Ballon

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»Was ist das?« Logard starrte auf das gewaltige ballförmige Objekt, welches sich majestätisch über den Kraterrand in den blauen Himmel schob. Die vom Hexenstein zurückgekehrte Yenraven wandte den Blick. Vor Verblüffung machte sie einen Schritt rückwärts und wäre fast über eine Wurzel gestolpert.

Es war eine gewaltige, dottergelbe Kugel, die der Schwerkraft trotzend Fuß um Fuß Höhe gewann. Am unteren Ende hing ein Gestell aus Holz und Bast. Yenraven glaubte, Menschen darin zu erkennen.

»Es fliegt!«

»Es ist ein Ballon, meine Tochter. Sie wollen die Sonnenscheibe Raden-Surs aus der Kraterschmiede an einen anderen Ort bringen. Das dürfen wir nicht zulassen«.

Logard gab einigen Krähen den Auftrag, aufzusteigen, um sich das Gefährt anzusehen. Durch die Augen der Vögel gewahrte er am unteren Ende des Ballons einen großen Korb aus Bast, in dem mehrere Menschen herumeilten. Einige hielten Bögen und deuteten auf die Krähen.

Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihn, als einer seiner Späher auch schon, von einem Pfeil durchbohrt, in die Tiefe stürzte.

»Wir können sie nicht aufhalten«, fluchte Logard. Er wusste, wie schwierig und langwierig es werden würde, noch an die Sonnenscheibe zu gelangen, würde sie den Schattenwald erst einmal verlassen.

»Halte sie auf, Tochter, sie stehlen dir dein Erbe.«

Yenraven setzte sich auf den Boden. Ihr standen Kräfte zur Verfügung, die viele nicht einmal in ihren kühnsten Träumen zu besitzen hofften.

Aber druidische Fähigkeiten wären hier wertvoller gewesen, da die Winde ihr nicht annähernd so gehorchten, wie einer Druidin oder einer starken Naturhexe.

Gerne hätte sie einen Sturm entfacht, um den Ballon tief ins Innere des Schattenwalds zu treiben. Aber auch so war sie nicht hilflos. Entschlossen streckte sie ihre Hand dem Ballon entgegen. Eine unsichtbare Stoßfront traf den Ballon, trieb ihn aber nur noch weiter auf die Waldgrenze zu. Yenraven hob ihre Hände, warf gleißende Blitze nach dem Ballon.

Durch die scharfen Augen der Krähen konnte Logard beobachten, wie sich in dem riesigen Korb unterhalb des gewaltigen Ballons einige Gestalten über den Rand beugten. Sie trugen gelbliche Schilde.

Die Blitze wurde auf die Schilde umgelenkt und brachen.

Ein furchtbarer, enttäuschter Schrei erklang in seinem und Yenravens Geist. Halikarnosa war wütend.

Mit vor Zorn verzerrtem Gesicht, ballte Yenraven ihre Hände zu Fäusten, konzentrierte sich. Zweige knackten, brachen. Felsbrocken hoben vom Boden an. Mit einer einzigen Handbewegung schleuderte die Bluthexe die Äste wie Speere, die Felsbrocken wie Projektile in den Himmel.

Eine Frauengestalt im Hängekorb breitete ihre Hände aus. Ein kleiner Sturm fegte heran, brachte viele der Geschosse aus ihrer Bahn.

Andere trafen den Korb oder schlugen in den Ballon ein. Eine Gestalt im Korb wurde getroffen, verlor sein Gleichgewicht und fiel schreiend in die Tiefe.

Der Ballon gewann weiter an Höhe, währenddessen er stetig gen Osten, Richtung Waldrand driftete.

Über die Löcher im Ballon, dort wo die Speere eingeschlagen hatten, legte sich ein gelblicher Schleier. Diese Magie war Logard unbekannt, doch hatten die Jünger Raden-Surs schon immer einige unerwartete Sprüche auf Lager.

Mit einem gewaltigen Ruck riss Yenravens Magie eine mächtige Eiche aus dem Boden und schleuderte sie in den Himmel.

Die Wipfel des Baums krachten gegen die Unterseite des Korbs. Erneut stürzten zwei Gestalten ab, als sich das Bastgestänge fast gänzlich zur Seite legte. Die Schreie der hilflosen, in die Tiefe stürzenden Menschen waren wie Balsam für ihr Gemüt. Der Schwung des Baums riss ab. Der Korb pendelte zurück, während der Ballon noch weiter in die Höhe stieß.

Logard sah sich um und eilte mit schnellen Schritten in den Wald. Er brauchte nur wenige Minuten, bis er einen der Männer erreicht hatte, die aus dem Korb gestürzt waren. Er hatte sich das Genick gebrochen. Der Krieger mit dem Flügelhelm hielt kurz inne, eilte weiter. Er konnte dem toten Jünger Raden-Surs keine Informationen mehr entlocken. Er brauchte ein lebendes Opfer.

Den nächsten Verunglückten entdeckte er schwerverletzt im Kronendach eines Baums. Auf seinen Befehl hin, holte ein Waldaffe den Unglückseligen und legte ihn dem ehemaligen Großmeister des Ordens vor die Füße.

Sie starrten sich an. Der Jünger Raden-Surs biss sich auf die Lippen, um klarzustellen, dass er schweigend den Tod erwartete.

Er würde ihn herbeisehnen.

Währenddessen hatte Yenraven ihre Versuche, den Ballon in die Tiefe zu ziehen, noch nicht aufgegeben.

Erneut traf eine wuchtige Stoßfront den Ballon, rüttelte ihn wild durch, doch nichts geschah. Auf diese Entfernung schwächte sich ihre Zauberei zu sehr ab, um wirksam sein zu können. Sie machte ihrer Enttäuschung mit einem wilden Schrei Luft.

»Halte ein, Kind, schone deine Kräfte. Wir müssen einen anderen Weg wählen.«

Störrisch, wie Yenraven nun mal war, ignorierte sie Halikarnosas Rat, brach erneut Äste aus den Bäumen und schleuderte sie nach dem Luftgefährt. Doch diesmal hatte der Ballon schon zu viel Höhe gewonnen. Die Äste fielen zu Boden, noch ehe sie den Korb trafen.

Vor Wut schäumend fiel Yenraven auf die Knie und hieb ihre Faust immer und immer wieder, wie von Sinnen, auf den Waldboden. »Wenn ich erst einmal Göttin bin, werde ich sie alle verbrennen«, schrie sie und entfesselte einen Blitz, der in eine nahestehende Eiche fuhr und diese in zwei Teile spaltete.

Logard hatte sich den Verunglückten über die Schulter geworfen und war zurückgekehrt. Er schüttelte den Kopf. Yenravens Schicksal war längst besiegelt. Sobald sie den Blutritus gesprochen hatte, würde Halikarnosa in ihren Körper fahren. Von ihr würde nichts übrigbleiben. Aber Logard hütete sich, dies auszusprechen. Vor 800 Jahren hatte das schon einmal eine fatale Kette von Ereignissen heraufbeschworen. Halikarnosa brauchte Yenraven. Würde sie vor der Durchführung des Blutritus sterben, so müsste der Hexenstein womöglich erneut hunderte von Jahren auf eine neue, vielversprechende Kandidatin warten.

»Wohin bringen sie die Sonnenscheibe, Logard?«

Der Hüne nickte der Bluthexe verlogen ergeben zu. »Wir werden es herausfinden.« Er ließ den Körper des Jüngers vor ihr auf den Boden fallen. »Befragt ihn.«

Es dauerte nicht lange, bis der Widerstand des Mannes brach. Er gab an, dass der Ballon nach Süden steuerte, auf die Ordensburg zu.

Damit hatte Yenraven nicht gerechnet. »Nicht nach Doriansstadt?«

»Nein, das liegt zu nah am Wald. Die Ordensburg ist glaubwürdig. Wir können sie nicht mit unseren Nachtschrecken erreichen.«

Manchmal, so dachte sich Logard, erwiesen sich nachträgliche Verbesserungen doch als Nachteil. Diesmal hatte sich der Hexenstein dazu entschieden, keinen erneuten Hexenkrieg anzufachen, was angesichts der Tatsache, dass es bei weitem nicht mehr so viele Hexen wie früher gab, auch nachvollziehbar war. Doch die Alternative mit den Nachtschrecken bedeutete auch, dass sie auf den Einflussbereich des Walds beschränkt blieben.

Halikarnosa hatte alles darauf gesetzt, dass sie alle Elemente für den Blutritus im direkten Zugriff hatte. Die Sonnenscheibe war in Fels Karabatos jahrhundertelang verstaubt, ohne dass sich jemand darum geschert hätte. Und dann raubten zwei Dryadengrüns die Sonnenscheibe unmittelbar bevor Halikarnosa sie sich greifen konnte.

»Ich werde niemals wieder so vielen Menschen erlauben, zum Hexenstein zu kommen ...«Halikarnosas scharfe Stimme erklang in Logards Kopf. Er musste nicht hinüber zu Yenraven blicken, um zu wissen, dass der Hexenstein nur mit ihm sprach.

Vor 800 Jahren hatten sich die Hexen und seine Ordensritter am Hexenstein ein schreckliches Gefecht geliefert. Die Hexen, angeführt von Yenraven und Ultiane, hatten die Wahrheit über das Ritual erfahren. Ein Hoher Meister der Jünger Raden-Surs hatte es ihnen offenbart. Daraufhin verlor Halikarnosa ihre Kontrolle über Yenraven. Es war aber Ultiane gewesen, die viele der Hexen letztlich überzeugt hatte, sich zu besinnen.

Yenraven hatte sich damals von Halikarnosa abgewandt, weigerte sich den Blutritus durchzuführen und wollte den Hexenstein vernichten.

Es blieb der Göttin nichts anderes übrig, als ihn, Gorald, in höchster Not zu sich zu rufen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Yenraven und Ultiane den Hexenstein zermalmen konnten. Es gab eine Schlacht zwischen der von Yenraven angeführten Hexenschar, sowie den Männern des Ordens und übergelaufenen Hexen.

Dabei wurden magische Energien freigesetzt, die letztendlich fast alle töteten.

Auch er fiel, wurde aber dank seines Flügelhelms wiedererweckt.

Logard wusste, warum Halikarnosa keine Menschen mehr um sich haben wollte. Sie war damals nur knapp ihrer Auslöschung entronnen. Um zu verhindern, jemals wieder in Gefahr zu geraten, hatte sie über Jahre hinweg damit begonnen, den Wald in ihrem Sinne umzugestalten. Nichts sollte noch in ihre Nähe gelangen. Ihre Sicherheit stand über allem.

Als sie vor etlichen Jahren erneut die Anwesenheit einer jungen, heranwachsenden Hexe mit erstaunlichen Fähigkeiten spürte, hatte sie einen neuen Versuch gewagt, zur Göttin zu werden.Das junge Mädchen, eine extrem starke Elementarhexe, hatte sie leicht in ihren Bann ziehen können. Sie nannte sie von Anfang an Yenraven, trichterte ihr ein, sie wäre auserkoren, das ihr als wiedergeborene Bluthexe zustehende Schicksal zu vollenden. Erst als sie sich ihrer absolut sicher war, hatten sie begonnen den Wald auf Ulmenstein auszudehnen, um an die Lebensenergie der Menschen zu kommen.

Es hatte nur noch die Sonnenscheibe gefehlt, um den Ritus zu sprechen.Logard hatte nie erfahren, weshalb Halikarnosa unbedingt die Scheibe benötigte, aber es stand ihm auch nicht zu, dies zu hinterfragen. Er vermutete aber, dass Raden-Sur und Halikarnosa in irgendeinem Verhältnis zueinander standen. Die Mythen und Legenden vergangener Tage interessierten ihn allerdings nicht. Er wollte wieder zum Menschen werden, zu einem echten Lebenden, keinem Untoten, der nur durch die Gnade des Flügelhelms existierte, unfähig sich unter seinesgleichen zu mischen.

»Kommt zum Hexenstein, meine Kinder.«

Yenraven baute ohne zu zögern ein Portal auf und nahm Logard mit auf die Lichtung um den Hexenstein herum.

Am Rand der Waldschneise sprossen Dutzende von Moderbeeren. Die archaische Göttin hatte diese pflanzenähnlichen Kreaturen aus allen Teilen des Walds zu sich gerufen. Ebenso, halb versteckt im Dickicht, umstanden die Nachtschrecken, still abwartend, langsam im Takt eines schwachen Windes vor sich hinwippend, den Bereich.

»Nimm die Beeren, Tochter. Sie werden dir neue Kraft geben.«

»Aber wie sollen wir an die Sonnenscheibe kommen? Selbst wenn ich mit Logard zur Ordensburg aufbreche und den Feuerelementar entfessle, können sie immer wieder das Weite suchen. Und die Ordensburg ist weit.«

»Vertrau mir, Tochter. Alles wird gut werden ...«

Yenraven pflückte eine Handvoll Moderbeeren und aß sie gierig auf.

»Nimm den Stein zu deinen Füßen.«

Am Boden lag ein einzelner Stein. Er sah aus wie ein Teil des Hexensteins, leuchtete rötlich. Yenraven zögerte einen Moment lang, griff aber dann entschlossen zu.

»Normalerweise fertigst du deine Elementarwesen aus einfachen Steinen, Tochter. Diesmal wirst du ein Wesen aus mir beschwören.«

»Einen Basilisken?«

Halikarnosas lachte glockenhell auf. Eine Welle von Zuneigung raste durch Yenravens Körper. Sie spürte, wie sehr ihre Mutter sie liebte.

»Nein, Tochter. Diesmal nicht ... denke größer ...«

Hexendämmerung - Die Legende der Bluthexe   (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt