Barut-al-Zavid

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Als Cyriana mit Aratica den großen Saal betrat, fielen ihre Augen zuerst auf einen kreisrunden Tisch inmitten des Raums. Der Tisch bestand zum großen Teil aus edlem, weißem Marmor. In die Oberfläche war, unschwer erkennbar, eine überdimensionierte Abbildung der Sonnenscheibe eingraviert.

Turad-el-Zor und die Jünger, die sie eskortierten, blieben am Eingang des Saals zurück. Eine Gestalt trat zwischen zwei Torbögen hervor.

»Setzt euch, seid meine Gäste.«

Cyriana musterte den Mann in der sonnengelben Robe und dem kreisrunden, loorbeerartigen Kranz aus gelbem Metall, welcher einen haarlosen Kopf umschloss.

Nein, das war nicht Barut-al-Zavid. Zumindest nicht der, den sie kannte.

»Ihr wirkt erstaunt. Darf ich daraus schließen, dass ihr jemand anderen erwartet habt?«Eine kleine Drachenschlange begleitete den Hohen Meister. Zuerst dachte Cyriana, es wäre Zurolon, doch ihr wurde sogleich der Irrtum bewusst, als sich eine weitere, wohlbekannte Drachenschlange an ihrem Bein rieb.

Ihr kleiner Freund warf ihr einen freudigen Blick zu. Erstaunt kniff sie die Augen zusammen. Die Drachenschlange neben dem Hohen Meister schien in demselben Alter wie Zurolon zu sein. Sie erinnerte sich zurück an den Tag, als der Moab ihr ihren Welpen an der Türschwelle abgelegt hatte. Hatte sie ein zweites Junges gehabt, welches sie dem Hohen Meister gebracht hatte? Es sah danach aus.

Barut-al-Zavid lächelte. Es war ein offenes, ehrliches Lächeln, von dem sie sich keinen Moment lang vereinnahmen ließ. Nichts war gefährlicher als ein mächtiger Mann mit freundlichen Gesten.

»Ihr habt es eurer Drachenschlange zu verdanken, dass meine Jünger euch in die Kraterschmiede einließen. Sie waren sehr erstaunt, als sie dieses Geschöpf bei euch sahen. Darüber hinaus seid ihr auf dem Moab gekommen.«

Aratica angelte mit der Fußspitze einen Stuhl und ließ sich darauf fallen. »Habt ihr auch Wein?«, wollte sie wissen. »Und mundet er?«

Der Hohe Meister gab ein Zeichen. Aus dem Schatten traten einige Bedienstete und brachten vollgefüllte Weinkelche und zwei Schalen voller Früchte, stellten sie auf dem Tisch ab.

Kaum hatte sie sich neben Aratica gesetzt, als das kahlköpfige Oberhaupt der Jünger Raden-Surs eine Klingel ergriff und diese kurz schüttelte. Wenig später wurden zwei in Ketten gefesselte Männer in den Raum gestoßen. Es waren die beiden Ritter aus Dryadengrün.

Als Tywen Cyriana sah, brüllte er wütend auf und stürzte auf sie zu. »Hexe«, schrie er noch, ehe ihn zwei Wächter zu Boden rissen und sein Gesicht fest auf die Marmorplatten drückten. Vollkommen unaufgeregt gab Barut-al-Zavid ein Zeichen. Die Wachen ließen von Tywen ab.»Ich denke, wir stellen uns alle mal kurz vor. Mein Name ist Barut-al-Zavid der Fünfte. Ich bin der Herr der Kraterschmiede und Hoher Meister der Jünger Raden-Surs.«

Cyriana sah sich um. Sie war sich unsicher, was sie preisgeben konnte und was nicht. Die Situation war unübersichtlich. Automatisch ergriff sie die Halsketten und drückte sie. Die beiden eingefassten Halbedelsteine berührten sich. Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit überflutete sie.

»Nennt mich Aratica, die Trinkfreudige.« Die Nichte des Königs leerte ihren eigenen Kelch mit wenigen Schlucken. Cyriana schob mit dem Handrücken ihren Becher zur Assassine. Sie musste ihre Sinne beisammenhalten.

»Sie ist die Hexe Cyriana aus Granitfurt.« Tywen spuckte ihren Namen verächtlich aus. »Und sie hat meinen Bruder verflucht.«

Barut-al-Zavid nippte nachdenklich an seinem Weinkelch. »Cyriana?«, wiederholte er zweifelnd. »So, so.« Sein Blick ruhte wissend auf ihr.

Cyriana schluckte und sah zur Seite. Barut-al-Zavid schien durch sie hindurchzuschauen. Ihm entging nichts und er wusste, dass dies nicht ihr wahrer Name war.

»Kendar, Prinz aus Dryadengrün«, stellte sich Tywens Begleiter vor, der ruhig im Raum stand. Cyriana warf ihm einen erstaunten Blick zu. Der junge Mann wirkte nicht so, als stünde er unter einem dämonischen Bann. Er sah zwar nicht gut aus, fahles Gesicht, Augenringe, leicht schleppender Gang, schien aber Herr seiner Sinne zu sein. »Und das hier ist mein Halbbruder Tywen.«

In den Augen des Armbrustschützen glitzerte es rötlich. Sie erschrak, als ein schrecklicher Verdacht Gestalt annahm. Damit hatte sie nicht gerechnet und es vertiefte ihre Schuld. Sie sah beschämt zur Seite, entdeckte eine bräunliche Schote im Früchtekorb, nahm sie gedankenverloren und knackte sie. Kleine, gelbe Beeren kullerten heraus. Sie pickte sie auf. Einen derartigen Leckerbissen hatte sie schon lange nicht mehr gegessen. Einem Impuls folgend trat sie Aratica die Hälfte ihrer Beeren ab.

»Ja, mein Name ist Cyriana! Ich stamme tatsächlich aus Granitfurt. Ich bin Druidin, Heilerin und Kräuterkundige.«

Barut-al-Zavid umrundete langsam den Tisch. Dabei trommelten seine Hände auf den Marmor. Klack, klack, klack.

Er erreichte sie. Sein Gesicht wandte sich ihr unverblümt zu. Fast berührten sich ihre Nasenspitzen. »Oh nein, ihr seid viel mehr. Und euer Auftauchen kündigt von schweren Zeiten.«Er vollendete seine Umrundung. Dabei tippte er kurz auf Araticas leeren Weinkelch, der prompt durch eine gelbgewandete Gestalt gefüllt wurde.

»Ihr seid mit einer großen Drachenschlange, einem mythischen Moab gekommen. Dieser liegt tot am Hang. Es sieht so aus, als hätte er noch versucht euch zu beschützen.«Cyriana schluckte und sie spürte, wie ein Träne ihre Wange hinablief. Zurolon versuchte ihr Trost zu spenden, indem er sich noch näher an ihre Beine presste. Er wusste, was ihr der Moab bedeutet hatte.

»Und sein Sprössling hat euch sogar begleitet.«

Die kleine Drachenschlange an der Seite des Hohen Meisters spurtete wie auf ein geheimes Kommando zu ihr und schnüffelte. »Ich bin Tirokee«, stellte sie sich vor.

»Zurolon«, antwortete ihr kleiner Freund sofort. Täuschte sich Cyriana oder wirkte die kleine Drachenschlange tatsächlich verunsichert? Zurolons Augen hefteten sich auf die Artgenossin, verfolgten, wie diese geschmeidig unterhalb des Tisches zu ihrem Herrn zurückkehrte. Hatte sie dabei nicht sogar keck mit dem Schwanz gezuckt?

»Und ich bin wohl die Zugabe«, vollendete die Assassine und setzte noch hinzu, »Aratica, die keine Ahnung hat, was hier los ist.«

Der Hohe Meister ging nicht auf die Nichte des Königs ein. Fasziniert betrachtete er seine Gäste. »Am Hang stehen eine Bluthexe und ein Feuerelementar. Ihr wart also auf der Flucht vor ihnen.«Als er keine Antwort bekam, begann Barut-al-Zavid erneut eine Runde um den Tisch. Diesmal blieb er in Cyrianas Rücken stehen. Sie versuchte ihn zu ignorieren, griff erneut in den Früchtekorb, fand eine kleine, unscheinbare Knolle und biss von ihr ab.

»Ihr habt ein gutes Auge für die wahrhaften Schätze des Walds ... und ihr seid verletzt«, stellte er fest.

Aratica schnaubte verstimmt. Obwohl die Verletzungen der Assassine viel tiefer waren, nahm der Hohe Meister nur von ihr Notiz. Cyriana verwunderte dies nicht. Wenn dieser Barut-al-Zavid die Erinnerungen seines Vorgängers hatte, dann wusste er, wer sie war.

Sie schloss die Augen. »Was ist mit der Bluthexe und dem Feuerelementar? Wir sind hier nicht sicher.«

Barut-al-Zavid winkte ab. »Wir haben Zeit.«

Er sah zu Turad-el-Zor. Der junge Mann nickte geflissentlich und trat nach vorne. »Sie haben mehrfach versucht, den Blütenteppich zu überwinden, sind aber immer gescheitert. Es droht keine Gefahr.«

Der hohe Meister legte den Dolch, der Aratica gehörte, auf den Tisch. Es war eine wunderschön gearbeitete Waffe mit einer gelblich schimmernden Metallklinge. Im konkaven Griff waren einige machtvolle Insignien eingeritzt. Ob Aratica wusste, dass dieser Dolch gegen Magie gefeit war? Cyriana hatte schon viele ähnliche Klingen, wenngleich weniger machtvoll, gesehen. Es waren Waffen des Ordens, die bei der Weihe eines Ritters verliehen wurden. Außerhalb des Ordens waren sie selten anzutreffen.

»Ein Dolch, aus Raden-Surs Meteoritengestein geschmiedet. Eine hochedle Waffe, Lady Aratica.« Der Hohe Meister ergriff den Dolch und prüfte, wie er in der Hand lag. »Wir ihr wohl ahnt, hier in der Schmiede gefertigt.«

Die junge, knabenhafte Assassine streckte ihren Arm aus. »Habt Dank. Kann ich ihn wiederhaben? Ist fast ein Erbstück ...«

Über die Züge des kahlköpfigen Mannes huschte ein kurzes Lächeln. »Ich bewundere eure Dreistigkeit, Lady Aratica. Es ist erfrischend, euch hier zu haben.« Überraschenderweise schob er ihn über den Tisch der Nichte des Königs zu. »Wir sind keine Diebe.«

Aratica ließ sich ihr Erstaunen nicht anmerken. Sie nahm den Dolch auf und steckte ihn in einen der Schäfte an ihrem Oberschenkel. Dabei wurde sie von dem Hohen Meister fasziniert beobachtet. »Ich vermute, Lady Aratica, dass es für mich besser wäre, euch nie wiederzusehen.«Die junge, knabenhaft wirkende Frau, setzte eine Unschuldsmiene auf, klimperte aber dann doch kurz mit ihren Augen. »Ihr habt Recht, mit uns, das wird nichts.«

»In der Tat, Lady Aratica vom goldenen Turm. Auch wenn ihr euch möglicherweise nicht mehr daran erinnert, so war ich doch erst vor wenigen Jahren in der Reichsstadt bei eurem Onkel in der Kaiserfeste. Ich habe euch da gesehen. Wir sind uns aber nicht vorgestellt worden.«Nun war jedem in dem Saal klar, dass Aratica aus der königlichen Familie stammte. Der Hohe Meister winkte seinen Männern zu. Diese schoben Kendar und Tywen an den Tisch und zwangen die Brüder, sich zu setzen. Dabei waren sie vernünftig genug, die beiden Dryadengrüns auf Araticas Seite zu platzieren.

Cyriana sah zum Armbrustschützen. Er bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. Wenn er vom Dämon besessen war, so würde er ihr nichts antun können. Aber diese Kreaturen waren verschlagen. Sie musste auf der Hut sein.

»Kommen wir zu euch, Ritter aus Dryadengrün. Wie ihr verstehen werdet, bin ich nicht unbedingt ein Freund eures Reichs. Wir haben eine wohl etwas schwierigere Vergangenheit.«Während Tywen vorsichtshalber schwieg, übernahm Kendar das Wort.

»Die Fehde zwischen den Dryadengrüns und den Jüngern Raden-Surs ist vor Jahrhunderten geführt worden. Wir haben nun gemeinsame Interessen.«»So, so«, murmelte der Hohe Meister amüsiert, »haben wir die? Ich meine, gemeinsame Interessen.«

Er deutete auf die Brust Tywens. Cyriana schalt sich einen Narren. Natürlich. Tywen trug nun die Sonnenscheibe Raden-Surs. Wieso hatte sie darauf nicht geachtet. Kendar wirkte ruhig und ausgeglichen, während der Armbrustschütze aus Dryadengrün nicht mehr zu erkennen war. Der Dämon musste auf dem Ritt der Brüder zur Kraterschmiede auf Tywen übergewechselt sein. Den Argwohn, den Tywen gegenüber Cyriana hegte, hatte der Dämon für sich genutzt. Der junge Prinz hatte ihre Armschienen gesehen, welche im Reiche Dryadengrüns genutzt wurden, um Hexen ihrer Mächte zu berauben. Vermutlich nahm er an, die Bänder wären ihr angelegt worden, weil sie eines Verbrechens beschuldigt und angeklagt worden war. Dass sie die Armschienen freiwillig trug, hatte Tywen sicherlich nicht auf seiner Rechnung.

Der Dämon, der selbst nicht in der Lage war, gegen seine Herrin vorzugehen, verstärkte seine Emotionen, schürte den Argwohn bis zum Hass. Cyriana machte sich bewusst, dass die dunkle Kreatur wohl hoffte, sie so loszuwerden.

»Ich danke euch auch, dass ihr meinem Bruder die Scheibe nicht abgenommen habt«, führte Kendar weiter aus.

Barut-al-Zavid winkte ab. »Ich muss gestehen, Prinz Kendar, das tat ich auch aus Eigeninteresse. Wir haben sehr wohl gespürt, dass die Sonnenscheibe sich verändert hat.«

Er sah sie an, als würde er die Wahrheit kennen. Tywen legte seine Hand besitzergreifend auf das Artefakt. »Sie gehört mir«, knurrte er und starrte dabei unentwegt auf sie.

Cyriana spürte, wie es in dem jungen Mann brodelte. Sie konnte nicht einschätzen, welche Gefühle der Armbrustschütze und welche der Dämon hatte. Tywens Feindseligkeit richtete sich gegen sie, wohingegen die dunkle Kreatur darauf achtete ihren Vertrag mit ihr einzuhalten. Er musste Raden-Surs Artefakt beschützen.

Sie beschloss offen zu sein. Es blieb ihr auch nicht viel übrig. »Um es kurz zu sagen, Hoher Meister Barut-al-Zavid, ich habe bereits vor langer Zeit die Sonnenscheibe mit einem Fluch belegt.«

»Hexe«, brach es aus Tywen hervor und auch Aratica musterte Cyriana mit hochgezogener Augenbraue. »Wie unerwartet«, murmelte sie.

»Erklärt euch, werte Druidin ... Cyriana.« Erneut betonte der Hohe Meister ihren Namen auf eine besondere Art und Weise. Wollte er ihr damit verdeutlichen, dass er längst wusste, wer sie war? Der Barut-al-Zavid aus dem Hexenkrieg vor 800 Jahren kannte ihr Geheimnis, doch dieser hier trug zwar denselben Namen, war aber ein anderer. Aber auch er schien Bescheid zu wissen.Einer Eingebung folgend richtete sie ihren Blick auf den Hohen Meister und sah ihn auffordernd an. »Quid pro Quo«, forderte sie und erkannte bestürzt, dass dies auch bedeuten konnte, dass sie ihr Geheimnis preisgeben musste.

»Erstaunlich, Cyriana aus Granitfurt, dass ihr dies verlangt. Aber ihr sollt es haben. Beginnt mit eurer Geschichte.«

»Ich kenne die Zusammenhänge, die damals zum Hexenkrieg geführt haben ...« Sie warf einen Blick in die Runde. Kendar und Aratica starrten sie gebannt an, Tywen feindselig. Aber der Hohe Meister ... wissend.

»... und kenne auch die Bedeutung der Sonnenscheibe Raden-Surs für das Blutritual.«Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Cyriana atmete hörbar aus. Es war Zeit, alles zu erzählen. Vielleicht, sie ruderte in Gedanken zurück, aber doch nicht die ganze Wahrheit.

»Das Blutritual besteht aus drei wesentlichen Elementen, der Lebenskraft Hunderter lebender Menschen, einer Bluthexe und der Sonnenscheibe. Während es beliebige Menschen sein können und es auch immer wieder zur Bluthexe geeignete Hexen gibt, ist die Sonnenscheibe unverzichtbar. Nichts kann diese ersetzen, denn in ihr schwelt ein göttlicher Funken.«Cyriana machte eine Geste, die alles um sie herum einschloss.

»Die Kraterschmiede hier entstand durch den Aufprall eines Meteoriten, in dem die Essenz Raden-Surs steckte. Vor dem Aufprall ...«

Der Hohe Meister schüttelte fast unmerklich den Kopf. Barut-al-Zavid kannte also auch diese Wahrheit. Cyriana verstand ihn. Sie beschloss, diesen Teil der Geschichte auszusparen. Es würde einen besseren Zeitpunkt geben.

»... nun, kürzen wir es ab. Nicht nur hier in der Kraterschmiede fiel ein Meteorit aus dem Himmel, nein, auch im heutigen Schattenwald. Das gefallene Wesen nennt sich Halikarnosa und ist in den Überresten des damaligen Meteoriten, dem Hexenstein gefangen.«

Sie schwieg kurz und sah in die Runde. Der Hohe Meister kannte die Wahrheit, dessen war sie sich sicher. Aratica und Kendar lauschten interessiert, während ihr aus Tywens Augen Abscheu entgegenschlug. Sie fuhr fort.

»Halikarnosas Ziel war es immer, wieder zur Gottheit zu werden. Um dies zu bewerkstelligen, benötigt sie einen Körper, den sie in Besitz nehmen kann. Dieser Körper muss aber für die gefallene Göttin geeignet sein. Sie benötigt als Gefäß also einen Menschen mit einem ungeheueren magischen Potential.«

Aratica verstand. »Also eine Bluthexe?«

»Ja und Nein. Das Gefäß könnte auch ein machtvoller Erzmagier sein, aber da der Blutritus nur von einer Bluthexe gesprochen werden kann, bietet es sich an, gleich diese selbst zu nutzen. Mit der neuen Yenraven hat die Göttin im Hexenstein so jemanden gefunden, eine unglaublich mächtige Elementarhexe.«

»Elementarhexe? Keine Bluthexe?« Kendar musste nachhaken.»Niemand wird von Geburt an zur Bluthexe und nur sehr wenige Hexen können zu einer werden. Die Moderbeere sucht unentwegt nach diesen. Wer den Keim zur Bluthexe in sich trägt und die Früchte dieser Pflanze verspeist, wird zu einer. So hat Halikarnosa Yenraven gefunden. Sie soll ihr Gefäß werden.«

»Das wird ihr nicht gefallen«, meldete sich Aratica zu Wort.»Halikarnosa spielt mit ihr. Sie verspricht ihr, dass sie es ist, die zur Gottheit aufsteigt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Yenravens Geist wird beim Blutritus ausgelöscht. Halikarnosa wird in ihre ausgebrannte Hülle fahren.«

»Und die Menschenopfer?«, insistierte Kendar trocken.»Der Blutritus ist dunkelste Magie. Sobald er gesprochen wird, wird er allen Wesen weit und breit das Leben aussaugen. Stellt euch den Zauber wie ein Lagerfeuer vor, das entzündet werden muss. Die Lebensenergie der Verschleppten dient nur dazu, dieses Feuer zu entfachen. Ist es entfacht, brennt es alles nieder.«

Barut-al-Zavid hob die Hand. Cyriana schwieg und überlies dem Hohen Meister die weiteren Ausführungen.

»Vor 800 Jahren entführte die von Yenraven angeführte Hexenschar unzählige Menschen in den Schattenwald. Sie sollten für das Ritual geopfert werden. Doch es kam nicht mehr dazu.«

Der Hohe Meister erhob sich. Eindrücklich sah er Kendar und Aratica in die Augen. Er senkte seine Stimme. »Heute droht erneut der Blutritus. Keiner kann sagen, wann Halikarnosa gesättigt ist. Es kann sein, dass nur die Gebiete rund um den Schattenwald betroffen sind. Möglich wäre aber auch, dass ihre Magie über alle Reiche wirkt. Nicht nur das goldene Reich, nein auch Dryadengrün oder sogar die Turmländer oder die südlichen Lande stünden unter dem Ritus.«»Ich verstehe das mit der Scheibe noch nicht. Warum ist sie so wichtig?«, erkundigte sich Aratica. Ihrer Stimme fehlte der Schalk. Cyriana spürte ihren stechenden Blick auf sich lasten.»Halikarnosa fehlt zur Göttlichkeit ein Stück Göttlichkeit. In der Scheibe Raden-Surs hat sie dieses fehlende Element gefunden.«

Cyriana deutete auf das Artefakt, das um Tywens Hals hing. »Ich habe stets versucht zu verhindern, dass jemals wieder jemand in den Besitz der Sonnenscheibe gelangt.«

Einen Moment herrschte Stille, dann begann es in Aratica zu arbeiten. Es war ihr förmlich anzusehen, wie sich ein Rädchen nach dem anderen zusammenfügte.

»Ihr wart es, die die Sonnenscheibe vor Jahrhunderten im Fels Karabatos, getarnt als weiße Ordensritterin versteckt habt?«, hakte sie nach. Cyriana nickte.

»Und ich habe sie auch verflucht.«Aratica zog ihre Stirn kraus. »Welchen Sinn hat das?«

»Wenn die Sonnenscheibe keinen Träger hat, dann schweigt sie nicht. Sie ruft in die Welt ... und kann gehört werden. Ich habe den Dämon in die Scheibe gebannt, damit er stets dafür sorgt, dass sie immerzu getragen wird ... und dass dieser Träger rastlos die Welt durchstreift.«Kendar hatte andächtig zugehört. »Mir stellt sich eine andere Frage.«

Er wartete kurz, bis sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

»Wenn ihr so alt seid, Cyriana, wart ihr dann damals auch im Hexenwald, als der Blutritus gesprochen wurde?«

Sie spürte die Blicke aller schwer auf sich ruhen. Es war nicht leicht für sie, die Wahrheit einzugestehen, überhaupt darüber zu sprechen. Von Zurolon abgesehen hatte sie, über die vielen Jahrhunderte hinweg, nie über ihre Geschichte gesprochen. Jetzt im Angesicht dessen, dass sich Vergangenes wiederholte, musste sie ihr Schweigen brechen. Mit all seinen Konsequenzen.

Sie nickte fast unmerklich. »Ich war da.«

Vor ihren Augen entstand das Gesicht ihrer Schwester. Sie sah sie anklagend an. Schreie, Schwertergeklirr ... das Lachen einer wahnsinnigen Göttin ... und dann der Schwertstreich, der alles änderte.

»Sie war nicht allein dort. Ich war auch im Hexenwald«, eröffnete Barut-al-Zavid seinen Gästen. »Und wahrscheinlich sind wir beide die Einzigen, die von dort lebend entkamen.«Eine gelbe Kugel rollte über den Tisch.

»... und ich habe das fehlende Teil der Scheibe.«

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt