Sie hasteten zur Kammer. Tanat war aufgeregt. Nach vielen Stunden des Wartens hatte ihnen ein verängstigter Ordensgardist berichtet, dass der Erzmagier den Schutzzauber gebannt hatte. Der Weg in den versiegelten Raum stand offen.
Als sie wieder in die tiefen Schächte hinabstiegen, wandte sich Tanat an die junge Assassine. »Nun Lady Aratica. Ihr wisst, dass des Königs Übereinkunft mit dem Großmeister unseres Ordens eindeutig festlegt, dass wir hier im Norden für Ordnung sorgen.«
Die Assassine ließ ihre eisigen Augen langsam und abschätzend über den Ordensabt wandern. Der Blick war Tanat zum Weidentor unangenehm. »Und? Habt ihr für Ordnung gesorgt?«
Tanat ließ sich nicht auf ihre Sticheleien ein. Er musste die Verhältnisse zurechtrücken. Die Anwesenheit der Krone war ein Affront und deren Absichten für den Orden schädlich. »Weiß der Großmeister des Ordens von eurer Mission?«
»Muss er das? Ihr seid schon etwas älter, Äbtlein. Vermutlich habt ihr vergessen, dass auch der Norden unter königlichem Diktat steht. Der Orden ist nur geduldet.«
Tanat erinnerte sich an Dairos, wie er ihn still die vier Richtlinien des Gleichmuts rezitieren sah. Nun war es an ihm, sich diese Sätze, die ihm als Ordensritter an einigen Punkten des Lebens durchaus geholfen, aber als Ordensabt jedoch nie gefehlt hatten, in Erinnerung zu rufen.
Er überging die Spitze. »Warum hat der König ausgerechnet euch geschickt, eine schlichte Mörderin?«, giftete er zurück.
Sie grinste fröhlich. »Nun, der König weiht mich nicht in seine Gedankengänge ein. Nehmt es also hin.«
Unsinn, ärgerte sich Tanat, die Assassine hatte zweifelsohne weitere Aufträge, für die ihr spezielles Talent von Nöten war. Sie würde es nicht freiwillig preisgeben.
Aratica überkletterte behände einen Geröllhaufen. Tanat hatte Mühe, ihr zu folgen. Nach einiger Zeit schmerzten Knie und Knöchel. Er ließ sich nichts anmerken.
Während sie den Gang hinabeilten, zermarterte er sich den Kopf. Es war denkbar und durchaus naheliegend, dass der König sie ausgewählt hatte, um eine wiederauferstandene Yenraven zu meucheln. Die Bluthexe war, wie es die Geschichte lehrte, in einer direkten Konfrontation kaum zu bezwingen.
Möglich war, dass sie danach ihn aus dem Weg räumte, um sicherzustellen, dass die Krone allein die Lorbeeren erntete. Jedenfalls nahm der König die Gefahr ernst.
»Dort vorne!«, rief der Ordensabt. Lichtschein näherte sich, als zwei Ordensritter mit Fackeln um die Ecke kamen. Sie beleuchteten das Geschehen vor der Kammer. Der Erzmagier saß erschöpft auf einem Stuhl und grinste selig.
Täuschte sich Tanat oder flog kurz der Schatten der Erleichterung über Araticas Gesicht? Hatte sie etwa etwas für diesen alten Tattergreis übrig? Ein Punkt, an dem er ansetzen konnte? Er furchte die Stirn und fragte sich, woher der Stuhl wohl gekommen sein mochte. Sein Blick fiel auf einen der Ordensgardisten, der daraufhin betreten zur Seite schaute. Hatte sein Mann seinen Wachposten verlassen?
Aratica stolzierte geradewegs zur Kammer. Als sie einen Gardisten passierte, schien sie kurz mit dem Gedanken zu spielen, diesen in den Raum zu stoßen. Doch dann riss sie einem der Ordensleute einfach die Fackel aus der Hand und schlenderte durch die offenstehende Tür. Tanat entging nicht, dass der Gardist erleichtert durchatmete.
Und sie blieb drin. Worigor hatte es also tatsächlich geschafft, und den Schutzzauber gebrochen. Tanat half dem greisen Mann von seinem Stuhl auf.
»Eindeutig Blutmagie, ehrwürdiger Ordensabt. Ich konnte es förmlich riechen. So einen mächtigen Bann habe ich nie zuvor erlebt.« Torkelnd erhob sich der alte Mann mit dem schlohweißen Bart und richtete sich würdevoll auf. »Aber für einen Erzmagier ist das kein Hindernis.«
»Natürlich nicht«, bestätigte Tanat süffisant. Worigor schien seine Spitze gar nicht mitzubekommen, denn er lächelte stolz. Der Ordensabt lehnte sich seufzend an die Wand. War eine Welt, in der Spott nicht mehr zündete, lebenswert?
»Und warum ist diese Scheißtruhe leer?«, scholl es aus dem Raum. Aratica hatte den Deckel aufgeschlagen und blickte verärgert auf ihn und den Erzmagier, als wären sie für das alles hier verantwortlich.
Sie hatte wohl auf ein Artefakt gehofft, durchzuckte es Tanat. Was wäre wohl gewesen, hätte sie eines gefunden? Er erinnerte sich an die Schriften Krotans und den Verweis auf einen mächtigen Gegenstand, welchen Yenraven einst gesucht hatte. Wollte der König diesen für sich sicherstellen?
Er folgte Aratica in die Kammer. Der Erzmagier stieß zu ihnen und hob die Hand. Sogleich erstrahlte der Raum taghell. Der Ordensabt gewahrte, dass sämtliche Runen von den Wänden getilgt waren. Nur schattenhafte Umrisse waren zurückgeblieben. Er warf einen Blick in die Truhe. Diese war bis auf ein beigefarbenes Samtkissen leer. Aber im Polster fand sich der Abdruck eines rundlichen, handtellergroßen Gegenstands.
»Wenn der Schutzzauber so mächtig war, Magierlein, dann erklärt mir, wie hier etwas abhanden gehen konnte. Denn eines ist doch klar, der Bann sollte das schützen, was hier aufbewahrt wurde. Schutzzauber da, Artefakt weg! Komisch, oder?«
Tanat gab der Nichte des Königs hierbei durchaus recht. Ein weiteres Rätsel also. Wutentbrannt schlug Aratica den Deckel zu. »Dann müssen wir wohl schwerere Geschütze auffahren.« Sie holte unter ihrer Bluse ein goldfarbenes Medaillon hervor. Worigor bekam große Augen, als er das magische Utensil, welches zwei ineinander verschlungene Drachen zeigte, erkannte. Auch Tanat war das »Drachenmedaillon des Äons« wohlbekannt.
Er unterdrückte seine aufkeimende Wut. Dieses Artefakt war einst vom Orden sichergestellt und dem König mit der Bedingung überstellt worden, dass dessen Magier dieses mächtige, magische Schmuckstück vernichteten.
Und nun tauchte es am Hals einer jungen, magieunkundigen Frau auf, die augenscheinlich verrückt war. Gerade deshalb musste es unter Verschluss gehalten werden.
»Wisst ihr, wie man damit umgeht, Magierlein?« In Araticas Augen loderte eine irre Glut, welche Tanat frösteln ließ.
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Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe (Band 1)
FantasíaBand 1: Vor hunderten von Jahren hat einst eine Bluthexe Tod und Zerstörung über die Dörfer am Schattenwald gebracht. Erst durch das Einschreiten des mächtigen Ordens, angeführt vom legendären Gorald von den tiefen Auen, konnte die Gefahr gebannt we...