen kann, bereitwillig folgen. Der Wissenswahrer wird also noch Zeit genug haben, mit uns zu sprechen.«

Sie spürte, wie sich Tywen anspannte. Der Ritter aus Dryadengrün war alles andere als bereit sich zu fügen. Er fürchtete keineswegs eine bewaffnete Konfrontation, aber Cyriana hatte gelernt zu beobachten und die Lage war ernst. Mochte ihr Lebensretter auch mit gewöhnlichen Ordensgardisten klarkommen, so erkannte sie in Dairos den geborenen Kämpfer.

Im blonden Ordensritter mit den funkelnden, von einer verdrehten Lehre verblendeten Augen, nahm sie einen Hauch von Größe wahr. Sie war sich sicher, dass ihrer beider Schicksale, ob im Guten oder im Schlechten, miteinander verwoben waren.

»Eure klugen Worte strafen eurem, mir scheint gar, noch jungen Alter Lügen«, murmelte Dairos erstaunt. Ein verwirrtes Glitzern trat in seine Augen. Irgendetwas irritierte ihn.

Tywen beugte sich vor. Seine eisige Stimme wurde leise, blieb aber dennoch klar. »Was auch immer diese Gesellen von euch wollen. Heilerin, der Orden ist gefährlich. Und wenn dieser Ignatus tatsächlich vom goldenen Turm ist, dann wagen wir uns in wahrlich riskante Gewässer, sollten wir diesem jungen Fanatiker hier folgen.«

»Und weshalb wollen sie euch sprechen, edler Armbrustschütze aus Dryadengrün? Es geht hier nicht nur um mich. Aber es spielt letztlich auch keine Rolle, denn wenn ihr kein Blutbad anrichten wollt, dann sehe ich überraschenderweise im Dialog eine gute Chance für beidseitiges Wohlbefinden. Und ich kann dem Prinzen auch nicht helfen, wenn ich hier aufgespießt werde.«

Tywen kniff seine Lippen aufeinander und rang mit seiner inneren Wut. Aber Cyriana wusste, dass sie gewonnen hatte. Mit Worten hatte sie schon immer gut umgehen können. Missbrauchte man sie, säten sie Tod und Verderben.

»Ich weiß, Männer des Schwerts haben diese Lösung nicht so im Auge«, schob sie eilends hinterher. Tywens Anspannung löste sich.

»Ihr seid vorwitzig, Heilerin.« Der Armbrustschütze richtete sich auf und nahm seine Hand von der Steinschlosspistole. Augenblicklich entspannte sich die Szene im Schankraum. Auch Dairos schien mit seinen inneren Dämonen gerungen zu haben. Er entschied sich, ebenso wie Tywen, einen Kompromiss einzugehen. Das verschlossene Gesicht des Ordensritters lockerte sich etwas, der fanatische Glanz in den Augen erlosch.

»Wenn ihr beide mir im Anschluss freiwillig zum Wissenswahrer folgt, dann sehe ich das als einen guten Weg zur Erfüllung unser aller Interessen an. Der Orden ist groß, der Orden ist rein. In seinem Glanze wird die Wahrheit erstrahlen.«

Diese leeren Worte! Nur mühsam bekam Cyriana die aufschäumende Wut unter Kontrolle. Was wohl ihre Schwester dazu gesagt hätte? Schnell senkte sie den Blick, damit der Ordensritter nicht misstrauisch wurde.

Dairos wartete noch auf Tywens kurzes, bestätigendes Kopfnicken, eher er forsch an ihnen vorbei die Treppe hinaufstieg. »Wir wollten zunächst euren Begleiter befragen. Doch fiel er über uns her. Er hätte fast einen meiner Männer getötet, bis es uns gelang, ihn zu überwältigen.«»Ihr seid vermutlich mit Gewalt eingedrungen und Prinz Kendar griff zum Schwert, um sich zu verteidigen«, hielt Tywen Dairos mit wachsender Empörung entgegen. Sie erreichten den oberen Absatz. Der Ordensritter drehte sich um, schlug seine Faust auf die bläuliche Rüstung.

»Ich verstehe, wenn ihr das glaubt, Ritter Tywen. Aber bei der Reinheit und dem Glanz des Ordens, wir hatten vor unserem Eintreten geklopft. Der Prinz hat uns zunächst freundlich empfangen. Erst als wir ihn aufforderten, seine Waffen und alle anderen Gegenstände abzulegen, hat er uns angegriffen. Einen Gardisten hat er in die Hand gebissen, einen Zweiten mit einem Dolch verletzt. Wir entwaffneten ihn, ehe er größeren Schaden anrichtete. Danach gab ich Befehl ihn zu fesseln. Ich hätte ihn zu Ignatus gebracht, wenn es Sinn gemacht hätte. Aber euer Prinz war nicht kooperativ. Er gebärdete sich wie im Fieberwahn, weshalb ich beschloss, auf eure Rückkehr zu warten.«

Cyriana sah, wie aufgewühlt Tywen war, der dem Ordensritter jedes Wort abnahm. Sie hielt sich zurück, um nicht preiszugeben, wie wenig sie das Gehörte überraschte. An der Tür angekommen verhielt Dairos einen Moment. Der kalte Glanz verschwand aus den Augen und erstaunt nahm die Druidin den Anflug eines Gefühls wahr, welches sie niemals mit einem fanatischen Ordensritter verbunden hätte. Mitleid. Der blonde Ordensmann verblüffte sie.

Dairos klopfte zweimal, hielt inne und wiederholte das Klopfen. Ein schwerer Riegel wurde im Inneren zur Seite geschoben. Ein Gardist öffnete und ließ sie ein. Mit geübtem Blick musterte Cyriana die kleine Kammer. Für einen Prinzen und dessen adeligem Begleiter waren die Räumlichkeiten erstaunlich karg. Zwei schmale Betten standen an den Wänden. Dazwischen lag das einzige, zur Hälfte abgedunkelte Fenster.

Mit einem Wink bedeutete Dairos den beiden Wachen die Kammer zu verlassen. Es war ohnehin schon beengt genug.

»Bruder«, flüsterte Tywen gedämpft und lief zum Bett, in dem ein gefesselter Mann zusammengerollt, regungslos lag.

Cyriana hatte das leise Wort gehört und heftete es bei sich ab. Es würde noch genug Zeit geben, sich damit zu beschäftigen. Der Armbrustschütze hatte einige drängende Fragen zu beantworten.

Die Gestalt im Bett warf sich urplötzlich herum und biss nach Tywen. Der stolperte überrascht zurück, prallte gegen Dairos, der ihn aber sogleich abfing. Der gefesselte Prinz versuchte, ein zweites Mal nach dem Ritter aus Dryadengrün zu schnappen, doch die Fesseln hinderten ihn daran. Die Augen Kendars glühten feuerrot. Er war sichtlich nicht er selbst.

»Bei allen Göttern. Als ich ihn verließ, war er verwirrt, aber weitgehend bei Sinnen.«Die Augen des Prinzen hefteten sich an Cyriana und weiteten sich. Die Kräuterkundige erwiderte den Blick starr.

»Hübsche Frau«, quäkte die gefesselte Kreatur, während ihr dunkler Speichel aus dem Mund troff. Im Inneren des Mannes tobte ein wilder Kampf.

»Kennt ihr ihn?«, wollte Dairos von Cyriana wissen. Er hatte den Blick des Prinzen zu deuten versucht. Und tatsächlich hatte es im ersten Moment den Anschein gehabt, als wäre Kendar von ihrer Anwesenheit überrascht gewesen.

»Nein.« Tywen wies Dairos' Frage, ehe sie in der Lage war selbst zu antworten, zurück. Er umrundete nachdenklich seinen Bruder. Die Hände bluteten bereits an den Handgelenken und färbten die Fesseln rot. Ein Bein hatten die Ordensgardisten mit Stricken an das Bett gebunden, so dass der Prinz nicht in der Lage war aufzustehen. Doch selbst dort hatte er es geschafft, die lederne Hose aufzuwetzen.

Nach einem schier endlosen Augenblick, in dem Kendar weiterhin unentwegt die Kräuterkundige anstarrte, wandte sich Tywen an die Druidin. Sie sah das Flehen in dessen Augen und es brach ihr Herz, denn sie hatte keine Wahl. Sie musste den Prinzen aus Dryadengrün seinem Schicksal überlassen.

»Bitte Cyriana, bei allen Göttern, helft ihm.«

»Könnt ihr das überhaupt?« Dairos trat zwischen Kendar und die Druidin. Sie hob ihren Blick, schritt zum Fenster, schlug den Vorhang zurück und öffnete es. Die frische Luft tat gut und erleichterte das Nachdenken. Sie hasste sich bereits jetzt für das, was sie tun musste. Wann würde das jemals enden?

Dairos starrte sie aus zusammengekniffenen, argwöhnischen Augen heraus an. »Fällt euch nicht auf, wie euer Fürst Kendar diese Frau anstarrt? Ich halte es für möglich, dass sie mehr darüber weiß. Möglicherweise ist sie auch dafür verantwortlich. Nicht umsonst hält mein Ordensabt es für denkbar, dass sie in Wahrheit eine Hexe ist.«

Noch vor wenigen Augenblicken hatte Cyriana den Ordensritter fast schon sympathisch gefunden. Nun verflog dieses Gefühl jedoch schlagartig. Und es wurde ihr klar, welchen Weg der Orden einschlug. Sie suchen also wieder einen Schuldigen, dachte sie bitter, und wie so oft an der falschen Stelle.

Sie trat an Tywens Seite, wobei sie seinen fragenden Blick auf sich lasten spürte. Der Armbrustschütze aus dem Reich der Dryadengrüns war sichtlich irritiert.

Sie versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich werde ihm helfen. Er scheint einem Wahn verfallen zu sein. Ich kann ihn mit meinen Kräutern erst einmal besänftigen. Ihr müsst mich gewähren lassen.«Dairos' eisige, klare Stimme ertönte mahnend. »Sie spielt nur mit euch, Prinz Tywen. Vertraut ihr nicht.«

Nun, nachdem der Ordensritter Tywen als Prinz betitelte, wurde offenbar, dass auch er das Wort »Bruder« gehört hatte. Schlimmer war jedoch die Absicht des jungen Mannes, sie beide gegeneinander auszuspielen. Der stetig glimmende Hass auf den Orden flammte wieder auf. In der Tat spürte die Druidin, wie es in dem Armbrustschützen arbeitete. Die Saat des Misstrauens war gelegt, auch wenn seine Abneigung dem Orden gegenüber noch den Ausschlag gab.»Rettet ihn, Heilerin«, forderte Tywen sie unmissverständlich auf, mit der Bestimmtheit eines Adeligen, der mit einer Gemeinen sprach. Durch Cyriana ging ein Ruck. Sie durfte keine Zeit mehr verschwenden, musste sich vergewissern.

Mit der Hand deutete sie auf die Tür. »Ich möchte allein sein, während ich den Prinzen mit meinen Arzneien bestäube. Das gemahlene Kräuterpulver ist sehr fein, es wird die Kammer ausfüllen.«

Der Ordensritter lachte laut auf. »Ich werde euch sicherlich nicht mit dem Gefangenen alleinlassen. Warum sollte ich das tun?«

»Der Prinz ist von der schwarzen Gallerte befallen,« Cyriana erneuerte ihren Wink zur Tür. »Die Kräuter werden ihn nicht heilen, aber für fast zwei Tage betäuben. Zeit für mich, eine Heilung zu suchen. Jedem der das Pulver einatmet, droht ein mehrtägiges Delirium.«

»Euch etwa nicht?«, argwöhnte der blonde Ordensritter und verschränkte seine Oberarme.»In der Tat macht mir das nichts mehr aus, da ich daran gewöhnt bin. Aber verweilt einfach, Dairos von Ordon. Etwas Entspannung wird eurem aufgebrachten Gemüt guttun ... und wer weiß, vielleicht erscheint euch im Rausch Raden-Sur persönlich.«

Sie sahen sich sekundenlang feindselig in die Augen. Schließlich gab der Ordensritter nach und verließ deutlich verärgert die Kammer. Er traute ihr zwar nicht, wagte es aber nicht, im Raum zu verweilen.

»Braucht ihr Hilfe?« Tywen suchte an seinem Gürtel nach einem Tuch, um sich Nase und Mund abzudecken.

Cyriana schüttelte traurig den Kopf. Er konnte ihr nicht helfen. Diesen Weg musste sie allein beschreiten. Als er sich zum Gehen umdrehte, tippte sie ihm kurz auf die Schulter.

»Prinz Tywen! Was auch immer ihr in den nächsten Tagen über mich hören werdet. Glaubt es nicht. Ich bin euch und den Menschen hier verpflichtet, kein Feind. Bitte vertraut mir.«

Der Armbrustschütze ergriff ihre Hand und legte seine andere darüber. »Seid gewiss, Heilerin. Ich kenne den Orden und habe auch die Worte des jungen Ritters gehört. Er beschuldigt euch, eine Hexe zu sein. Das tun sie immer, wenn sie verzweifelt sind und sich keinen Rat mehr wissen.«

Kaum endete er, zog sie auch schon ihre Hand zurück und schob sie unter ihre Achsel. Tywen wollte noch etwas sagen, schüttelte dann jedoch nur seinen Kopf. »Enttäuscht mich nicht.«

Cyriana folgte ihm zur Tür und verschloss die Kammer mit dem Riegel. Sie war hierbei so vorsichtig wie möglich, damit niemand das Zuschnappen des Balkens hörte. Auf der anderen Seite der Tür entfernten sich die Schritte der beiden Ritter. Sie atmete tief ein, sammelte sich, denn die folgenden Augenblicke würden ihr schwer fallen.

Interessiert verfolgte Tywens Bruder jede ihrer Bewegungen. Sie sah zu ihm hinüber, entdeckte das gierige Funkeln in seinem Blick und wappnete sich innerlich auf das Kommende.

Die Kreatur sah zwar aus wie Kendar, aber der Prinz war fort. Möglicherweise war der dritte Sohn des Regenten für immer verloren. Cyriana wusste es nicht. Das Wesen, das den Prinzen jetzt beherrschte war ungemein bösartig und heimtückisch. Es würde sich am Lebensfunken Kendars solange laben, bis dieser erlosch und danach eine leere Hülle zurücklassen.

Sie seufzte leise, war sich bewusst, dass sie sich mehr und mehr in ein Gespinst aus Lügen und Verrat verstrickte. Doch den einen Pfad durfte sie niemals wieder beschreiten.

»Schwarze Gallerte?«, ätzte Kendar. Er stieß ein kurzes Gackern aus. »Habe ich noch nie gehört.« »Ich auch nicht«, gab Cyriana schulterzuckend zu und näherte sich furchtlos dem Bett, in dem die Kreatur lag.

Das gefesselte Wesen sah ihr erwartungsvoll entgegen. Sie blieb vor ihm stehen und starrte auf seine Brust. »Du weißt, was ich will. Zeig sie mir!«

Kendar grinste über beide Ohren und seine roten Augen blitzten auf. Fast hatte man den Eindruck, das Wesen war vergnügt. Es schwieg, legte die Hand aber besitzergreifend auf etwas, was sich vage unter der Weste abhob.

Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Ihre Beine gaben nach.

Bis ins Mark erschüttert setzte sie sich auf das Bett. Sie wusste, dass Kendar, der Dämon in ihm, ihr nichts antun würde. Er konnte es nicht.

»Herrin?«

Er konnte es nicht, weil sie ihn geschaffen hatte.

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt